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Ein geistiges Ereignis Es gibt ein Jugendfoto von Hannah Arendt: Eine schöne junge Frau blickt in aufrechter Haltung in die Kamera. Ihr langes dunkles Haar trägt sie in der Mitte gescheitelt, zwischen den Fingern der rechten Hand hält sie eine Zigarette, bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Symbol weiblicher Unabhängigkeit. Auf fast allen von ihr bekannten Fotos späterer Zeiten sieht man sie weniger emanzipiert: Sie neigt den Kopf, macht sich harmlos vor dem Fotografen. Sie wirkt konziliant, als wolle sie vermitteln: Ich bin zwar eigen, aber ich will euch nichts anhaben, seid gut zu mir. Mutig hat Hannah Arendt stets gesagt, was sie zu sagen hatte, und war doch in mancher Hinsicht eine traditionelle Frau; sie argumentierte scharf, aber ihre Gedanken hatten etwas Schwärmerisches. Jürgen Habermas hat ihren Politikbegriff "emphatisch" genannt. Das kann man als ein in die Theorie übersetztes Wort für "emotional" verstehen. Hannah Arendts Verständnis von Politik kommt allen entgegen, die eine menschliche, gerechte Welt erhoffen. In der griechischen Polis sah sie das Idealbild der politischen Kommunikation verwirklicht, in der nicht Machtbeziehungen zählten, sondern der freie Gedankenaustausch freier Bürger. Der Umstand, dass der Wohlstand der griechischen Polis nicht zuletzt auf Sklavenarbeit beruhte, hat sie von ihrer Auslegung der antiken polit-philosophischen Schriften nicht abgelenkt. Ein typischer Satz von ihr lautet so: "Nur wer an der Welt wirklich interessiert ist, sollte eine Stimme haben im Gang der Welt." Man stelle sich vor, was in der Bundesrepublik los gewesen wäre, wenn jemand wie Franz Josef Strauß sich öffentlich so geäußert hätte: Das könnte ihm so passen, hätte man ihm vorgeworfen, eine Spezl-Oligarchie errichten wollen! In seinem 2005 erschienenen Buch über Hannah Arendt hat Kurt Sontheimer ihre fatale Bemerkung sehr liebenswürdig kommentiert: "Leider lässt sich das in Demokratien nicht praktizieren. Aber ist es nicht ein schöner Gedanke?" Wer über Hannah Arendt spricht, neigt dazu, selbst innerlich den Kopf schief zu legen. Dies ist wohl weniger als Galanterie der Dame gegenüber zu verstehen, einer der ganz wenigen berühmten Philosophinnen des 20. Jahrhunderts, sondern als Verneigung vor ihrer moralischen Haltung. Mögen ihre Theorien auch unscharf sein, so versteht doch ein jeder, aus welch zutiefst menschlichem und menschenfreundlichem Grund sie erwachsen. Vermöge ihrer Begabung für sprachliche Pointiertheit wurden viele ihrer Werke zu einem "geistigen Ereignis" (Kurt Sontheimer). Dass Hannah Arendt in einem Absatz von einem politikwissenschaftlichen Argument in ein moralphilosophisches abgleiten konnte, schadet der Stichhaltigkeit ihrer Schriften, verleiht ihnen jedoch fortwirkende Kraft. Darin ersteht die Welt, wie sie sein sollte, aus der Welt, wie sie ist. Diese Frau ist Sendbotin oder Stichwortgeberin für viele gewesen, die eine neue Erde, ein neues Land und eine neue Zeit politisch zu verwirklichen trachteten, so etwa 1989 für Václav Havel, den ersten Präsidenten der wieder unabhängigen Tschechoslowakei. Recht hegelianisch Zwei zu Schlagworten geronnene Gedanken sind es vor allem anderen, die Hannah Arendt über den Tod hinaus berühmt gemacht haben. Zuerst ihre Version der Totalitarismustheorie und dann ihr auf Adolf Eichmann gemünztes Wort von der Banalität des Bösen. Letzteres kam während des Eichmann-Prozesses 1961 als eine Neuigkeit. Bis dahin hatte man sich die NS-Täter als Schurken vorgestellt. Die einen überhöhten sie - wie noch 1977 in Hans-Jürgen Syberbergs Film über Hitler - zu mephistophelischen Gestalten; für die meisten waren sie schlicht Sadisten und Verbrecher, die mit "normalen" Menschen und "normalen" Deutschen nichts gemein hatten. In ihren Reportagen für den New Yorker machte Hannah Arendt den Obersturmbannführer Eichmann weltweit als bürokratischen Jedermann bekannt. Das war ein wichtiger erster Schritt auf dem Weg zu einem zentralen Element der heute gängigen, plausiblen Erklärung für die Grausamkeit dieser Leute: Die meisten nahmen sich selbst als normal, von unmittelbaren Sachzwängen bestimmt und nicht als grausam wahr. Allerdings hat Hannah Arendt sich in Eichmann geirrt. Ausgerechnet er wusste genau, was er tat, in Irmtrud Wojaks Buch über Eichmann kann man es nachlesen: Der Antisemitismus war seine raison d"être. Er wollte die europäischen Juden bis zum letzten Kind vernichtet sehen. Vor Gericht indes behauptete dieser Schreibtischtäter aus Überzeugung, lediglich ein Rädchen im Getriebe gewesen zu sein. Zwar zweifelte Arendt, ob sie ihm Glauben schenken könne. Ihre emphatische Interpretation seiner Aussagen fiel allerdings so aus, als habe er die Wahrheit gesagt. Sie behandelte Eichmanns Aussagen, wie sie Aristoteles oder Platon las: Sie legte sie im Rahmen ihrer eigenen gesellschaftsphilosophischen Ansichten aus, nahm sie dann als Bestätigung dieser Ansichten und gelangte so, auf dem Weg des Zirkelschlusses, zu der Idee von der "Banalität des Bösen", die - in einem anderen Verständnis des Begriffes - auf viele NS-Täter zutrifft, aber eben nicht auf Adolf Eichmann. Was sind die Ursprünge dieses Irrtums? 1992 hat die Politologin Margaret Canovan dargelegt, dass Hannah Arendts "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" ihr Wegweiser für alle ihre späteren Texte gewesen sei. Der Kalte Krieg war 1951 bei Erscheinen des Buches in vollem Gang. Hannah Arendt wurde berühmt, weil ihre schon vor Ausbruch des Kalten Krieges entwickelte These den politischen Erfordernissen des Westens entsprach: Die Sowjetunion ist so schlimm wie der Nationalsozialismus. Als sie das Buch in den vierziger Jahren schrieb, waren nähere Informationen nur mühsam erhältlich. Dass sie vom Sowjetsystem wenig wusste, störte im Kalten Krieg indes nicht weiter. Der Totalitarismus, wie Hannah Arendt ihn sieht, entsteht aus dem Imperialismus, der den Nationalstaat ersetzt habe. Auch Theorien über zunehmende Entfremdung in der Vermassung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ebenfalls florierten, spielen dabei eine Rolle. Das Lagersystem sah sie als Ergebnis des Imperialismus. Diese Lager und die nimmer endende seelische Auslöschung von immer mehr Menschen beschreibt sie recht hegelianisch als das historische Telos der totalitären Herrschaft. Die einzigen Länder, die sich für das Rubrum "totale Herrschaft" qualifizierten - das Deutsche Reich und die Sowjetunion -, hatten aber keine nationalstaatliche Tradition. Und sie waren sehr viel glücklosere Imperialmächte als Großbritannien, das nicht im Totalitarismus endete. Hannah Arendt setzte faszinierende Gedanken in die Welt, ohne sie zu belegen. "Ihre Technik", hat der amerikanische Politologe und Judaist Michael Gottsegen 1993 geschrieben, "ist für jeden Sozialwissenschaftler ein Albtraum". Inkommensurable Systeme Intuitiv noch ansprechender, als die Ursprünge der totalen Herrschaft es sind, ist das Konzept selbst, das sich aus einer Vermengung von Zügen des NS-Reiches mit denen der Stalinherrschaft ergab. Gottsegen beschrieb ihr Verfahren so: Hannah Arendt habe nicht Nazisystem und Sowjetsystem sorgfältig miteinander verglichen, Gemeinsamkeiten festgestellt und daraufhin ihre Totalitarismustheorie entworfen. Sie habe vielmehr den Totalitarismus als Phänomen postuliert, das in zwei verschiedenen Ländern zu beobachten war. Entwicklungen im Dritten Reich und der Sowjetunion erklärte sie, so Gottsegen, indem sie auf ihre Totalitarismustheorie Bezug nahm - statt die Theorie überhaupt erst anhand der Geschehnisse in diesen beiden Diktaturen zu belegen. Dass sie mit dieser Methode den Eigenheiten von NS-Deutschland und Sowjetunion nicht gerecht werden konnte, liegt auf der Hand. Sie hat ihre Totalitarismustheorie den historischen Ereignissen übergestülpt. Die handfeste Basis für diesen Vergleich war die grauenvolle Nachricht, dass es in Deutschland und in der Sowjetunion Lager gab, in denen die Menschen zu Hunderttausenden krepierten. Das war es, was Hannah Arendt bewegte. Das war der Grund, warum ihre Theorie den meisten Lesern einleuchtete. Ein echter Vergleich zwischen Nazismus und Stalinismus hat sich unter den Bedingungen des Kalten Krieges erübrigt und wäre - über den Eisernen Vorhang hinweg - auch schwerlich möglich gewesen. Alle, die später versuchten, die Totalitarismustheorie historisch dingfest zu machen, sind damit nicht weit gekommen. Klaus-Dietmar Henke, ehemaliger Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung in Dresden, berichtet, dass die Mitarbeiter des Instituts jahrelang versucht hätten, gemeinsame Bezugspunkte zwischen NS- und Sowjetdiktatur zu finden - vergeblich. Zu unterschiedlich waren die Systeme, zu inkommensurabel die Epochen, in denen sie herrschten. Auch der Versuch, den Totalitarismus dort zu diagnostizieren, wo der Staat die Meinungen der Bürger gleichzuschalten suchte, führt nicht weit. Die Nazis regierten mit Zustimmung der meisten Volksdeutschen, keine Rede konnte davon sein, dass diese zur entpolitisierten Masse gemacht worden waren. Die Totalitarismustheorie, schließt Henke, sei als wissenschaftlicher Ansatz unergiebig. Dass sie 1989 wieder en vogue war, ergab sich nicht zuletzt aus der politischen Devise der Stunde: Viele wollten die DDR neben Nationalsozialismus und Stalinismus ad acta legen. Dieselben Leute bezeichnen Pinochets Regiment, die Generalsherrschaft in Argentinien und Griechenland und viele andere auf Folter und Unterdrückung basierende Systeme als Diktaturen. Allein die DDR und andere Ostblock-Regime waren in ihren Augen auch totalitäre Systeme, die wie NS-Deutschland und das Sowjetreich klassifiziert werden können. Das ideologische Interesse ist durchsichtig. Plausibel wird die Totalitarismustheorie damit aber nicht. Das ist nicht Hannah Arendt anzulasten. Sie selbst zählte sowohl die entstalinisierte Sowjetunion als auch das DDR-Regime nicht zu den totalitären Systemen. Heutzutage würde sie sich gewiss nicht mit dem Totalitarismus beschäftigen, sondern mit den Problemen der Gegenwart: mit der Theorie von der Globalisierung und dem "Krieg gegen den Terror". FRANZISKA AUGSTEIN An diesem Samstag wäre Hannah Arendt 100 Jahre alt geworden. Eine kritische Hommage Es gibt ein Jugendfoto von Hannah Arendt: Eine schöne junge Frau blickt in aufrechter Haltung in die Kamera. Ihr langes dunkles Haar trägt sie in der Mitte gescheitelt, zwischen den Fingern der rechten Hand hält sie eine Zigarette, bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Symbol weiblicher Unabhängigkeit. Auf fast allen von ihr bekannten Fotos späterer Zeiten sieht man sie weniger emanzipiert: Sie neigt den Kopf, macht sich harmlos vor dem Fotografen. Sie wirkt konziliant, als wolle sie vermitteln: Ich bin zwar eigen, aber ich will euch nichts anhaben, seid gut zu mir. Mutig hat Hannah Arendt stets gesagt, was sie zu sagen hatte, und war doch in mancher Hinsicht eine traditionelle Frau; sie argumentierte scharf, aber ihre Gedanken hatten etwas Schwärmerisches. Jürgen Habermas hat ihren Politikbegriff "emphatisch" genannt. Das kann man als ein in die Theorie übersetztes Wort für "emotional" verstehen. Hannah Arendts Verständnis von Politik kommt allen entgegen, die eine menschliche, gerechte Welt erhoffen. In der griechischen Polis sah sie das Idealbild der politischen Kommunikation verwirklicht, in der nicht Machtbeziehungen zählten, sondern der freie Gedankenaustausch freier Bürger. Der Umstand, dass der Wohlstand der griechischen Polis nicht zuletzt auf Sklavenarbeit beruhte, hat sie von ihrer Auslegung der antiken polit-philosophischen Schriften nicht abgelenkt. Ein typischer Satz von ihr lautet so: "Nur wer an der Welt wirklich interessiert ist, sollte eine Stimme haben im Gang der Welt." Man stelle sich vor, was in der Bundesrepublik los gewesen wäre, wenn jemand wie Franz Josef Strauß sich öffentlich so geäußert hätte: Das könnte ihm so passen, hätte man ihm vorgeworfen, eine Spezl-Oligarchie errichten wollen! In seinem 2005 erschienenen Buch über Hannah Arendt hat Kurt Sontheimer ihre fatale Bemerkung sehr liebenswürdig kommentiert: "Leider lässt sich das in Demokratien nicht praktizieren. Aber ist es nicht ein schöner Gedanke?" Wer über Hannah Arendt spricht, neigt dazu, selbst innerlich den Kopf schief zu legen. Dies ist wohl weniger als Galanterie der Dame gegenüber zu verstehen, einer der ganz wenigen berühmten Philosophinnen des 20. Jahrhunderts, sondern als Verneigung vor ihrer moralischen Haltung. Mögen ihre Theorien auch unscharf sein, so versteht doch ein jeder, aus welch zutiefst menschlichem und menschenfreundlichem Grund sie erwachsen. Vermöge ihrer Begabung für sprachliche Pointiertheit wurden viele ihrer Werke zu einem "geistigen Ereignis" (Kurt Sontheimer). Dass Hannah Arendt in einem Absatz von einem politikwissenschaftlichen Argument in ein moralphilosophisches abgleiten konnte, schadet der Stichhaltigkeit ihrer Schriften, verleiht ihnen jedoch fortwirkende Kraft. Darin ersteht die Welt, wie sie sein sollte, aus der Welt, wie sie ist. Diese Frau ist Sendbotin oder Stichwortgeberin für viele gewesen, die eine neue Erde, ein neues Land und eine neue Zeit politisch zu verwirklichen trachteten, so etwa 1989 für Václav Havel, den ersten Präsidenten der wieder unabhängigen Tschechoslowakei. Recht hegelianisch Zwei zu Schlagworten geronnene Gedanken sind es vor allem anderen, die Hannah Arendt über den Tod hinaus berühmt gemacht haben. Zuerst ihre Version der Totalitarismustheorie und dann ihr auf Adolf Eichmann gemünztes Wort von der Banalität des Bösen. Letzteres kam während des Eichmann-Prozesses 1961 als eine Neuigkeit. Bis dahin hatte man sich die NS-Täter als Schurken vorgestellt. Die einen überhöhten sie - wie noch 1977 in Hans-Jürgen Syberbergs Film über Hitler - zu mephistophelischen Gestalten; für die meisten waren sie schlicht Sadisten und Verbrecher, die mit "normalen" Menschen und "normalen" Deutschen nichts gemein hatten. In ihren Reportagen für den New Yorker machte Hannah Arendt den Obersturmbannführer Eichmann weltweit als bürokratischen Jedermann bekannt. Das war ein wichtiger erster Schritt auf dem Weg zu einem zentralen Element der heute gängigen, plausiblen Erklärung für die Grausamkeit dieser Leute: Die meisten nahmen sich selbst als normal, von unmittelbaren Sachzwängen bestimmt und nicht als grausam wahr. Allerdings hat Hannah Arendt sich in Eichmann geirrt. Ausgerechnet er wusste genau, was er tat, in Irmtrud Wojaks Buch über Eichmann kann man es nachlesen: Der Antisemitismus war seine raison d"être. Er wollte die europäischen Juden bis zum letzten Kind vernichtet sehen. Vor Gericht indes behauptete dieser Schreibtischtäter aus Überzeugung, lediglich ein Rädchen im Getriebe gewesen zu sein. Zwar zweifelte Arendt, ob sie ihm Glauben schenken könne. Ihre emphatische Interpretation seiner Aussagen fiel allerdings so aus, als habe er die Wahrheit gesagt. Sie behandelte Eichmanns Aussagen, wie sie Aristoteles oder Platon las: Sie legte sie im Rahmen ihrer eigenen gesellschaftsphilosophischen Ansichten aus, nahm sie dann als Bestätigung dieser Ansichten und gelangte so, auf dem Weg des Zirkelschlusses, zu der Idee von der "Banalität des Bösen", die - in einem anderen Verständnis des Begriffes - auf viele NS-Täter zutrifft, aber eben nicht auf Adolf Eichmann. Was sind die Ursprünge dieses Irrtums? 1992 hat die Politologin Margaret Canovan dargelegt, dass Hannah Arendts "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" ihr Wegweiser für alle ihre späteren Texte gewesen sei. Der Kalte Krieg war 1951 bei Erscheinen des Buches in vollem Gang. Hannah Arendt wurde berühmt, weil ihre schon vor Ausbruch des Kalten Krieges entwickelte These den politischen Erfordernissen des Westens entsprach: Die Sowjetunion ist so schlimm wie der Nationalsozialismus. Als sie das Buch in den vierziger Jahren schrieb, waren nähere Informationen nur mühsam erhältlich. Dass sie vom Sowjetsystem wenig wusste, störte im Kalten Krieg indes nicht weiter. Der Totalitarismus, wie Hannah Arendt ihn sieht, entsteht aus dem Imperialismus, der den Nationalstaat ersetzt habe. Auch Theorien über zunehmende Entfremdung in der Vermassung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ebenfalls florierten, spielen dabei eine Rolle. Das Lagersystem sah sie als Ergebnis des Imperialismus. Diese Lager und die nimmer endende seelische Auslöschung von immer mehr Menschen beschreibt sie recht hegelianisch als das historische Telos der totalitären Herrschaft. Die einzigen Länder, die sich für das Rubrum "totale Herrschaft" qualifizierten - das Deutsche Reich und die Sowjetunion -, hatten aber keine nationalstaatliche Tradition. Und sie waren sehr viel glücklosere Imperialmächte als Großbritannien, das nicht im Totalitarismus endete. Hannah Arendt setzte faszinierende Gedanken in die Welt, ohne sie zu belegen. "Ihre Technik", hat der amerikanische Politologe und Judaist Michael Gottsegen 1993 geschrieben, "ist für jeden Sozialwissenschaftler ein Albtraum". Inkommensurable Systeme Intuitiv noch ansprechender, als die Ursprünge der totalen Herrschaft es sind, ist das Konzept selbst, das sich aus einer Vermengung von Zügen des NS-Reiches mit denen der Stalinherrschaft ergab. Gottsegen beschrieb ihr Verfahren so: Hannah Arendt habe nicht Nazisystem und Sowjetsystem sorgfältig miteinander verglichen, Gemeinsamkeiten festgestellt und daraufhin ihre Totalitarismustheorie entworfen. Sie habe vielmehr den Totalitarismus als Phänomen postuliert, das in zwei verschiedenen Ländern zu beobachten war. Entwicklungen im Dritten Reich und der Sowjetunion erklärte sie, so Gottsegen, indem sie auf ihre Totalitarismustheorie Bezug nahm - statt die Theorie überhaupt erst anhand der Geschehnisse in diesen beiden Diktaturen zu belegen. Dass sie mit dieser Methode den Eigenheiten von NS-Deutschland und Sowjetunion nicht gerecht werden konnte, liegt auf der Hand. Sie hat ihre Totalitarismustheorie den historischen Ereignissen übergestülpt. Die handfeste Basis für diesen Vergleich war die grauenvolle Nachricht, dass es in Deutschland und in der Sowjetunion Lager gab, in denen die Menschen zu Hunderttausenden krepierten. Das war es, was Hannah Arendt bewegte. Das war der Grund, warum ihre Theorie den meisten Lesern einleuchtete. Ein echter Vergleich zwischen Nazismus und Stalinismus hat sich unter den Bedingungen des Kalten Krieges erübrigt und wäre - über den Eisernen Vorhang hinweg - auch schwerlich möglich gewesen. Alle, die später versuchten, die Totalitarismustheorie historisch dingfest zu machen, sind damit nicht weit gekommen. Klaus-Dietmar Henke, ehemaliger Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung in Dresden, berichtet, dass die Mitarbeiter des Instituts jahrelang versucht hätten, gemeinsame Bezugspunkte zwischen NS- und Sowjetdiktatur zu finden - vergeblich. Zu unterschiedlich waren die Systeme, zu inkommensurabel die Epochen, in denen sie herrschten. Auch der Versuch, den Totalitarismus dort zu diagnostizieren, wo der Staat die Meinungen der Bürger gleichzuschalten suchte, führt nicht weit. Die Nazis regierten mit Zustimmung der meisten Volksdeutschen, keine Rede konnte davon sein, dass diese zur entpolitisierten Masse gemacht worden waren. Die Totalitarismustheorie, schließt Henke, sei als wissenschaftlicher Ansatz unergiebig. Dass sie 1989 wieder en vogue war, ergab sich nicht zuletzt aus der politischen Devise der Stunde: Viele wollten die DDR neben Nationalsozialismus und Stalinismus ad acta legen. Dieselben Leute bezeichnen Pinochets Regiment, die Generalsherrschaft in Argentinien und Griechenland und viele andere auf Folter und Unterdrückung basierende Systeme als Diktaturen. Allein die DDR und andere Ostblock-Regime waren in ihren Augen auch totalitäre Systeme, die wie NS-Deutschland und das Sowjetreich klassifiziert werden können. Das ideologische Interesse ist durchsichtig. Plausibel wird die Totalitarismustheorie damit aber nicht. Das ist nicht Hannah Arendt anzulasten. Sie selbst zählte sowohl die entstalinisierte Sowjetunion als auch das DDR-Regime nicht zu den totalitären Systemen. Heutzutage würde sie sich gewiss nicht mit dem Totalitarismus beschäftigen, sondern mit den Problemen der Gegenwart: mit der Theorie von der Globalisierung und dem "Krieg gegen den Terror". FRANZISKA AUGSTEIN Ein geistiges Ereignis An diesem Samstag wäre Hannah Arendt 100 Jahre alt geworden. Eine kritische Hommage Es gibt ein Jugendfoto von Hannah Arendt: Eine schöne junge Frau blickt in aufrechter Haltung in die Kamera. Ihr langes dunkles Haar trägt sie in der Mitte gescheitelt, zwischen den Fingern der rechten Hand hält sie eine Zigarette, bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Symbol weiblicher Unabhängigkeit. Auf fast allen von ihr bekannten Fotos späterer Zeiten sieht man sie weniger emanzipiert: Sie neigt den Kopf, macht sich harmlos vor dem Fotografen. Sie wirkt konziliant, als wolle sie vermitteln: Ich bin zwar eigen, aber ich will euch nichts anhaben, seid gut zu mir. Mutig hat Hannah Arendt stets gesagt, was sie zu sagen hatte, und war doch in mancher Hinsicht eine traditionelle Frau; sie argumentierte scharf, aber ihre Gedanken hatten etwas Schwärmerisches. Jürgen Habermas hat ihren Politikbegriff "emphatisch" genannt. Das kann man als ein in die Theorie übersetztes Wort für "emotional" verstehen. Hannah Arendts Verständnis von Politik kommt allen entgegen, die eine menschliche, gerechte Welt erhoffen. In der griechischen Polis sah sie das Idealbild der politischen Kommunikation verwirklicht, in der nicht Machtbeziehungen zählten, sondern der freie Gedankenaustausch freier Bürger. Der Umstand, dass der Wohlstand der griechischen Polis nicht zuletzt auf Sklavenarbeit beruhte, hat sie von ihrer Auslegung der antiken polit-philosophischen Schriften nicht abgelenkt. Ein typischer Satz von ihr lautet so: "Nur wer an der Welt wirklich interessiert ist, sollte eine Stimme haben im Gang der Welt." Man stelle sich vor, was in der Bundesrepublik los gewesen wäre, wenn jemand wie Franz Josef Strauß sich öffentlich so geäußert hätte: Das könnte ihm so passen, hätte man ihm vorgeworfen, eine Spezl-Oligarchie errichten wollen! In seinem 2005 erschienenen Buch über Hannah Arendt hat Kurt Sontheimer ihre fatale Bemerkung sehr liebenswürdig kommentiert: "Leider lässt sich das in Demokratien nicht praktizieren. Aber ist es nicht ein schöner Gedanke?" Wer über Hannah Arendt spricht, neigt dazu, selbst innerlich den Kopf schief zu legen. Dies ist wohl weniger als Galanterie der Dame gegenüber zu verstehen, einer der ganz wenigen berühmten Philosophinnen des 20. Jahrhunderts, sondern als Verneigung vor ihrer moralischen Haltung. Mögen ihre Theorien auch unscharf sein, so versteht doch ein jeder, aus welch zutiefst menschlichem und menschenfreundlichem Grund sie erwachsen. Vermöge ihrer Begabung für sprachliche Pointiertheit wurden viele ihrer Werke zu einem "geistigen Ereignis" (Kurt Sontheimer). Dass Hannah Arendt in einem Absatz von einem politikwissenschaftlichen Argument in ein moralphilosophisches abgleiten konnte, schadet der Stichhaltigkeit ihrer Schriften, verleiht ihnen jedoch fortwirkende Kraft. Darin ersteht die Welt, wie sie sein sollte, aus der Welt, wie sie ist. Diese Frau ist Sendbotin oder Stichwortgeberin für viele gewesen, die eine neue Erde, ein neues Land und eine neue Zeit politisch zu verwirklichen trachteten, so etwa 1989 für Václav Havel, den ersten Präsidenten der wieder unabhängigen Tschechoslowakei. Recht hegelianisch Zwei zu Schlagworten geronnene Gedanken sind es vor allem anderen, die Hannah Arendt über den Tod hinaus berühmt gemacht haben. Zuerst ihre Version der Totalitarismustheorie und dann ihr auf Adolf Eichmann gemünztes Wort von der Banalität des Bösen. Letzteres kam während des Eichmann-Prozesses 1961 als eine Neuigkeit. Bis dahin hatte man sich die NS-Täter als Schurken vorgestellt. Die einen überhöhten sie - wie noch 1977 in Hans-Jürgen Syberbergs Film über Hitler - zu mephistophelischen Gestalten; für die meisten waren sie schlicht Sadisten und Verbrecher, die mit "normalen" Menschen und "normalen" Deutschen nichts gemein hatten. In ihren Reportagen für den New Yorker machte Hannah Arendt den Obersturmbannführer Eichmann weltweit als bürokratischen Jedermann bekannt. Das war ein wichtiger erster Schritt auf dem Weg zu einem zentralen Element der heute gängigen, plausiblen Erklärung für die Grausamkeit dieser Leute: Die meisten nahmen sich selbst als normal, von unmittelbaren Sachzwängen bestimmt und nicht als grausam wahr. Allerdings hat Hannah Arendt sich in Eichmann geirrt. Ausgerechnet er wusste genau, was er tat, in Irmtrud Wojaks Buch über Eichmann kann man es nachlesen: Der Antisemitismus war seine raison d"être. Er wollte die europäischen Juden bis zum letzten Kind vernichtet sehen. Vor Gericht indes behauptete dieser Schreibtischtäter aus Überzeugung, lediglich ein Rädchen im Getriebe gewesen zu sein. Zwar zweifelte Arendt, ob sie ihm Glauben schenken könne. Ihre emphatische Interpretation seiner Aussagen fiel allerdings so aus, als habe er die Wahrheit gesagt. Sie behandelte Eichmanns Aussagen, wie sie Aristoteles oder Platon las: Sie legte sie im Rahmen ihrer eigenen gesellschaftsphilosophischen Ansichten aus, nahm sie dann als Bestätigung dieser Ansichten und gelangte so, auf dem Weg des Zirkelschlusses, zu der Idee von der "Banalität des Bösen", die - in einem anderen Verständnis des Begriffes - auf viele NS-Täter zutrifft, aber eben nicht auf Adolf Eichmann. Was sind die Ursprünge dieses Irrtums? 1992 hat die Politologin Margaret Canovan dargelegt, dass Hannah Arendts "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" ihr Wegweiser für alle ihre späteren Texte gewesen sei. Der Kalte Krieg war 1951 bei Erscheinen des Buches in vollem Gang. Hannah Arendt wurde berühmt, weil ihre schon vor Ausbruch des Kalten Krieges entwickelte These den politischen Erfordernissen des Westens entsprach: Die Sowjetunion ist so schlimm wie der Nationalsozialismus. Als sie das Buch in den vierziger Jahren schrieb, waren nähere Informationen nur mühsam erhältlich. Dass sie vom Sowjetsystem wenig wusste, störte im Kalten Krieg indes nicht weiter. Der Totalitarismus, wie Hannah Arendt ihn sieht, entsteht aus dem Imperialismus, der den Nationalstaat ersetzt habe. Auch Theorien über zunehmende Entfremdung in der Vermassung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ebenfalls florierten, spielen dabei eine Rolle. Das Lagersystem sah sie als Ergebnis des Imperialismus. Diese Lager und die nimmer endende seelische Auslöschung von immer mehr Menschen beschreibt sie recht hegelianisch als das historische Telos der totalitären Herrschaft. Die einzigen Länder, die sich für das Rubrum "totale Herrschaft" qualifizierten - das Deutsche Reich und die Sowjetunion -, hatten aber keine nationalstaatliche Tradition. Und sie waren sehr viel glücklosere Imperialmächte als Großbritannien, das nicht im Totalitarismus endete. Hannah Arendt setzte faszinierende Gedanken in die Welt, ohne sie zu belegen. "Ihre Technik", hat der amerikanische Politologe und Judaist Michael Gottsegen 1993 geschrieben, "ist für jeden Sozialwissenschaftler ein Albtraum". Inkommensurable Systeme Intuitiv noch ansprechender, als die Ursprünge der totalen Herrschaft es sind, ist das Konzept selbst, das sich aus einer Vermengung von Zügen des NS-Reiches mit denen der Stalinherrschaft ergab. Gottsegen beschrieb ihr Verfahren so: Hannah Arendt habe nicht Nazisystem und Sowjetsystem sorgfältig miteinander verglichen, Gemeinsamkeiten festgestellt und daraufhin ihre Totalitarismustheorie entworfen. Sie habe vielmehr den Totalitarismus als Phänomen postuliert, das in zwei verschiedenen Ländern zu beobachten war. Entwicklungen im Dritten Reich und der Sowjetunion erklärte sie, so Gottsegen, indem sie auf ihre Totalitarismustheorie Bezug nahm - statt die Theorie überhaupt erst anhand der Geschehnisse in diesen beiden Diktaturen zu belegen. Dass sie mit dieser Methode den Eigenheiten von NS-Deutschland und Sowjetunion nicht gerecht werden konnte, liegt auf der Hand. Sie hat ihre Totalitarismustheorie den historischen Ereignissen übergestülpt. Die handfeste Basis für diesen Vergleich war die grauenvolle Nachricht, dass es in Deutschland und in der Sowjetunion Lager gab, in denen die Menschen zu Hunderttausenden krepierten. Das war es, was Hannah Arendt bewegte. Das war der Grund, warum ihre Theorie den meisten Lesern einleuchtete. Ein echter Vergleich zwischen Nazismus und Stalinismus hat sich unter den Bedingungen des Kalten Krieges erübrigt und wäre - über den Eisernen Vorhang hinweg - auch schwerlich möglich gewesen. Alle, die später versuchten, die Totalitarismustheorie historisch dingfest zu machen, sind damit nicht weit gekommen. Klaus-Dietmar Henke, ehemaliger Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung in Dresden, berichtet, dass die Mitarbeiter des Instituts jahrelang versucht hätten, gemeinsame Bezugspunkte zwischen NS- und Sowjetdiktatur zu finden - vergeblich. Zu unterschiedlich waren die Systeme, zu inkommensurabel die Epochen, in denen sie herrschten. Auch der Versuch, den Totalitarismus dort zu diagnostizieren, wo der Staat die Meinungen der Bürger gleichzuschalten suchte, führt nicht weit. Die Nazis regierten mit Zustimmung der meisten Volksdeutschen, keine Rede konnte davon sein, dass diese zur entpolitisierten Masse gemacht worden waren. Die Totalitarismustheorie, schließt Henke, sei als wissenschaftlicher Ansatz unergiebig. Dass sie 1989 wieder en vogue war, ergab sich nicht zuletzt aus der politischen Devise der Stunde: Viele wollten die DDR neben Nationalsozialismus und Stalinismus ad acta legen. Dieselben Leute bezeichnen Pinochets Regiment, die Generalsherrschaft in Argentinien und Griechenland und viele andere auf Folter und Unterdrückung basierende Systeme als Diktaturen. Allein die DDR und andere Ostblock-Regime waren in ihren Augen auch totalitäre Systeme, die wie NS-Deutschland und das Sowjetreich klassifiziert werden können. Das ideologische Interesse ist durchsichtig. Plausibel wird die Totalitarismustheorie damit aber nicht. Das ist nicht Hannah Arendt anzulasten. Sie selbst zählte sowohl die entstalinisierte Sowjetunion als auch das DDR-Regime nicht zu den totalitären Systemen. Heutzutage würde sie sich gewiss nicht mit dem Totalitarismus beschäftigen, sondern mit den Problemen der Gegenwart: mit der Theorie von der Globalisierung und dem "Krieg gegen den Terror". FRANZISKA AUGSTEIN Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr.237, Samstag, den 14. Oktober 2006 , Seite 13 _______________________ Web-Site: http://www.oekonux.de/ Organization: http://www.oekonux.de/projekt/ Contact: projekt oekonux.de
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