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[ox-de-raw] Eindrücke von der WOS 4



Hi all,

zwei Tage konnte ich an der Konferenz "Wizards of OS 4" teilnehmen, und 
ich war sehr positiv überrascht. Heise brachte bisher diese Berichte:
http://www.heise.de/newsticker/search.shtml?T=WOS[PHONE NUMBER REMOVED]
die ganz gut widerspiegeln, was diskutiert wurde. Aus meiner Sicht nun 
ein paar subjektive Ergänzungen.

Wovon wir auf der 1. Oekonux-Konferenz in Dortmund noch phantasiert 
haben, ist inzwischen Wirklichkeit geworden: Die Ideen Freier Software 
haben wurden in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft übernommen, 
und das global. So wie Die GNU GPL für den Bereich der Software ein 
wichtiger Trigger und Freiraumschaffer war, so sind es die 
CreativeCommons-Lizenzen für Inhalte beliebiger Art. Inzwischen werden 
vom CC-Projekt 140 Millionen Backlinks zur Website gezählt. Was GPL für 
Software ist CC für den Kulturbereich. Freie Kultur war daher auch 
eines der meist genannten Schlüsselbegriffe auf der WOS4. Wenn man es 
sich als Zwiebelschalenmodell vorstellen will, dann haben wir damit nun 
die zweite Schale erreicht. Die dritte Schale, und das wurde ein 
einigen Stellen deutlich, wird der Kern der gesellschaftlichen 
Produktion sein - so meine steile These:-)

Welche Indizien habe ich dafür gefunden? Beispiel 1: Lawrence Lessig hat 
auf der WOS4 einen wirklich beeindruckenden Vortrag gehalten (ich 
wünschte, ich könnte das auch so gut). Titel: "The Read-Write Society". 
Mit Hilfe der Filesystem-Metapher "read-only" (RO) und "read-write" 
(RW) hat Lessig die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft Revue 
passieren lassen und entlang der 4 Dimensionen Arbeit, Kultur, Nochwas 
(vergessen) und Politik klassifiziert. Hinsichtlich der Kultur - und 
nur diese Dimension betrachte er im weiteren Verlauf - war die 
Gesellschaft des 19. Jh. eine RW-Gesellschaft, in der grundsätzlich 
alle Bürger "schreibend" Zugriff auf die Gesellschaft hatten, also 
Kultur erzeugt haben. Na ok, da fallen mir einige Einwände ein, aber 
sei's drum. Das 20 Jh. wurde hingegen zur RO-Gesellschaft gemacht, in 
der zu faulen Couch-Potatos degenerierten Konsumenten nur das 
vorgegebene Angebot schluckten. Mächtige Hebel sind hierbei die 
Regelungen um das sog. "Geistige Eigentum", v.a. das Copyright. Im 
Internet tobt der Kampf zwischen RO und RW, wobei die großen 
Content-Konzerne die Menschen zu passiven Konsumenten machen wollen. 
Aber, so die These, das 21. Jh. bringt die Wende zurück zu einer 
RW-Kultur, in der die Menschen selbst wieder zu Produzenten ihres 
(kulturellen) Lebens werden. Kern dieser RW-Kultur sei das Remixing, 
also die Verwendung von kulturellen Produkten für die Erzeugung neuer 
Kulturprodukte. - Die vielen Beispiele auf der Konferenz zum Beispiel 
aus Brasilien waren auch wirklich beeindruckend. Oder dieses Beispiel 
("Read my lips"), wirklich köstlich: 
http://www.atmo.se/zino.aspx?articleID=399
Oder das hier ("Jesus must survive"):
http://www.metacafe.com/watch/63576/jesus_must_survive/ 

Komisch fand ich die Rede vom "zurück" zu einer RW-Kultur. Lessig sprach 
auch davon, dass einige Kulturen die Chance hätten - jetzt mal in 
meinen Worten - direkt vom 19. ins 21. Jahrhundert zu springen ohne den 
Quatsch mit Copyright etc. überhaupt erst anzufangen. Hm, na ja, ist da 
was dran? Deskriptiv schon. So berichten bei einem anderen Panel Leute 
aus Brasilien (das so etwa wie "Gastland-Status" auf der WOS hatte - 
ich springe etwas), dass sich die Kids in den Favelas keine Sekunde mit 
Urheberrechten beschäftigen würde, wenn sie ihre Musik machen und auf 
den Straßen (und nur dort) verkaufen. Und wenn dann europäische 
Musiker/innen sich die Musik holen und ebenfalls remixen und dann 
verwerten, sei das auch ok. Publikumsfrage: Ist das nicht 
Kulturimperialismus? Antwort: Nein, Kultur bedeutet _immer_ andere 
Kulturprodukte zu verwenden. Deswegen gäbe es in Brasilien auch keinen 
Begriff von "Piraterie" (außer vielleicht bei den Musikkonzernen, die 
dort natürlich auch sind).

Zurück zu Lessig. Seiner RO/RW-Analogie folgend wollte ich von ihm 
wissen, ob er ähnliche Entwicklungen auch bezüglich der anderen von ihm 
genannten Dimensionen sähe - insbesondere bezüglich "Arbeit". Ob es 
denn darum ginge, für eine freie RW-Kultur ein entsprechendes 
gesellschaftliches freies RW-Betriebssystem bereitzustellen? Leider hat 
er die Frage nicht wirklich verstanden, so ist das mit Analogien. Die 
Antwort war sehr allgemein, und schnell ist er von der 
Dimension "Arbeit" zur Dimension "Politik" gesprungen, weil er dort 
mehr Beispiele parat hatte. Ok, auch hier wird die "dritte Schale" im 
Denken noch kommen - erinnert mich, dass ich dann mein Urheberrecht 
geltend mache, wenn es soweit ist;-)

Beispiel 2: Abschluss-Panel "Brazil, the Free Culture Nation". Mit dabei 
Claudio Prado, Chef der Abteilung für Digitale Kultur im 
brasilianischen Kulturministerium (geleitet von Gilberto Gil), der sich 
selbst einen "Hippie" nennt. Ein nettes Abstract (und Film) dazu:
http://wiki.whatthehack.org/index.php/How_we_hacked_a_project_into_the_Ministry_of_Culture_in_Brazil
Ich dachte, dass ich mich verhört hatte, als Prado sagte (sinngemäß), 
dass es nicht darum gehe, "Arbeit" und "soziale Sicherheit" für die 
Menschen zu schaffen, denn das würde es ohnehin nicht mehr geben: "Jobs 
and employment are things of the 20th century. The future has nothing 
to do with employment." Deswegen sei das Ziel: "Jumping von the 19th 
century to the 21th century bypassing the bullshit of the 20th 
century." Es ginge darum, die Menschen zu befähigen autonom zu handeln 
und sich die Technologie anzueignen, um von der Regierung unabhängig zu 
werden. Es sei zwar schizophren, wenn als Regierungsvertreter das sage, 
aber es ginge ihm darum, die Regierung überflüssig zu machen. - Whow, 
nicht schlecht!

Volker Grassmuck, der Maintainer der WOS, griff die Idee auf und sagte, 
dass damit das Thema der WOS 5 gefunden wäre. Na mal sehn, was er 
darunter versteht;-) Wenn es gut läuft, dann meint er auch die "dritte 
Schale" der Zwiebel, also die Frage der gesellschaftlichen Produktion 
nicht nur kultureller, sondern aller Güter für das Leben der Menschen - 
jenseits von Regierungen, Jobs und sozialer Sicherheit von oben, wie wir 
sie einmal kannten.

Ok, ich höre hier auf. Es gab noch viel mehr spannende Diskussionsrunden 
auf der WOS. Die Konferenz hätte mehr Besucherinnen und Besucher 
verdient, aber dazu waren die Eintrittspreise schlicht viel zu hoch (60 
EUR für drei Tage, ermäßigt die Hälfte).

Wenn sich die WOS wirklich der "dritten Zwiebelschicht" annimmt, dann 
wäre es eine gute Sache, die nächste OX-Konferenz mit der WOS zusammen 
zu machen. Aber das ist nur eine Phantasie...

Ciao,
Stefan


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