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[ox-de] keimform.de: Produktive Schweine und unproduktive Kinder



http://www.keimform.de/2010/produktive-schweine-und-unproduktive-kinder/

Produktive Schweine und unproduktive Kinder

Von StefanMz

<http://www.keimform.de/wp-content/uploads/2010/07/bezahlte_unbezahlte_arbeit-300x190.png>

In unser wirtschaftsdominierten Gesellschaft gilt es als 
selbstverständlich, dass es im wesentlichen „die Wirtschaft“ sei, die 
die gesellschaftlich notwendigen Güter produziere. Dem ist jedoch nicht 
so. Durch einen Blick in die offiziellen Statistiken können wir uns 
davon eindrucksvoll überzeugen.

Das Statistische Bundesamt hat 1991/92 und 2001/02 jeweils eine 
Zeitbudgetstudie durchgeführt, in der ermittelt wurde, welche Zeit 
Menschen für welche Tätigkeit verwenden. Im Vorwort einer Broschüre zu 
den Ergebnissen der letzten Studie schreibt die seinerzeit zuständige 
Ministerin:

    Dass zur Lebensqualität in unserer Gesellschaft gerade diejenigen
    Arbeiten gehören, die nicht bezahlt werden und somit nicht in die
    Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen eingehen – also Arbeiten im
    Haushalt, die Kindererziehung, das bürgerschaftliche Engagement und
    Ehrenamt – das führt diese Untersuchung plastisch und unübersehbar
    vor Augen.

Bevor ich – im Gegensatz zur Ministerin, die mit dem zitierten Satz ihr 
Vorwort beendet – die Studie bewerten will, seien zunächst einmal einige 
Ergebnisse vorgestellt. Ich beschränke mich auf die Daten zur bezahlten 
und unbezahlten Arbeit. Als unbezahlte Arbeit gelten alle Tätigkeiten im 
Haushalt (die sog. Haushaltsproduktion), Pflege- und Betreuungs- sowie 
ehrenamtliche Tätigkeiten.

Die oben dargestellte Grafik (Klicken zum vergrößern) zeigt das 
Jahresvolumen der unbezahlten und bezahlten Arbeit jeweils für den 
Zeitraum der ersten und zweiten Studie. Berechnet man die jeweiligen 
Anteile an der insgesamt notwendigen Arbeit, so ergibt sich für beide 
Zeiträume ein Anteil von ca. *63%* unbezahlter und *37%* bezahlter 
Arbeit (mit minimaler Verschiebung in Richtung bezahlter Arbeit).

Die Wegezeiten zur Erwerbsarbeit wurden allerdings extra ausgewiesen. 
Rechnet man diese zur unbezahlten Arbeit (was in der Regel der Fall sein 
dürfte: obwohl für die Erwerbsarbeit erforderlich, gibt‘s dafür kein 
Geld), dann ergibt sich ein Anteil von ca. *65,5%* unbezahlter und 
*34,5%* bezahlter Arbeit. Insgesamt kann man also von einem Verhältnis 
von *zwei Dritteln unbezahlter Arbeit und einem Drittel bezahlter* 
*Arbeit* ausgehen.

Denkt man darüber hinaus an die Erkenntnis von Karl Marx, nach der sich 
der Wert der Ware Arbeitskraft durch die Kosten zu ihrer 
Wieder-/Herstellung bestimmt, dann wären die in der Studie separierten 
Bereiche der _Regeneration_ (Freizeit, Erholung, Mediennutzung) und der 
_Weiter-/Bildung_ ebenfalls mit einzubeziehen. Da es sich bei der Studie 
um eine Zeituntersuchung handelt, lassen sich jedoch insgesamt die 
monetären Kosten nicht bestimmen.

Auch die Betreuungszeiten bei pflegebedürftigen Personen sind eher 
unterschätzt, da „der ständige Bereitschaftsdienst“ (Schäfer) nicht mit 
berücksichtigt ist. Etc. Weitere Punkte ließen sich anführen, die jedoch 
immer mehr dazu führen, dass die _Behandlung von Lebenstätigkeiten_
_als „Arbeit“ generell fragwürdig_ wird und nicht nur die Tatsache, ob 
sie bezahlt sind oder nicht.

In der Studie wird dann lustiger Weise der Versuch unternommen, den 
„Wert“ der unbezahlten Arbeit auszurechnen. Angenommen wird eine Netto-
Vergütung von 6 Euro (1991/92) bzw. 7 Euro (2001/02), rechnet man 
übliche Sozialleistungen hinzu, verdoppeln sich die Beträge. Ist man 
schon beim Rechnen, dann muss man auch die durchlaufenden vernutzten und 
die langlebigen Gebrauchsgüter einbeziehen. Am Ende landet man 
schließlich beim „Haushaltsunternehmen“, das man mit „normalen“ 
Wirtschaftsunternehmen vergleichen könne. Ihr Anteil am BIP 
(Bruttoinlandsprodukt) beträgt 43% bzw. 40%. Berechnungsbasis ist die 
o.g. Netto-Vergütung für das „Haushaltsunternehmen“. Setzt man hier 
Bruttolöhne oder etwa durchschnittliche Produktionslöhne ein, ergäben 
sich ganz andere Zahlen – womit die Zahlenspielerei auf Basis monetärer 
Werte generell witzlos wird.

Was bedeutet es, wenn doppelt so viele gesellschaftlich notwendige 
Tätigkeiten unbezahlt wie bezahlt erledigt werden?

Zunächst einmal sollte man sich die Tatsache klar machen, dass dem so 
ist. Die „Wirtschaft“ ist – zeitlich gesehen – nicht der wichtigste 
Bereich der gesellschaftlich-notwendigen Tätigkeiten. Gleichzeitig ist 
ihre Logik total dominant: Nur was sich rechnet, wird auch 
wirtschaftlich gemacht, sprich: verwertet. Keine Verwertung bedeutet 
Unglück, Armut, Ausgrenzung, Absturz.

Die „Nicht-Wirtschaft“ ist in doppelter Hinsicht die andere Seite der 
„Wirtschaft“: Ohne sie ginge „Wirtschaft“ nicht. Sie fängt all jene 
Tätigkeiten auf, die erledigt werden müssen, sich aber nicht verwerten 
lassen. Gleichzeitig ist sie Pool des potenziell „in Wert“ zu setzenden 
„Wertlosen“: Immer mehr Tätigkeiten werden von der Verwertungslogik 
erfasst und nach ihrem Bild formiert (vgl. die Pflegetätigkeiten, die 
nach Minuten skaliert werden, in der menschliche Zuwendung hingegen ein 
Fremdwort sein muss).

Es verwundert schließlich nicht, dass die beiden Bereiche geschlechtlich 
strukturiert sind (der Bereich der „Nicht-Wirtschaft“ wird in der Studie 
auf ihre Geschlechtsspezifik untersucht): Die „weibliche Nicht-
Wirtschaft“ steht der „männlichen Wirtschaft“ gegenüber. Doch auch hier 
verhält es sich wie mit dem generellen Verhältnis von Verwertung und 
noch nicht Verwertetem: Was nicht ist, kann noch werden. Und 
andersherum: Wessen Arbeitskraft als nicht mehr verwertbar gilt, darf im 
abgespaltenen „Nicht-Bereich“ die physischen und psychischen 
Aufräumarbeiten erledigen.

Schon der Ökonom Friedrich List 
<http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_List> wusste:

    Wer Schweine erzieht ist ein produktives, wer Kinder erzieht ein
    unproduktives Mitglied der Gesellschaft.

Exakt dort stehen wir heute noch.

*Literatur*

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.), Wo 
bleibt die Zeit? Die Zeitverwendung der Bevölkerung in Deutschland 
2001/02

D. Schäfer, Unbezahlte Arbeit und Haushaltsproduktion im Zeitvergleich, 
in: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Alltag in Deutschland. Analyse zur 
Zeitverwendung, Forum der Bundesstatistik, Band 43, 2004, S. 247-273.

Quellen online: Zeitbudgeterhebung <http://is.gd/dzoFm>

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