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Re: [ox-de] Request for Comments: Die Peer-Ökonomie



Hallo allerseits,

Stefan Meretz wrote:
Hi Hans-Gert, Christian, alle,

vielleicht sollte ich kurz eine ganz grobe Skizze dessen geben, worüber 
ihr redet (Christians Buch) und wozu ich auch etwas anmerken möchte, 
damit vielleicht noch einige mehr folgen können. Selbstredend ist es am 
besten, das Buch zu lesen: 
http://www.keimform.de/2007/09/20/request-for-comments-die-peer-oekonomie/

Christian, correct me if I'm wrong.

Danke, Stefan, gute Zusammenfassung! :-)


Aufgaben werden nicht "ersteigert", sondern bei einer bestimmten 
Gewichtung übernimmst du die Aufgabe oder lässt es bleiben. Eben um 
solche Fakes zu vermeiden.

Außerdem ist das Projekt, das die Aufgabe braucht, ja nicht gezwungen mit
dir zusammenzuarbeiten -- wie bei heutigen Peer-Projekten gehe ich davon
aus, dass Projekte Beiträge bzw. die Leute, die bereit sind, sie zu
erbringen, ablehnen können. Für das Projekt hat es einerseits Nachteile,
übertrieben pingelig zu sein, da dann das Gewicht der Aufgabe weiter steigt
und somit (weil diejenige, die die Aufgabe schließlich übernimmt, deshalb
weniger beitragen muss) alle anderen etwas mehr beitragen müssen.
Andererseits bringt es auch nichts, Aufgaben blindlings an jemand zu
übergeben, der sie schließlich wieder zurückgeben muss, weil er sie nicht
hinkriegt, oder der sie nur so erledigt dass niemand was mit anfangen kann.

Insofern werden sich da die Projektmitglieder in ihrem eigenen Interesse um
einen vernünftigen Trade-off bemühen -- weder allzu pingelig noch allzu
naiv-unkritisch.


BGB Teil 3 braucht dann Eigentum, um diese Schuldverhältnisse zu
besichern, dass nicht eine(r) dauernd "weighted hours" abgezogen
bekommt bis er (oder sie) tief in den roten Zahlen ist. Streng
genommen ist in dieser Gesellschaft nur jemand mit positivem
Wert-Saldo (in einem hier nicht näher explizierten Sinn) überhaupt
schuldfähig. Wie das bei dir funktioniert, welche Bremse da eingebaut
ist, ob es so was wie Insolvenz gibt, wie sich das auf die
Gesamtrechnung auswirkt, all das habe ich nicht wirklich begriffen.

Darüber ist auch nichts ausgesagt.

Das kann man nicht pauschal beantworten, weil Projekte sich eben entscheiden
werden müssen, ob sie bereit sind, Beiträge als "vorgeschossen" zu
betrachten, von denen sie nicht genau wissen können, ob sie später
tatsächlich erbracht werden. Letztlich ist das eine Vertrauensfragen, daher
schätze ich, dass Projekte solche Vorschüsse "ohne Ansehn der Person"
entweder gar nicht oder nur in begrenztem Umfang, dessen Verlust sie
verkraften könnten, vergeben werden. Mehr ist natürlich immer möglich, wenn
die anderen dir als Individuum vertrauen, sie nicht hängenzulassen.


Der Umgang mit "gebrochenen Versprechen" wird in einer Gesellschaft
wie ich sie beschreibe wohl eher so aussehen wie heute schon im
privaten Bereich, wo man ein Versprechen kaum vor Gericht einklagen
würde. Wo aber Vertrauensverstöße oder schwere Unzuverlässigkeit
natürlich Konsequenzen haben. Insbesondere werden Menschen, die
sich so verhalten, wahrscheinlich zunehmend Schwierigkeiten haben,
andere Menschen zu finden, die bereit sind mit ihnen
zusammenzuarbeiten. Was in einer Gesellschaft, die auf Kooperation
basiert, natürlich durchaus unangenehm sein kann...
Das sind die peanuts, die leichten Fälle. Es geht nicht primär um
"Vertrauensverstöße oder schwere Unzuverlässigkeit", sondern um den
Umgang mit der *prinzipiell* nicht zu vermeidenden Multioptionalität
von Zukunft. Das Hauptproblem der heutigen Versprechen ist ja, dass
sie erst morgen eingelöst werden.

Du sprichst die Frage der Revision von Zusagen an. Ja, es braucht einen 
Mechanismus, sich aus Zusagen zurückziehen zu können. Gerade wenn es 
keine Zwangsmittel mehr gibt wie wir sie heute kennen, ist es 
entscheidend, solche Regulationen von vorneherein vorzusehen.

Das sind Dinge, die die Menschen im Rahmen eines Projekts/einer
Zusammenarbeit werden regeln werden. Spätestens wenn es zum Konflikt kommt
(dann müssen sie sich mit dem Problem auseinandersetzen, ob sie wollen oder
nicht), aber du sagst, macht es Sinn das schon vorher zu regeln, um Stress
zu vermeiden.

Solchen Selbstorganisierungsprozessen kann und will ich nicht vorgreifen,
aber grundsätzlich würde ich davon ausgehen, dass einerseits Zusagen immer
revidierbar sein müssen (nur weil ich etwas ein paar Wochen oder Monate
mache, heißt ja nicht, dass ich es auch in einigen Jahren noch machen will),
andererseits ich den anderen immer genügend Vorwarnzeit geben sollte, um
Alternativen zu organisieren. Wenn ich als Pilot oder Fluglotse arbeite und
im verabredeten Moment einfach nicht auftauche, so dass ein Flug oder gar
mehrere ausfallen, werden die anderen zu recht stinkig sein -- das dürfte
dann zu jeder Menge "flaming and shunning" und vielleicht sogar zu meinem
Ausschluss aus dem Projekt führen (vielleicht einigen wir uns auch auf
andere Sanktionen, z.B. ich erkläre mich bereit, als Wiedergutmachung
so-und-so viele Stunden zusätzlich beizutragen, um den Ausschluss abzuwehren).

In der Praxis werden die Konflikte vermutlich selten so heftig ausfallen,
dass gleich der Ausschluss im Raum steht, denn es könnte ja immer auch
passieren, dass du unverschuldet ausfällst (z.B. wegen Krankheit oder
Unfall). Das Projekt braucht für solche Fälle also sowieso einen
Alternativplan (etwa einen Notdienst), der auch dann greift, wenn du
mutwillig wegbleibst. Das dürfte den berechtigten Ärger über dich zwar nicht
abwenden, aber doch mildern.


Das ist in der Tat eine Kernfrage: Sind die gewichteten Stunden 
letztlich das Gleiche wie Geld?

Das spricht dagegen:

Geld ist Wertausdruck. Wert ist ein gesellschaftliches Verhältnis, dass 
im Tausch Arbeitsquanta in den getauschten Produkten vergleicht. Ohne 
Tausch kein Wert, ohne Wert kein Geld. Oder mit Marx: "Geld als Wertmaß 
ist notwendige Erscheinungsform des immanenten Wertmaßes der Waren der 
Arbeitszeit" (Kapital, 109)

Um Marxsche Rhetorik zu vermeiden, drückt Christian das anders aus. 
Während der Kapitalismus den Markt als "Indirektion" verwendet, um die 
produzierten Güter zu verteilen -- wobei vorher gar nicht klar ist, ob 
sie gebraucht werden oder gekauft werden können --, verteilt die 
Peer-Produktion nicht die Güter, sondern den Aufwand zu ihrer 
Herstellung. Dabei wird nur das hergestellt, was auch gebraucht wird – 
das Verhältnis zwischen Bedürfnissen und Produkten ist "direkt".

Das spricht dafür:

Gewichtete Stunden vermitteln Beiträge und Entnahmen. Sie fungieren wie 
Geld als "Zirkulationsmittel" (so heisst das im Fall des Kapitalismus).

Gewichtete Stunden können kumuliert werden und geleistete Anstrengungen 
als eine Art "Schatz" horten. Im Unterschied zur kapitalistischen 
Ökonomie wird mit der Schatzbildung der "Zirkulation" jedoch kein Wert 
entzogen, sondern sozusagen unentgolten vorgeschossen -- also genau der 
umgedrehte Fall, was die Auswirkung angeht (insofern eigentlich auch 
kein Pro-Argument).

Das sehe ich etwas anders. Um zu verstehen, ob Beiträge (gemessen in
Gewichteten Stunden = GS) dasselbe sind wie Geld, muss man die Logik
betrachten, die hinter dem Konzept der Beiträge steht. Nur dann kann man
rausfinden, was in Bezug auf Zirkulierbarkeit, Schatzbildung etc. zu
erwarten ist.


Also erstens die Zirkulierbarkeit: die ist natürlich gegeben, deshalb wollen
wir das ganze ja. (Damit wir arbeitsteilig produzieren können: ich
ko-produziere für andere und sie ko-produzieren im Gegenzug für mich, weil
jede/r von uns unmöglich die Hunderte von Dingen und Diensten selbst und
allein produzieren könnte, die sie/er braucht oder will). Zirkulierbarkeit
besteht aber immer nur innerhalb eines "Kooperationseinheit", also eines
Projekts oder Verteilungspools.

Jeder solche "Kooperationseinheit" ist schließlich nichts anderes als ein
"Arbeits-Aufteilungs-System": die für die Produktion der von den
Teilnehmenden gewünschte Arbeit wird unter den Teilnehmern _aufgeteilt_, und
zwar in einer Weise die für alle akzeptabel sein sollte. Die Teilnehmenden
dieser Kooperationseinheit haben von _außerhalb_ geleisteter Arbeit aber
nichts -- die Arbeit, die aufgeteilt werden muss, wird dadurch nicht
weniger. Deshalb wirst du in einer _anderen_ "Kooperationseinheit"
geleistete Arbeit normalerweise nicht importieren können. Die Teilnehmenden
werden daran kein Interesse haben, es dir zu ermöglichen, weil sie dadurch
nur ihre eigene Arbeit entwerten würden -- sie müssten jetzt nämlich
zusätzlich zu dem, was sie selbst haben möchten, auch noch die Dinge
produzieren, die du haben möchtest und für die importierten GS erwerben
kannst (während du zunächst gar nichts beitragen musst, bis die importierten
GS verbraucht sind).

Die Zirkulation wird also auf jeweils auf eine "Kooperationseinheit"
beschränkt sein. Wenn sich (wie ich hoffe) die allermeisten Projekte zu
einem nahezu-universeller Verteilungspool zusammentun, wird auch die
Zirkulation nahezu-universell sein -- aber eben nur dann.


Zweitens die Schatzbildung: wieweit kann ich GS (Gewichtete Stunden) horten
-- also heute mehr beitragen und dann morgen davon leben? Auch hier muss man
die Logik des "die Arbeit aufteilen" (effort sharing) berücksichtigen: ich
will heute mehr beitragen, aber (noch) nicht mehr konsumieren. Die insgesamt
notwendige Arbeit bleibt also gleich, aber da ich einen etwas größeren
Anteil davon beitrage, haben alle anderen etwas weniger zu tun. Ich habe sie
also zunächst _entlastet_ .

Umgekehrt werde ich die anderen, wenn ich die gespeicherte Arbeit später
abrufe, _belasten_ . Ich will jetzt zusätzliche Produkte abrufen, die auch
noch produziert werden müssen, ohne (jetzt) etwas dafür beizutragen: die
notwendige Arbeit, die unter den anderen aufgeteilt wird, nimmt zu -- alle
anderen haben jetzt etwas mehr zu tun.

Zunächst ist festzuhalten, dass die Arbeit (in GS), die ich vorgeschossen
habe, dieselbe ist die ich später wieder abrufen kann -- ob ich sie heute
oder gestern erbringe, ändert an der Höhe der erforderlichen Beiträge
nichts. Ddie dritte Funktion des Geldes, nämlich die als Kapital, als
sich-scheinbar-selbst-vermehrendes Geld, entfällt in jedem Fall: ich erwerbe
immer nur Güter (egal ob Dinge oder Dienstleistungen), niemals aber die
_Arbeitskraft_ anderer, die ich nützen könnte, um Geld-in-mehr-Geld bzw.
Arbeit-in-mehr-Arbeit umzuwandeln.

Trotzdem ist schon die Schatzbildung nicht unproblematisch, da die anderen
dir gegenüber damit quasi ein Versprechen abgeben, dass sie schlecht
auflösen können. Sie verpflichten sich ja, dir deine vorgeschossene Arbeit
später wieder zurückzugeben, und du wirst erwarten, dass sie dieses
Versprechen dann (Jahre? Jahrzehnte? Jahrhunderte?) später auch einhalten.
Das widerspricht aber dem oben genannten Grundsatz, dass man Verpflichtungen
mit einer gewissen Vorlaufzeit auch immer wieder auflösen können sollte.

Projektmitglieder, die umfangreiche Schatzbildung erlauben und dann weniger
arbeiten (und sie _müssen_ dann weniger arbeiten, wenn du mehr arbeiten
willst, denn die Summe der Beiträge bleibt ja gleich), im Wissen dafür
morgen mehr arbeiten zu müssen, verkaufen buchstäblich ihre eigene Zukunft
-- sie leben auf Pump. Das könnten sie ja noch machen, aber sie verkaufen
damit auch die Zukunft von allen, die später in die Kooperationseinheit
eintreten -- die Zukunft ihrer Kinder. (Denn die notwendige Beiträge werden
ja unter allen Mitgliedern aufgeteilt -- wenn du also jetzt deine vor Jahren
vorgeschossene Arbeit abrufst, führt das zu Mehrbelastung für alle _heute_
aktiven Teilnehmenden, nicht nur für die, die vor Jahren durch deinen
Vorschuss entlastet wurden).

Abgesehen davon, dass die Eltern sowieso kein Mandat haben, die künftige
Arbeit ihrer Kinder zu verpflichten, werden sich die Kinder wohl kaum durch
dieses Versprechen (die sie nicht selber gemacht haben) gebunden fühlen.
Wenn also das Abrufen von gespeicherter Arbeit zu erheblichen
Mehrbelastungen für die heute Aktiven führt, dürften die sich früher oder
später entscheiden, die gespeicherte Arbeit zu annullieren und von vorne
anzufangen (und künftig wahrscheinlich nur noch begrenzte Speicherbarkeit
zuzulassen -- aus Fehlern wird man klug).

Alternativ könnte es zum Exodus kommen: Leute, die von der Mehrbelastung
genervt sind, steigen aus dem Projekt aus und schließen sich einem anderen
an. Die Mehrbelastung für die verbleibenden Aktiven erhöht sich dadurch
zusätzlich, was den Exodus verstärkt, bis das Projekt kollabiert.

Natürlich sind die Leute, die sich zu einer Kooperation zusammenschließen,
nicht blöd. Daher rechne ich eher damit, dass sie sich solche Szenarien
_vorher_ durch den Kopf gehen lassen und von Anfang an gar keine unbegrenzte
Schatzbildung (Speicherbarkeit) ermöglichen werden.

Schatzbildung innerhalb hinreichend enger Grenzen, die nicht so umfangreich
werden kann, um die Zukunft der Kooperation zu gefährend, aber es mir z.B.
ermöglicht, mal für ein/zwei Jahre auszusteigen und gar nichts zu tun, macht
dagegen sehr wohl Sinn. Deshalb mutmaße ich auch schon im Buch (Kap. 8.2.2),
dass Kooperation sich auf solche gedeckelte (und vielleicht mit
"Verfallsdatum" versehene) Schatzbildung einlassen werden, aber nicht auf mehr.


Bilanzierend: Wie sieht's also bei Beiträgen (gewichteten Stunden) mit den
drei von Stefan erwähnten Funktionen des Geld hat?

1. Zirkulationsmittel: ja (aber nur im Rahmen einer Kooperationseinheit)
2. Schatz: jein, nur in eng begrenzten Maße
3. Kapital: nein

Es gibt also Gemeinsamkeiten, aber die Unterschiede sind unübersehbar. Wer
trotzdem Beiträge == Geld setzt, wird das Modell des "die Arbeit aufteilen"
(effort sharing) nicht wirklich verstehen (wie auch HGG mit seiner neuen
Mail demonstriert).


Herzliche Grüße
	Christian

-- 
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Zur Entstehungszeit der Erde war es sehr heiß, und es herrschte sehr
schlechtes Wetter.
	-- Marvin Minsky




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