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Re: [ox-de] Request for Comments: Die Peer-Ökonomie



Hi Hans-Gert, Christian, alle,

vielleicht sollte ich kurz eine ganz grobe Skizze dessen geben, worüber 
ihr redet (Christians Buch) und wozu ich auch etwas anmerken möchte, 
damit vielleicht noch einige mehr folgen können. Selbstredend ist es am 
besten, das Buch zu lesen: 
http://www.keimform.de/2007/09/20/request-for-comments-die-peer-oekonomie/

Christian, correct me if I'm wrong.

In dem vorgeschlagenen Modell der "Peer-Ökonomie" gibt's keinen Tausch, 
kein Geld und keinen Markt, dafür aber "Mechanismen", die an die 
entsprechenden Stellen treten. EinTeil der Diskussionen dreht sich 
darum, ob diese anderen Mechanismen dennoch den gleichen Charakter 
haben wie Tausch, Geld und Markt im Kapitalismus.

Statt Tausch gibt es Beiträge (so er Titel des Buches btw.). Wer ein Gut 
haben will, leistet Beiträge in einem Projekt und zwar genau das, was 
er oder sie tun will. Der Beitrag wird in Stunden Aufwand gemessen. Um 
nun zu regulieren, dass auch alle notwendigen Tätigkeiten getan werden, 
werden die nachgefragten Beiträge gewichtet. Unbeliebte Beiträge werden 
hoch gewichtet und vice versa. So kann eine Stunde Müll entsorgen 
durchaus einer Woche Programmieren entsprechen.

Um irgendetwas zu bekommen, muss man "gewichtete Stunden" einbringen 
(nicht alle, aber das sind Details). Man könnte also sagen: Statt Geld 
gibt es "gewichtete Stunden". 

Die Gewichtung erfolgt über ein "Auktionssystem" (ob das ein guter Name 
ist?). Das ist sozusagen der Ersatz für den Markt. Regelmäßig erfolgt 
ein (automatischer) Check der Nachfrage-Angebots-Lage. Gibt es 
Disproportionen, erfolgt eine Änderung der Gewichtung, um unbeliebte 
Tätigkeiten "beliebter" zu machen (weil mit wenig Zeitaufwand zu 
erledigen) und beliebte Tätigkeiten "unbeliebter" (weil es ohnehin 
genug Leute gibt, die das machen wollen).

Die Peer-Projekte funktionieren "im Prinzip" wie wir es von der Freien 
Software kennen. Da es aber (auch) um nicht-kopierbare Güter geht, gibt 
es das Beitragssystem. Peer-Projekte schließen sich zu Verteilungspools 
zusammen, um mehr bieten zu können. Ein Beitrag in Projekt A erlaubt 
dann eine Entnahme eines Gutes in Projekt B. Dann gibt es noch eine 
differenzierte Struktur von Meta-Projekten und Kooperationen von der 
lokalen bis zur globalen Ebene, um den unterschiedlichen Anforderungen 
Rechnung zu tragen. Manche Aufgabe lassen sich eben nur global lösen. 
Alles ziemlich differenziert dargestellt, vgl. Buch.

On 2007-10-09 22:31, Hans-Gert Gräbe wrote:
Insbesondere kommen mir Fragen der Verantwortungsübernahme, der
Umgang mit "gebrochenen Versprechen" usw. - kurz, die ganze
Thematik von Buch 2 des BGB - zu kurz. Will ich hier aber erst mal
nicht weiter ausführen.

das Bürgerliche Gesetzbuch scheint es dir ja angetan zu haben ;-)
Aber natürlich ist das bürgerliche Recht aus den Notwendigkeiten
des Kapitalismus entstanden, und wird mit diesem zusammen auch
wieder verschwinden...

Nun, ganz so mechanisch sehe ich das nicht. Aber um's ins Konkrete zu
wenden: Deine Reputation - als zentrale Kategorie in deinem Text -
ist (m.E.) vor deine allem akkumulierte Fähigkeit, Versprechen auch
zu halten, besonders vielleicht dann, wenn du eine Task ersteigert
hast. Wenn du die dann in den Sand setzt ... Auch ist mir nicht klar, 
wie das bei deiner Auktion funktioniert, ob da jede(r) für alles
mitbieten darf oder offensichtlicher Fake irgendwie aussortiert wird.

Aufgaben werden nicht "ersteigert", sondern bei einer bestimmten 
Gewichtung übernimmst du die Aufgabe oder lässt es bleiben. Eben um 
solche Fakes zu vermeiden.

Wobei das Problem ja oft ist, dass alle wissen, der schafft das
nicht, allein der Betroffene selbst ... Kurz, Verantwortungsfähigkeit
und deren Reproduktion ist schon ein Topic, der mir bei dir zu kurz
kommt. BGB Teil 1 halt. Muss man ja nicht so lösen wie dort, aber
lösen muss man's schon.

Das hat Christian beantwortet, s.u.

Und es gibt viele gute und schlechte Gründe, ein Versprechen nicht
einzuhalten oder einhalten zu können. Man muss sich ja nicht von
vornherein überhoben haben, sondern die Umstände gestalten sich halt
anders als gedacht, erwartet, das Unerwartete tritt ein. Zukunft ist
halt in vielen Dimensionen offen. Kann ja mal passieren, und wenn es
bei einer konkreten Person nicht zu oft passiert, ist es ja auch
nicht schlimm. Blöd halt nur, wenn du (Person A) jemand (Person B)
was versprochen hast, wobei du dich drauf verlassen hast, dass ein
anderer (Person C) sein Versprechen dir gegenüber einhält. Und wenn
das Kind im Brunnen liegt, dann will es keiner gewesen sein und den
letzten in der Kette beißen die Hunde. Diese Art von
Schuldverhältnissen, also das Abwickeln von "Exceptions", muss auch
irgendwie behandelt werden. BGB Teil 2 halt. Ich nehme mal an (du
hast dazu nix geschrieben), dass B dann was dagegen hat, dass A die
"weighted hours" in voller Höhe gutgeschieben bekommt und A einen
Teil des Defizits C "in Rechnung stellen" will. Dass sich
Schuldverhältnisse also irgendwie auf die Rechnungslegung auswirken.

Das ist eine Leerstelle: Wie sieht die Verwaltung und Verfügung der 
Stunden aus? Aber zu deinem Beispiel: A und B haben in der Regel direkt 
nichts miteinander zu tun. Es geht hier nicht um Kauf und Verkauf. So 
etwas wie Vertragsschulden gibt es nicht (es sei denn auf einer 
wirklich persönlichen Ebene des Versprechens wie heute auch schon). Ob 
es eine Art Kredit geben kann (Entnahme ohne ausreichenden Beitrag), 
müsste das Projekt bzw. der Verteilungspool entscheiden.

BGB Teil 3 braucht dann Eigentum, um diese Schuldverhältnisse zu
besichern, dass nicht eine(r) dauernd "weighted hours" abgezogen
bekommt bis er (oder sie) tief in den roten Zahlen ist. Streng
genommen ist in dieser Gesellschaft nur jemand mit positivem
Wert-Saldo (in einem hier nicht näher explizierten Sinn) überhaupt
schuldfähig. Wie das bei dir funktioniert, welche Bremse da eingebaut
ist, ob es so was wie Insolvenz gibt, wie sich das auf die
Gesamtrechnung auswirkt, all das habe ich nicht wirklich begriffen.

Darüber ist auch nichts ausgesagt.

Der Umgang mit "gebrochenen Versprechen" wird in einer Gesellschaft
wie ich sie beschreibe wohl eher so aussehen wie heute schon im
privaten Bereich, wo man ein Versprechen kaum vor Gericht einklagen
würde. Wo aber Vertrauensverstöße oder schwere Unzuverlässigkeit
natürlich Konsequenzen haben. Insbesondere werden Menschen, die
sich so verhalten, wahrscheinlich zunehmend Schwierigkeiten haben,
andere Menschen zu finden, die bereit sind mit ihnen
zusammenzuarbeiten. Was in einer Gesellschaft, die auf Kooperation
basiert, natürlich durchaus unangenehm sein kann...

Das sind die peanuts, die leichten Fälle. Es geht nicht primär um
"Vertrauensverstöße oder schwere Unzuverlässigkeit", sondern um den
Umgang mit der *prinzipiell* nicht zu vermeidenden Multioptionalität
von Zukunft. Das Hauptproblem der heutigen Versprechen ist ja, dass
sie erst morgen eingelöst werden.

Du sprichst die Frage der Revision von Zusagen an. Ja, es braucht einen 
Mechanismus, sich aus Zusagen zurückziehen zu können. Gerade wenn es 
keine Zwangsmittel mehr gibt wie wir sie heute kennen, ist es 
entscheidend, solche Regulationen von vorneherein vorzusehen.

Ich fände es deshalb spannend, einmal die impliziten
Voraussetzungen deines Ansatzes zu explizieren. Dabei muss man ja
nicht gleich so weit gehen wie Robert Kurz in seinem Aufsatz "Der
Unwert des Unwissens", in dem er sich bekanntlich (u.a.) mit dem
Oekonux-Theoriekontext auseinandersetzt.

Auch wenn ich mir mit Ernst Lohoff und Stefan Meretz inhaltlich
keineswegs einig bin: "Auseinandersetzung" trifft es wohl nicht
ganz. Dafür müsste Kurz schließlich inhaltliche Argumente bringen,
das tut er aber höchstens in 5% seines Textes. Über den peinlichen
Rest wollen wir lieber den Mantel des Schweigens hüllen...

Nun, ob der so peinlich ist oder nicht schlicht meine These (3)

Die lautete:
"Web 2.0 is a new playground for MWW - the Male Western White."

Du sprichst damit das Thema Gender usw. an. Dazu gibt es klare Aussagen 
im Buch: Das spielt grundsätzlich keine Rolle.
Btw. Web 2.0 hat nur entfernt mit Peer-Ökonomie zu tun. Also nix mit 
deiner vierten These: "Web 2.0 is a big leap towards communism". Das 
glauben nur die krudesten Antikommunisten:
http://www.keimform.de/2007/09/05/web-20-marx-verfuehrt-weiter/

Auch du bleibst
mit deinem Auktionsmodell mit "weighted hours" bei einem Zeitmaß,
obwohl das vollkommen unnötig ist. Denn das Ergebnis kannst du in VBE
(= Vollbeschäftigteneinheiten), VZÄ (= Vollzeitäquivalenten) oder
UHU's messen, weil es stets nicht auf die absolute Größe der
"weighted hours", sondern nur auf deren Quotienten untereinander
ankommt (siehe etwa deine Formeln (A.7) und (A.10)). Dann muss aber
der Skalierungsfaktor auch kein Skalar sein, sondern kann schlicht
die Dimension VE/h (VE = Verrechnungseinheit) haben. Oder noch
deutlicher: "weighted hours" ist nix anderes als die Abrechnung der
Arbeitsleistung in Geldform. Mit der Dynamik *dieses*
Abrechnungsmodells hast du die ganze Wertvergesellschaftung also
wieder durch die Hintertüre am Hals.

Das ist in der Tat eine Kernfrage: Sind die gewichteten Stunden 
letztlich das Gleiche wie Geld?

Das spricht dagegen:

Geld ist Wertausdruck. Wert ist ein gesellschaftliches Verhältnis, dass 
im Tausch Arbeitsquanta in den getauschten Produkten vergleicht. Ohne 
Tausch kein Wert, ohne Wert kein Geld. Oder mit Marx: "Geld als Wertmaß 
ist notwendige Erscheinungsform des immanenten Wertmaßes der Waren der 
Arbeitszeit" (Kapital, 109)

Um Marxsche Rhetorik zu vermeiden, drückt Christian das anders aus. 
Während der Kapitalismus den Markt als "Indirektion" verwendet, um die 
produzierten Güter zu verteilen -- wobei vorher gar nicht klar ist, ob 
sie gebraucht werden oder gekauft werden können --, verteilt die 
Peer-Produktion nicht die Güter, sondern den Aufwand zu ihrer 
Herstellung. Dabei wird nur das hergestellt, was auch gebraucht wird – 
das Verhältnis zwischen Bedürfnissen und Produkten ist "direkt".

Das spricht dafür:

Gewichtete Stunden vermitteln Beiträge und Entnahmen. Sie fungieren wie 
Geld als "Zirkulationsmittel" (so heisst das im Fall des Kapitalismus).

Gewichtete Stunden können kumuliert werden und geleistete Anstrengungen 
als eine Art "Schatz" horten. Im Unterschied zur kapitalistischen 
Ökonomie wird mit der Schatzbildung der "Zirkulation" jedoch kein Wert 
entzogen, sondern sozusagen unentgolten vorgeschossen -- also genau der 
umgedrehte Fall, was die Auswirkung angeht (insofern eigentlich auch 
kein Pro-Argument).

Richtig problematisch wird es, wenn alte und neue Ökonomie parallel 
existieren. Dann können mit wenig Aufwand erzielte Güter aus der 
Peer-Ökonomie gegen "wertvolle" Güter oder Geld in der kapitalistischen 
Ökonomie getauscht werden, was die Peer-Ökonomie ausbluten würde.

Eine Peer-Ökonomie könnte sich also wiederum in einen ordinären 
Kapitalismus umwandeln. Das diskutiert Christian auch und hält es für 
grundsätzlich möglich, aber eigentlich für unwahrscheinlich. Unter der 
Bedingung, dass es keinen Kapitalismus mehr gibt, kann das stimmen, bei 
Parallelexistenz jedoch nicht.

Im Gegensatz zu Meretz sage ich allerdings - überhaupt nicht schlimm,
weil du im gleichen Atemzug über unternehmerisches Handeln (eben der
Auktionäre, die ja nix anderes als Kleinunternehmer ihrer selbst
sind) schreibst. Und der Warenfetisch ist sehr eng mit dem
Lohnarbeiter, aber deutlich weniger eng mit dem Kleinunternehmer
verbunden. Letzterer hat mit dem cash flow den Produktionsprozess
(eben T-S-T') wenigstens bei seiner produktiven Konsumtion immer im
Hinterkopf und versteht intuitiv, dass sich hinter der Geldform der
Dinge Produktionsprozesse verbergen.

Eh, dass sich hinter dem (vorgeschossenen) Geld, also Kapital, 
Produktionsprozesse "verbergen", ist nicht der Fetisch, sondern 
originär die Rolle des "Unternehmers". Es geht auch nicht nur um den 
Warenfetisch, sondern insbesondere um den Geld- und Kapitalfetisch, dem 
Zwang sich, als "personifiziertes Kapital" zu betätigen. Es gibt keine 
privilegierte Form, dem Fetischismus zu entgehen. Der Fetisch ist 
kein "falsches Bewusstsein", das man irgendwie klug ablegen könnte, 
sondern "objektive Gedankenform", d.h. ich muss so denken und handeln, 
selbst wenn ich grundsätzlich durchschaue, was da (mit mir) abgeht. -- 
Egal, sollten wir nicht diskutieren, sondern nur als Unterschied 
festhalten.

Relevant in diesem Zusammenhang ist, dass es sich bei den "Auktionären" 
(was sie nicht sind) nicht um Kleinunternehmer handelt: Sie stellen 
keine Waren her, verkaufen nichts auf einem Markt, erlösen kein Geld, 
können Geld also auch nicht als Kapital einsetzen usw.

Ciao,
Stefan

-- 
Start here: www.meretz.de
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



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