Entfemdung und Wesensannahmen (was: Re: [ox-de] Frithjof Bergmanns Freiheitsbegriff)
- From: Stefan Meretz <stefan.meretz hbv.org>
- Date: Sun, 7 Jan 2007 13:29:59 +0100
Hi Christian und alle, nochmal zu Entfremdung:
On 2006-12-22 15:02, Christian Siefkes wrote:
Während alle diese Konzepte auf die eine oder andere Weise übers
Ziel hinausschießen und echte Freiheit zu einer unmöglichen oder
zumindest sehr traurigen (wie im Falle totaler Autonomie) Sache
machen würden, identifiziert Bergmann eine gemeinsame Grundidee
der verschiedenen Konzepte: "Eine Handlung ist frei, wenn der
Handelnde sich mit den Wesenselementen identifiziert, aus denen
sie entspringt; sie ist erzwungen, wenn der Handelnde sich von dem
Wesenselement disoziiert, das die Handlung erzeugt oder
veranlasst." (S. 66)
Das ist für mich ziemlich genau die Definition für Entfremdung. Das
ist aber nochmal was anderes als Freiheit.
Hm, ich finde den Begriff der Entfremdung nicht unproblematisch, da
er leicht (wie beim jungen Marx) in einer idealistischen Weise
gebraucht wird (nicht-entfremdet ist dann, was einem angenommenen
Idealbild der "menschlichen Natur" entspricht). Dementsprechend wird
der Begriff auch häufig normativ verwendet
Ich finde das Entfremdungsgegenargument, das ich auch eine Zeit lang
vertreten habe, nicht unproblematisch, denn es enthält eben jene
bürgerliche Vorannahme des isolierten ungesellschaflichen
Einzelindividuums - eben jene Annahme, die du zurecht zurückweist.
Die Gegenargumentation geht so: Jede Wesensannahme ist eine ontologische
Setzung, die in Wahrheit nur einen historisch gewordenen Stand
widerspiegelt. Ein überhistorisches menschliches Wesen gibt es nicht.
Jede gegenteilige Behauptung ist (bürgerliche) Ideologie.
Wenn ich also sage, "der Mensch ist so-und-so", dann erkläre ist in
jedem Fall eine historisch-spezifische Erscheinung zur Seinseigenschaft
des Menschen "an sich". Beispiel: Menschen tauschen immer, um ihr Leben
zu sichern. Bekannteres Beispiel: Der Mensch als nutzenmaximierendes
Individuum (Grundlage der liberalen Wirtschaftstheorien).
Diese Beispiele lassen sich nicht durch Gegenbeispiele auspoppern, ähm,
falsifizieren, denn Seinsannahmen schließen ein, dass es Abweichungen
vom postulierten Wesen gibt ("Ich kenne da einen, der tauscht
nicht...") - ihr relativ seltenes Auftreten bestätigt geradezu die
Regel (etwa die Tatsache, dass die allermeisten Menschen tauschen).
Nun - jetzt kommt der Clou - schließt die Wesenskritik aus diesen
Überlegungen induktiv, dass eine _jede_ Wesensannahme in die
beschriebene Falle tappt - und sei es indirekt wie bei der Entfremdung,
die in der Tat einen Zustand des Nicht-Entfremdeten als ihre Maßgabe
hat. Dieser Schluss ist nicht nur falsch, sondern er reproduziert eben
genau das, was eigentlich kritisiert werden soll: Ein "wesensloser"
Mensch ist ein vereinzeltes Abstraktum, ein Homunkulus, ein Nichts
eigentlich, das erst in eine historisch konkrete Situation
geworfen "menschliche" Züge annimmt. Das ist exakt eben jene zu
kritisierende Annahme des isoliert-ungesellschaftlichen Individuums -
ich erwähnte es eingangs.
Auf die Bedeutung eines eigenen "Menschenbildes" hat übrigens stets auch
Leo Kofler hingewiesen - siehe den Blogeintrag aus aktuellem Anlass:
http://www.keimform.de/2007/01/07/leo-kofler/ bzw. der Artikel:
http://www.linksnet.de/artikel.php?id=2794
Ok, was aber *ist* denn nun das Wesen ("Idealbild" etc.) des Menschen?
Aus dem o.g. Artikel zu Kofler zitiere ich mal diese längere Passage:
Dieses repressive Menschenbild hat viele Facetten. So zieht unter
anderem der Neoliberalismus als Ideologie, als soziale Philosophie
einen Gutteil seiner intellektuellen Kraft und Hegemonie aus einem
weitgehend verinnerlichten Menschenbild, dem man konsequent nur auf
demselben Terrain begegnen kann, d.h. wenn man über ein eigenes,
konsistent anderes Menschenbild verfügt. Das ideologische Leitbild des
Neoliberalismus ist bekanntlich der flexible, mobile, universell
verfügbare und allzeit bereite einzelne Mensch, die Ich-AG, das
vereinzelte Individuum als Einzelkämpfer, der seine individuellen
Ressourcen im Wettlauf der Warenförmigkeit gegen andere mobilisiert:
Jeder ist sich selbst der Nächste und alles wird dem Fetisch der
Profitakkumulation um jeden Preis, der Selbstverwertung des Werts
sowie der universellen Konkurrenz, genauer: den Imperativen der
Marktkonkurrenz, unterworfen.[18] Diese neoliberale Ideologie ("Der
Mensch, der einzelne Mensch, ist das, was er aus sich selbst macht")
ist wegen ihres methodischen Individualismus und ihrer
klassengesellschaftlichen Blindheit durch und durch reaktionär, aber
nicht notwendigerweise konservativ – das haben wir spätestens unter
Rot-Grün gelernt.[19] Dagegenzuhalten ist, dass der Mensch –
anthropologisch betrachtet – ein kollektives, ein immer schon
vergesellschaftetes und aufeinander strukturell angewiesenes Wesen,
ein Gattungswesen ist, das nur in der Gemeinschaft und nur durch die
Gemeinschaft sich vereinzeln kann. Der Mensch bespiegelt sich
bekanntlich im Anderen und er ist angewiesen auf Formen der
kollektiven Solidarität – zumal, wenn er jene realhistorischen (und
von Menschen gemachten) Probleme in Angriff nehmen möchte, die
mittlerweile nicht nur Millionen von Menschen tagtäglich in
Verelendung und Tod treiben, sondern das Überleben der Gattung selbst
in Frage stellen. Alles andere ist, wie Leo Kofler zu sagen nicht müde
wurde, Raubtierideologie.[20]
Fussnoten hier: http://www.linksnet.de/artikel.php?id=2794
Das finde ich ein schon ganz guten Ansatz. Daran hätte ich einiges zu
kritisieren (Begriff der "Gesellschaft" statt "Gemeinschaft", Neolib
ist nicht einfach "durch und durch reaktionär", sondern knüpft an
realen Bedürfnissen nach Individualität an etc.), aber die Kernaussage
teile ich: Wir brauchen ein eigenes "Menschenbild", und zwar nicht
ein "wünsch-dir-was-Bild", sondern ein wissenschaftlich fundiertes.
Und hier mach ich mal ein Punkt. Mehr wird nicht verraten;-)
Ciao,
Stefan
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