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[ox-de] Frithjof Bergmanns Freiheitsbegriff



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Frithjof Bergmanns Freiheitsbegriff

Von Christian, 17. Dezember 2006, 11:53 Uhr

Den meisten hier ist wahrscheinlich Frithjof Bergmanns Konzept der Neuen 
Arbeit [http://de.wikipedia.org/wiki/New_Work] ein Begriff. Auch wenn 
dieses Konzept sicher noch nicht das Gelbe vom Ei ist (weil es weder 
den Markt noch die Verherrlichung der Arbeit hinter sich lässt), sind 
Bergmanns Ausführungen zum Thema „Freiheit“ IMHO sehr interessant.

In seinem Buch „Die Freiheit leben“ 
[http://www.amazon.de/exec/obidos/ISBN=393685503X] (Arbor, Freiamt im 
Schwarzwald 2005) analysiert Bergmann zunächst gängige 
Charakterisierung von Freiheit, die er zurückweist:

    * Freiheit ist nicht absolute Unabhängigkeit. Von etwas abhängig zu 
sein, womit man sich identifiziert, wird nicht als Einschränkung der 
eigenen Freiheit empfunden (eine Freie-Software-Entwicklerin hält sich 
von sich aus an die GPL [http://www.freie-gesellschaft.de/wiki/GPL] 
bzw. die vier Freiheiten 
[http://www.freie-gesellschaft.de/wiki/Vier_Freiheiten], ohne sich 
dadurch weniger frei zu fühlen). Das Streben nach absoluter 
Unabhängigkeit macht deshalb nur für Menschen Sinn, die nichts haben, 
womit sie sich identifizieren könnten.
      Zudem ist Einflussnahme noch keine Manipulation (wie manche 
Medienkritiker/innen zu denken scheinen). Wir lassen uns immer durch 
andere beeinflussen und beeinflussen unsererseits die anderen; ein 
Mensch, dem diese ideelle Interaktion mit anderen fehlt, ist 
wahrscheinlich schon tot.
    * Sie besteht auch nicht darin, eine Wahl zu haben: zum einen nützt 
einem das nichts, wenn man keine der zur Wahl stehenden Alternativen 
will; zum anderen hat man de facto immer eine Wahl, weil es immer 
verschiedene Alternativen gibt (auch wenn diese Alternativen höhere 
Kosten haben, im Extremfall Gefängnis oder Tod bedeuten können).
    * Sie ist nicht die Abwesenheit von Zwängen (dann wäre niemand 
jemals frei, da man immer von Hindernissen und Zwängen umgeben ist).

Während alle diese Konzepte auf die eine oder andere Weise übers Ziel 
hinausschießen und echte Freiheit zu einer unmöglichen oder zumindest 
sehr traurigen (wie im Falle totaler Autonomie) Sache machen würden, 
identifiziert Bergmann eine gemeinsame Grundidee der verschiedenen 
Konzepte: „Eine Handlung ist frei, wenn der Handelnde sich mit den 
Wesenselementen identifiziert, aus denen sie entspringt; sie ist 
erzwungen, wenn der Handelnde sich von dem Wesenselement disoziiert, 
das die Handlung erzeugt oder veranlasst.“ (S. 66)

Freiheit besteht also nur dann, wenn Menschen Möglichkeiten haben, 
herauszufinden, was sie wirklich wollen, und gemäß dieser Erkenntnis zu 
handeln – ein Ansatz, der interessante Parallelen zum Konzept der 
Selbstentfaltung 
[http://www.freie-gesellschaft.de/wiki/Selbstentfaltung] aufweist.

Deshalb nützt es Bergmann zufolge auch wenig, wenn eine Gesellschaft 
Institutionen organisiert, die Wahlfreiheit und Mitbestimmung zulassen 
(wie dies etwa in der parlamentarischen Demokratie 
[http://de.wikipedia.org/wiki/parlamentarische_Demokratie] der Fall 
ist), solange diese Gesellschaft so eingerichtet ist, dass diese 
Identifikation, diese Selbstentfaltung 
[http://www.freie-gesellschaft.de/wiki/Selbstentfaltung], erschwert 
oder verhindert wird. Dies macht begreifbar, warum viele Menschen, 
trotz der nominellen Wahlfreiheit, heute nicht das Gefühl haben, 
besonders frei zu sein: im Kapitalismus stehen sie fast immer unter dem 
Zwang externer Umstände (wie dem Zwang, Geld zu verdienen), die ihren 
realen Handlungsmöglichkeiten enge Grenzen ziehen und die es ihnen fast 
unmöglich machen, herauszufinden und zu tun, was ihnen wichtig ist.

Bergmann betrachtet dabei eine Entscheidung nur dann frei, wenn man sich 
nicht nur mit dem Resultat, sondern auch mit dem Prozess der 
Entscheidung identifizieren kann – ohne diese Identifikation wird man 
diese Entscheidung nicht als die eigene akzeptieren, selbst wenn man am 
Ende vielleicht zum selben Ergebnis gekommen wäre (niemand kann anderen 
vorschreiben, was gut für sie ist). Für diese Identifikation ist es 
aber nicht nötig, dass man die Entscheidung ohne den Einfluss anderer 
getroffen hat (was wie gesagt sowieso nie der Fall sein wird). Es ist 
auch nicht nötig, dass ein bewusstes Abwägen zwischen Alternativen 
stattfindet – praktisch ist es nicht selten so, dass Dinge unbewusst in 
einem arbeiten und man eines Tages „aufwacht“ und weiß, was man will.

Eine Regierung kann deshalb auch keine Freiheit gewähren, sie kann nur 
Freiheit reduzieren (indem sie bestimmte Entscheidungen verbietet oder 
anderweitig erschwert und dadurch diese Entscheidungen zwar nicht 
unmöglich macht, wohl aber die Kosten erhöht). Faktisch wird der 
Begriff „Freiheit“ oft als Euphemismus für etwas Anderes (Geringeres) 
benutzt, nämlich dass bestimmte Handlungen nicht bestraft werden.

Das Gewähren politischer „Freiheiten“ ist gut und wichtig, weil es 
andernfalls (bei hohen Kosten für bestimmte Handlungen) für die 
Menschen noch schwieriger wird, herauszufinden und umzusetzen, was sie 
wirklich wollen. Aber das bloße Vorhandensein solcher politischer 
„Freiheiten“ führt noch nicht zwangsläufig dazu, dass Menschen dies 
können (und auch tun).

Freiheit (im Sinne des Rausfindens und Tuns, was einem wichtig ist), ist 
eine „zarte Pflanze“, die nur in einem guten Klima gedeiht. Wer ums 
tägliche Überleben kämpfen oder sich von früh bis spät abrackern muss, 
hat für solchen „Luxus“ weder Zeit noch Gelegenheit. Deshalb ist es so 
wichtig, nicht nur nominelle Freiheiten zu gewähren, sondern die 
Gesellschaft tatsächlich so zu organisieren, dass alle ein gutes Leben 
führen können, damit die gewährten Freiheiten nicht nur ein hohles 
Versprechen bleiben.

Eine Gesellschaft, die die Partizipation aller ermöglicht (d.h. eine 
„Demokratie“), ist nicht (nur) freier, sondern auch effizienter als 
eine, die das nicht tut. Diktatoren sind in vielen Fällen 
ineffizienter, weil die Menschen sich nicht trauen, ihre Ideen und 
Bedenken zu äußern, oder es ihnen an Motivation oder Möglichkeiten 
fehlt, ihre Vorstellungen umzusetzen.

Um diesen Vorteil voll ausspielen zu können, ist es wichtig, allen 
Menschen bestimmte Grundrechte zu gewähren, um das Risiko von 
Erniedrigungen und Unglücksfällen zu mindern und so sicherzustellen, 
dass sich alle im weitestmöglichem Maße einbringen können – das Prinzip 
der Gleichheit. Es gibt also rein pragmatische Gründe, die für 
Gleichheit sprechen, ein Rückgriff auf metaphysische Begründungen ist 
nicht notwendig. Aus demselben pragmatischen Grund, die möglichst 
weitgehende Entfaltung des Potenzials aller Menschen zu ermöglichen, 
kann sich eine Gesellschaft auch für gezielte Gegenmaßnahmen gegen 
bestehende Ungleichheiten entscheiden (durch „Affirmative Action“, 
Quotenregelungen u.ä.).

Gleichheit (in diesem Sinne) steht also nicht zur Freiheit im 
Widerspruch (wie gerne angenommen wird), sie ist vielmehr deren 
Bedingung.

Auch wenn Bergmanns Konzept der Neuen Arbeit sicher noch nicht der 
Weisheit letzter Schluss ist – seine Ausführungen zur Freiheit sind 
fundiert und lohnend. In dem Buch geht es auch darum, was daraus für 
die Erziehung und für Organisation der Arbeit folgt – darauf will ich 
demnächst noch eingehen.

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