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[ox] Artikel: Alles für alle



Quelle: http://www.streifzuege.org/c_akt_str_inhalt.html
Debatte: http://www.opentheory.org/immaterial_world_07/text.phtml

Stefan Meretz: Alles für alle

Zur Debatte um eine freie Gesellschaft

Jede Gesellschaft besitzt unabhängig von der Form eine basale 
Eigenschaft: Der Erhalt der Gesellschaft ist durchschnittlich auf die 
Beiträge der Menschen angewiesen, jedoch vom Beitrag des konkreten 
Einzelnen unabhängig. Damit sich eine Gesellschaft erhalten kann, 
braucht sie einen »selbstreproduktiven Mechanismus«. 
Dieser »Mechanismus« hat konstitutive Funktion, ist das organisierende 
Moment des gesellschaftlichen Zusammenhangs. Er ist unsichtbar
und sorgt doch dafür, dass durchschnittlich alle notwendigen Beiträge 
erbracht werden. Er konstituiert den Gedankenraum, in dem die Menschen 
wahrnehmen und denken und lernen sich im Medium der Gesellschaft zu 
bewegen und sich zu anderen ins Verhältnis zu setzen. Eske Bockelmann 
hat in seinem Buch »Im Takt des Geldes« eindrucksvoll beschrieben, wie 
sich im Übergang zur Moderne buchstäblich alles änderte: das Hören, das 
Sehen, das wissenschaftliche Denken und das Handeln.

Der »selbstreproduktive Mechanismus« der Warengesellschaft wird bestimmt 
durch ein Abstraktum: den Wert. Diese Erkenntnis entspricht durchaus 
dem Alltagsbewusstsein: Geld regiert die Welt. Hat eine freie 
Gesellschaft, Kommunismus, einen »selbstreproduktiven Mechanismus« oder 
wird dort alles »bewusst verabredet«? Nehmen wir an, mit dem Wert 
verschwände ein zentrales organisierendes Moment. Es gibt keine 
Vorgaben mehr, ob sichtbar oder unsichtbar. Nun gilt es, das 
gesellschaftlich Notwendige zu verabreden. Was muss durchschnittlich 
produziert, reproduziert, repariert, organisiert, kurz: getan werden? 
Wie werden Notwendigkeiten in gesellschaftlicher Größenordnung
verabredet? Wie werden auch die Dinge getan, die unspaßig sind?

Zentrale Planung scheidet aus - auch wenn es neue Versuche gibt,
Planwirtschaften auf der Grundlage neuer Computertechnologie 
(theoretisch) zu begründen. Gleichwohl werden Computer und das Internet 
eine wichtige Rolle spielen. Nur geht es nicht darum, die Gesellschaft 
zu organisieren und zu planen, sondern darum, dass die Gesellschaft 
sich selbst organisiert und plant. Selbstorganisation und Selbstplanung 
sind die Grundlagen, Computer und Internet sind Mittel. Was bedeuten 
Selbstorganisation und -planung unter den Bedingungen der Abwesenheit 
des Wertfetischs, des alles durchdringenden und organisierenden
Moments der Warengesellschaft? Selbstorganisation und -planung - wofür? 
Die Antwort scheint mir auf der Hand zu liegen: für die Befriedigung 
der je eigenen Bedürfnisse.

Um die Bedürfnisbefriedigung geht es auch in der Warengesellschaft, nur 
ist sie hier nicht »unmittelbar« möglich. Jede und jeder muss den Umweg 
über das Geld nehmen, muss durch das Nadelöhr des Werts hindurch, nicht 
in allen Bereichen der Gesellschaft, aber zunehmend in mehr. Auch in 
einer freien Gesellschaft ist die Befriedigung nicht »unmittelbar« 
möglich, da der oder die Einzelne nicht alles selbst herstellt oder 
leicht an das Gewünschte heranreicht. Nur ist die »Vermittlung« in der 
freien Gesellschaft nicht über ein Abstraktum organisiert, sondern über 
den Kontakt zu anderen Menschen.

Ist es denkbar, zu beliebigen anderen Menschen zwecks 
Bedürfnisbefriedigung Kontakt aufzunehmen? Manchmal schon, aber in der 
Regel nicht. Das wäre viel zu aufwändig, und dafür ist die Gesellschaft 
in ihrer Struktur viel zu differenziert. Eine Eigenschaft der (halbwegs 
funktionierenden) Warengesellschaft hat also zu bleiben: die 
personalunabhängige Verfügbarkeit von Mitteln zur 
Bedürfnisbefriedigung. Habe ich in der Warengesellschaft aktuell und
zukünftig Geld in der Tasche, so kann ich selbstständig entscheiden, auf
Reichtümer zuzugreifen - dabei ausgeblendet, dass der Gesamtzustand der
Warengesellschaften auch für die Geldhabenden kein stabiler ist.

Das bedeutet für die freie Gesellschaft, dass Güter und Dienste
personalunabhängig verfügbar sein müssen - und das verbunden mit der 
Gewissheit, dass das morgen und übermorgen auch noch so ist. Dann wäre 
die Gesellschaft als Infrastruktur des je eigenen Lebens reich, stabil 
und verlässlich. Ich müsste mir keine Gedanken machen, die benötigten 
Reichtümer wären da und kämen mit wenig Aufwand zu mir. Ich stünde auch 
nicht permanent unter Verabredungszwang, um mir diese Lebensqualität zu 
organisieren. Zur Erinnerung: Basale Eigenschaft von Gesellschaften 
ist, dass konkret ich nicht gezwungen bin, einen notwendigen
Beitrag zu erbringen - und sei es eine Verabredung.

Dieser Zusammenhang wurde von Klaus Holzkamp theoretisch 
verallgemeinert. In der Gesellschaft gibt es kategorial »allgemeine 
Nutzer« und »allgemeine Produzenten«. Durchschnittlich werden 
diese »Rollen« wahrgenommen, aber eben nicht zwangsweise personal. 
Kinder zum Beispiel sind zunächst nur »Nutzer« und entwickeln sich erst 
nach und nach zu »Produzenten«. Es gibt Menschen, die gehen
darin auf, Dinge zu schaffen, andere wiederum darin, vorhandenen 
Reichtum zu nutzen. Wieder andere machen mal dies und mal das. 
Selbstentfaltung bedeutet, die je eigenen Möglichkeiten produktiv oder 
nutzend oder produktiv-nutzend maximal zu entwickeln und individuell 
auszubauen - unabhängig von der konkreten Tätigkeit. 
Bedürfnisbefriedigung bedeutet also keinesfalls, bloß nutzender
»Konsument« zu sein und vorhandenen Reichtum geschleust durch die 
Wertöse zu verschlingen - das ist die warenförmig pervertierte Form der
»Selbstverwirklichung«. Sondern es bedeutet, egal, ob als »Nutzer« oder 
als »Produzent«, die je eigene Persönlichkeit maximal zu entfalten und 
das Leben zu leben.

Also keine Zwangsverabredung. Verabreden werden wird natürlich, doch nur
durchschnittlich, nicht notwendig individuell bei jeder Handlung. Wie 
aber entsteht trotzdem Reichtum, Stabilität und Verlässlichkeit? Das 
Geheimnis liegt im selbstorganisierenden Kern, im »selbstreproduktiven 
Mechanismus« der freien Gesellschaft. Dieser konstituiert sich nämlich 
über die Selbstentfaltung des Menschen - sei es als »Nutzer« oder 
als »Produzent«. Beides wird ohnehin nicht mehr voneinander zu 
unterscheiden sein: Das eigene Nutzen eines Reichtums ist häufig 
wiederum ein Produzieren für andere. Die These lautet also: Sind die
Menschen von der (Wert-)Leine gelassen, werden sie in ihrer Vielfalt all 
jenen stofflichen und nichtstofflichen Reichtum schaffen, den eben 
diese Menschen brauchen - stabil und verlässlich: Alles für alle.



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