[ox] Artikel: Alles für alle
- From: Stefan Meretz <stefan.meretz hbv.org>
- Date: Tue, 11 Jul 2006 11:22:02 +0200
Quelle: http://www.streifzuege.org/c_akt_str_inhalt.html
Debatte: http://www.opentheory.org/immaterial_world_07/text.phtml
Stefan Meretz: Alles für alle
Zur Debatte um eine freie Gesellschaft
Jede Gesellschaft besitzt unabhängig von der Form eine basale
Eigenschaft: Der Erhalt der Gesellschaft ist durchschnittlich auf die
Beiträge der Menschen angewiesen, jedoch vom Beitrag des konkreten
Einzelnen unabhängig. Damit sich eine Gesellschaft erhalten kann,
braucht sie einen »selbstreproduktiven Mechanismus«.
Dieser »Mechanismus« hat konstitutive Funktion, ist das organisierende
Moment des gesellschaftlichen Zusammenhangs. Er ist unsichtbar
und sorgt doch dafür, dass durchschnittlich alle notwendigen Beiträge
erbracht werden. Er konstituiert den Gedankenraum, in dem die Menschen
wahrnehmen und denken und lernen sich im Medium der Gesellschaft zu
bewegen und sich zu anderen ins Verhältnis zu setzen. Eske Bockelmann
hat in seinem Buch »Im Takt des Geldes« eindrucksvoll beschrieben, wie
sich im Übergang zur Moderne buchstäblich alles änderte: das Hören, das
Sehen, das wissenschaftliche Denken und das Handeln.
Der »selbstreproduktive Mechanismus« der Warengesellschaft wird bestimmt
durch ein Abstraktum: den Wert. Diese Erkenntnis entspricht durchaus
dem Alltagsbewusstsein: Geld regiert die Welt. Hat eine freie
Gesellschaft, Kommunismus, einen »selbstreproduktiven Mechanismus« oder
wird dort alles »bewusst verabredet«? Nehmen wir an, mit dem Wert
verschwände ein zentrales organisierendes Moment. Es gibt keine
Vorgaben mehr, ob sichtbar oder unsichtbar. Nun gilt es, das
gesellschaftlich Notwendige zu verabreden. Was muss durchschnittlich
produziert, reproduziert, repariert, organisiert, kurz: getan werden?
Wie werden Notwendigkeiten in gesellschaftlicher Größenordnung
verabredet? Wie werden auch die Dinge getan, die unspaßig sind?
Zentrale Planung scheidet aus - auch wenn es neue Versuche gibt,
Planwirtschaften auf der Grundlage neuer Computertechnologie
(theoretisch) zu begründen. Gleichwohl werden Computer und das Internet
eine wichtige Rolle spielen. Nur geht es nicht darum, die Gesellschaft
zu organisieren und zu planen, sondern darum, dass die Gesellschaft
sich selbst organisiert und plant. Selbstorganisation und Selbstplanung
sind die Grundlagen, Computer und Internet sind Mittel. Was bedeuten
Selbstorganisation und -planung unter den Bedingungen der Abwesenheit
des Wertfetischs, des alles durchdringenden und organisierenden
Moments der Warengesellschaft? Selbstorganisation und -planung - wofür?
Die Antwort scheint mir auf der Hand zu liegen: für die Befriedigung
der je eigenen Bedürfnisse.
Um die Bedürfnisbefriedigung geht es auch in der Warengesellschaft, nur
ist sie hier nicht »unmittelbar« möglich. Jede und jeder muss den Umweg
über das Geld nehmen, muss durch das Nadelöhr des Werts hindurch, nicht
in allen Bereichen der Gesellschaft, aber zunehmend in mehr. Auch in
einer freien Gesellschaft ist die Befriedigung nicht »unmittelbar«
möglich, da der oder die Einzelne nicht alles selbst herstellt oder
leicht an das Gewünschte heranreicht. Nur ist die »Vermittlung« in der
freien Gesellschaft nicht über ein Abstraktum organisiert, sondern über
den Kontakt zu anderen Menschen.
Ist es denkbar, zu beliebigen anderen Menschen zwecks
Bedürfnisbefriedigung Kontakt aufzunehmen? Manchmal schon, aber in der
Regel nicht. Das wäre viel zu aufwändig, und dafür ist die Gesellschaft
in ihrer Struktur viel zu differenziert. Eine Eigenschaft der (halbwegs
funktionierenden) Warengesellschaft hat also zu bleiben: die
personalunabhängige Verfügbarkeit von Mitteln zur
Bedürfnisbefriedigung. Habe ich in der Warengesellschaft aktuell und
zukünftig Geld in der Tasche, so kann ich selbstständig entscheiden, auf
Reichtümer zuzugreifen - dabei ausgeblendet, dass der Gesamtzustand der
Warengesellschaften auch für die Geldhabenden kein stabiler ist.
Das bedeutet für die freie Gesellschaft, dass Güter und Dienste
personalunabhängig verfügbar sein müssen - und das verbunden mit der
Gewissheit, dass das morgen und übermorgen auch noch so ist. Dann wäre
die Gesellschaft als Infrastruktur des je eigenen Lebens reich, stabil
und verlässlich. Ich müsste mir keine Gedanken machen, die benötigten
Reichtümer wären da und kämen mit wenig Aufwand zu mir. Ich stünde auch
nicht permanent unter Verabredungszwang, um mir diese Lebensqualität zu
organisieren. Zur Erinnerung: Basale Eigenschaft von Gesellschaften
ist, dass konkret ich nicht gezwungen bin, einen notwendigen
Beitrag zu erbringen - und sei es eine Verabredung.
Dieser Zusammenhang wurde von Klaus Holzkamp theoretisch
verallgemeinert. In der Gesellschaft gibt es kategorial »allgemeine
Nutzer« und »allgemeine Produzenten«. Durchschnittlich werden
diese »Rollen« wahrgenommen, aber eben nicht zwangsweise personal.
Kinder zum Beispiel sind zunächst nur »Nutzer« und entwickeln sich erst
nach und nach zu »Produzenten«. Es gibt Menschen, die gehen
darin auf, Dinge zu schaffen, andere wiederum darin, vorhandenen
Reichtum zu nutzen. Wieder andere machen mal dies und mal das.
Selbstentfaltung bedeutet, die je eigenen Möglichkeiten produktiv oder
nutzend oder produktiv-nutzend maximal zu entwickeln und individuell
auszubauen - unabhängig von der konkreten Tätigkeit.
Bedürfnisbefriedigung bedeutet also keinesfalls, bloß nutzender
»Konsument« zu sein und vorhandenen Reichtum geschleust durch die
Wertöse zu verschlingen - das ist die warenförmig pervertierte Form der
»Selbstverwirklichung«. Sondern es bedeutet, egal, ob als »Nutzer« oder
als »Produzent«, die je eigene Persönlichkeit maximal zu entfalten und
das Leben zu leben.
Also keine Zwangsverabredung. Verabreden werden wird natürlich, doch nur
durchschnittlich, nicht notwendig individuell bei jeder Handlung. Wie
aber entsteht trotzdem Reichtum, Stabilität und Verlässlichkeit? Das
Geheimnis liegt im selbstorganisierenden Kern, im »selbstreproduktiven
Mechanismus« der freien Gesellschaft. Dieser konstituiert sich nämlich
über die Selbstentfaltung des Menschen - sei es als »Nutzer« oder
als »Produzent«. Beides wird ohnehin nicht mehr voneinander zu
unterscheiden sein: Das eigene Nutzen eines Reichtums ist häufig
wiederum ein Produzieren für andere. Die These lautet also: Sind die
Menschen von der (Wert-)Leine gelassen, werden sie in ihrer Vielfalt all
jenen stofflichen und nichtstofflichen Reichtum schaffen, den eben
diese Menschen brauchen - stabil und verlässlich: Alles für alle.
--
Start here: www.meretz.de
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de