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Re: [ox] Weltliche Religion



Ich packe mal eine Erklärung in Termini der Koevolution daneben.

Jac wrote:
du willst von mir hören, daß die Gesellschaft dem Menschen voraus 
geht, nicht der Mensch der Gesellschaft. Diese Antwort kann ich Dir
nicht geben, da sie aufgrund meiner gesamten Erfahrung mit sehr
großer Wahrscheinlichkeit falsch ist.

Gesellschaft und Individuum sind in einem komplexen Entwicklungsprozess
verschränkt, der langwellige (Gesellschaft) und kurzwellige
(Individualentwicklung) "Spektralanteile" hat. Es gibt
Mehrskaleneffekte, die nicht aus der Betrachtung je einer der
Fouriertransformierten allein verstanden werden können.

Das Universum beginnt nicht mit der Geburt eines Kindes. Vielmehr
hat sich vor tausenden von Jahren eine nachhaltige Störung in die
Beziehung zwischen Menschen und ihren Kleinkindern in autoritären
Gesellschaften wie der unseren eingeschlichen. 

Die hat sich in einem langwelligen Prozess herausgebildet. Auf Grund der
Stabilität kann man nicht von einer Störung sprechen, weil nicht zu
sehen ist, dass sich das System von der Störung weg in Richtung eines
Attraktors bewegt.

Seit mindestens zwei Jahrtausenden wird diese Kommunikationsströrung
tradiert von einer Generation zur nächsten Generation weitergegeben.
Dies stellte schon S. Freud in seinen soziologischen Texten fest.

Freud stellt fest, dass dies unter gewissen kurzwelligen Aspekten
dysfunktional ist, kommt aber in keinem Punkt an eine Erklärung heran,
warum das Phänomen sich trotzdem so stabil reproduziert. Die Brücke zu
Marx schlägt er nie. Nicht mal im Ansatz. Ausführlich bei [Hoevels 83]
diskutiert.

Als wissenschaftlicher Ansatz vollkommen korrekt, als weltanschaulicher
zu kurz gesprungen.

Durch die Reproduktion dieser Störung entsteht der Eindruck, als
entstände sie jedes Mal aufs neue in der Erziehungssituation in autori-
tären Gesellschaften. 

Das ist bereits Interpretation, weil du den Effekt durch die Brille
"Störung" siehst und deshalb in keiner Weise analytisch an dessen
Stabilität rankommst.

Doch dieser Eindruck ist falsch, da ja die Er-
zieher selbst schon ehemalige Erzogene sind, die zurück in der histori-
schen  Generationenfolge von der jeweils vorhergehenden Generation
einer ähnlichen Erziehungssituation ausgesetzt wurden. 

Ja wie, trau ich nun meinen eigenen Beobachtungen oder nicht? Hier führt
eine Einzelbetrachtung des kurzwelligen Phänomens "Erziehung" ohne das
langwellige Phänomen "Erziehung der Erzieher" schlicht in die Irre, weil
es Handlungsspielräume suggeriert, die gar nicht existieren.

Schon in den
Texten des 18. Jahrhunderts und früher taucht der Begriff des tyran-
nischen Kindes auf, deren Willen zu brechen ist, um eine Identifikation
mit einer äußeren Ordnung durchzusetzen. Welche Werte je nach
Zeitalter vermittelt werden, ist zweitrangig, solange sich am Brechen
des kindlichen Willens, an einer eigenen Sicht seiner Gefühle und Be-
dürfnisse festzuhalten und sich nicht mit der Sicht anderer seiner
eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu identifizieren, immer die gleiche
bleibt.

Außerdem werden hier analytische und normative Argumentationen munter
durcheinander geworfen.

Die Störung führt zur Entwicklung von Persönlichkeiten, die ein Be-
dürfnis nach Führung durch äußere Werte, Ordnungsvorstellungen
und Ideologien entwickeln, ... 

Volkommen d'accord, außer mit dem Wort "Störung". Das ist einfach die
Wirkung der langwelligen "Spektralanteile" - die aber nicht konstant
sind, sondern selbst wieder eine Dynamik haben. Auch wenn die in den
kurzwelligen Phänomenen nicht zum Tragen zu kommen scheint.

Viele Grüße, HGG

-- 

  Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
  Augustusplatz, D-04109 Leipzig, Raum 5-53	
  tel. : +49 341 97 32248
  email: graebe informatik.uni-leipzig.de
  Home Page: http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe

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