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[ox] ox-en-Reflexionen; Digest für die Woche vom 12.11.-18.11. 2005



Motto: "Die Situation kann gar nicht falsch genug beurteilt werden."
(Roda Roda)


Mein heutiger Überblick beginnt mit einer Fangfrage von Stefan Merten;
man könnte auch - in Anlehnung an eine bevorzugte Ausdrucksweise von
Michael Bouwens - von einem Rätsel sprechen:

Warum liest man hier so wenig über Hemmnisse freier Produkte?
=============================================================

Die Frage stammt aus der seit längerem andauernden Debatte "Mutual
support...", deren Hauptthema ich in Anlehnung an Christoph Spehr mit
"reziprokem Austausch" übersetzen würde - wie sich weiter unten zeigen
könnte, dürfte allerdings die Lösung des Rätsels weder in reziprokem
Austausch bestehen, noch in der von Merten in freie Software
projizierten "Entgeldung" des abstrakten Tausches (oder geht es um die
"Vergeldung" der freien Software --- vielleicht ist es ja auch egal).

Merten geht noch einmal auf die Frage, die Franz Nahrada aufwarf, ein,
nämlich, wieviel Zeit freie Projekte brauchen - und haben:

FNahrada: "Laß mich zunächst sagen, daß in meinen Augen 'Verlangsamung'
aus Zeitmangel die Entwicklung nicht nur bremst, sondern real abwürgt."

SMerten: "Hm. Freie Software brauchte fast 10 Jahre, um abzuheben, und
wurde durch diese Langsamkeit nicht abgewürgt. Auch die Wikipedia
brauchte einige Zeit, um zu wachsen, und freie Wissenschaft steckt immer
noch in den Kinderschuhen.", um schließlich auf ein Kernproblem der
Aufgabenstellung, wie Franz sie seit längerem formuliert ("team up",
"speed up" etc.) einzugehen:
"Komplexe Situationen zu bewältigen, wenn die Leute selbst betroffen
sind, ist eine typische OHA-Frage.[..] Wir müssen noch besser verstehen,
wie diese OHA-Prozesse in freier Software funktionieren."

Mertens Argumentation mündet schließlich allerdings in ein weiteres Rätsel:

Man müsse dazu im realen Leben verankert sein, Autonomie bedeute
nämlich, jede Bindung an das reale Leben zu verlieren - was bei Michel
Bouwens Irritationen auslöst:

MBouwens: "Stefan, kannst Du auf diese heftige Aussage mal näher
eingehen? Ist nicht Autonomie-in-Unabhängigkeit das, was wir alle
wollen?? (statt heteronomer Entfremdung??)"


Autonome automatische Subjekte und automatische Fabriken
===============================================

In der Ausbeute der letzten Woche ist dies nicht die einzige
irritierende Bemerkung von Merten. Große Probleme hatte ich mit
folgendem Gedankengang (Eine gezielte Provokation? Thesen für das
nächste Parteiseminar?)

Die durch die freie Software geschaffenen Tatsachen seien nach Franz
Nahrada lediglich ein, wenn auch wichtiger, Teil des Bildes.

Merten hierzu: "Also, da Oekonux' Ausgangspunkt freie Software ist – und
nichts anderes -, müssen andere Teile des Bildes letzten Endes
kompatibel sein mit freier Software. Ich kann nicht sehen, wie
Bildelemente, die zu den Prinzipien der Produktion freier Software in
heftigem Widerspruch stehen, da eingefügt werden können. Meiner Meinung
nach muß hier eine begründete Integration erfolgen können, ansonsten
sind diese Bildelemente wohl Teil eines anderen, eigenständigen Bildes."

Es ist etwas befremdend, wie hier mit empirischen Befunden hantiert und
aus diesen eine Scheinwelt konstruiert wird. Nicht gerade sehr
vielversprechend, was Alternativen zum Bestehenden betrifft. Entweder
ist die Oekonux-Theoriearbeit bereits zum Dogma erstarrt - dann ist
meine frühere Wahrnehmung, "Oekonux sei abgehoben", noch sehr
nachsichtig - oder man sieht den Wald wieder einmal vor lauter freier
Software nicht. Sonst liest sich das für mich so: "Die Wirklichkeit muß
den Prinzipien der freien Software angepaßt werden." - dabei ist genau
das es, wogegen Merten eigentlich polemisieren will.

Aber weiter im Text:

FNahrada: "In deiner Vorstellung gibt es ausgedehnte automatische
Fabriken, in denen materielle Objekte zusammengesetzt werden, um diese
dann frei zu verteilen."

SMerten: "Abgesehen von der 'freien Verteilung' ist das nicht meine
Vorstellung, sondern sie wird ja [im Kapitalismus] mehr und mehr
realisiert [...].
Ob die dann ausgedehnt sind oder nicht, hängt m.E. davon ab, was im
gegebenen Produktionsprozeß sinnvoll ist." Heutige Fabriken seien
kapitalistisch, es gebe aber hinreichende technologische Gründe für
große Fabriken, und eine Reihe von Dingen könne ganz einfach nicht in
dezentralisierter Weise erzeugt werden, in jedem Haushalt oder in jeder
Gemeinde gar, ohne die Natur noch schneller zu zerstören.
"Regionalisierte Produktion kann sinnvoll sein für bestimmte Dinge, aber
zu sagen, diese sei schon das Endziel, ist für mich pure Ideologie. Ich
sehe keinen allgemeinen Grund, das zu probieren."

Das lasse ich erst einmal so stehen. Daß Merten auch ganz anders kann,
beweist er in der Peer2Peer-Debatte mit Bouwens, die für mich geeignet
sein könnte, die Oekonux-Theoriearbeit aus der Sackgasse, in der sie im
Moment offenbar steckt, herauszuholen:

Jenseits von Formalisierung, Institutionalisierung, Commodifizierung
==========================================================================
MBouwens: "Man kann in der Tat so argumentieren, daß P2P nur eine andere
Form von Institutionen ist, ein anderer institutioneller Rahmen im Sinne
eines sich selbsterhaltenden organisatorischen Formats. Und das wäre
korrekt: P2P-Prozesse sind nicht strukturlos, sie sind häufig jedoch
flexible Strukturen, welche intern generierte Regeln befolgen."

SMerten: "Ich dachte das schon so, aber dann hast Du es ja selber auch
gebracht. Ich bin mir nicht sicher, ob die Institutionen, welche wir
heute haben, nicht auch in einer GPL-Gesellschaft brauchbar wären. Sie
erfüllen bestimmte Zwecke, und diese Zwecke in ähnlicher Weise zu
institutionalisieren wie heute könnte Sinn haben. Ein wichtiger Punkt
ist allerdings natürlich dieser:"

MBouwens: "In früheren sozialen Formen lösten sich Institutionen von den
Funktionen und Zielen, denen sie gerecht zu werden hatten, sie wurden
'autonom'. Der Reihe nach: auf Grund der Klassenstruktur der
Gesellschaft; auf Grund der Notwendigkeit, Herrschaft aufrecht zu
erhalten; und wegen der 'Bürokratisierung' und dem Eigeninteresse der
institutionellen Führer wenden sich diese Institutionen 'gegen die
Gesellschaft' und sogar gegen die eigenen Funktionen und Ziele.
Derartige Institutionen wurden [selbst] ein Faktor der Entfremdung."

SMerten:
"Ich denke tatsächlich, daß Hoffnung besteht, daß in einer
GPL-Gesellschaft letzten Endes die wohlbekannten Typen der Entfremdung
einer praktischen Grundlage entbehren werden, so daß sie verschwinden,
aber ich bin mir nicht sicher, ob das immer der Fall sein wird."

MBouwens: "Es ist dieser Typ von Institutionalisierung, der potentiell
durch den P2P-Prozess überwunden wird. Die Zwischenschicht zwischen
Mitbestimmung und dem Resultat dieser Mitbestimmung ist dünner und eher
durch ein [technisches] Protokoll geprägt, als durch Hierarchien."

SMerten: "Das ist möglicherweise die Hauptfrage, welche heute unter
Umständen unmöglich zu beantworten ist."

Die letzte Bemerkung läßt in mir allerdings wieder Zweifel aufkeimen:
diese Frage zu beantworten, ist in der Tat unter Umständen mit den
Instrumenten der Oekonux-Theorie nicht ganz einfach; es gibt aber
mittlerweile Ansätze aus ganz verschiedenen Richtungen, die sich noch
nicht in eine "höhere, wirklichkeitsferne Sphäre der Erkenntnis
emporgedacht" haben, um noch einmal einen anderen Österreicher (Roda
Roda) zu zitieren.

Aber zurück zum Ausgangspunkt des heutigen Überblicks:


Des Rätsels Lösung
==================

MBouwens: "Ich bin aktuell nicht richtig vertraut mit Global Villages:
ist es nur ein Konzept, oder gibt es die wirklich? Irgendwelche
empfohlenen URL-s?"

FNahrada: "Global Villages (im Plural!) ist der Name der Vision eines
neuen menschlichen Lebensraumes – der virtuell alle Dienstleistungen und
Annehmlichkeiten der Städte bietet, während die rurale Lebensqualität
und die [...] überschaubare, humane Dimension nach wie vor bewahrt bleiben."


Und Michel Bouwens zum Thema reziproker Autausch vs. automatische Fabriken:

MBouwens: "Wie wäre es, die Debatte wie folgt zu betrachten:
Stefan beharrt auf einer nicht-reziproken Grundlage der Peer-Produktion
/DFS, und ich glaube, das ist korrekt, und daß das nur im Zusammenhang
mit unbegrenzt vorhandenen Ressourcen geht, daher kann es nicht zum
Prinzip werden für die Sphäre knapper Güter, also die materielle Sphäre
des Tauschs.
Franz besteht auf dem reziproken Modell, das eine Alternative zur
gegenwärtigen Form des Tausches darstellen würde, und seine Vision
könnte eine Verbesserung des existierenden sozialen Modells sein."

FNahrada: "Ich stimme dieser Ansicht teilweise zu, aber eine essentielle
Sache muß ich hinzufügen: wenn ich die Globalen Dörfer konzipiert denke
um einen freien, aber organisierten materiellen Ressourcenfluß herum, so
wie in einem Biotop, bedeutet das, daß Produzenten und Teilnehmer eines
humanen Ökosystems den Fluß und die Transformation der materiellen
Ressourcen planen.
Das bedeutet nicht notwendig direkte Reziprozität, das wäre ziemlich
primitiv und vom Standpunkt der Sicht eines Systems unbrauchbar; in
Ökosystemen sieht man normalerweise nicht viel Reziprozität. Es ist eher
eine Herausforderung an das Design der Wechselbeziehung menschlicher
Aktivitäten, so daß deren materielle Komponente gegenseitige Bestärkung
vermittelt.
Weder ist es Austausch, noch automatisierte unbegrenzte Verfügbarkeit;
es handelt sich um eine systemische Symbiose."

------

Bouwens brachte in dieser Woche auch eine sehr umfangreiche
Zitatensammlung zum Thema Alternativwährungen, mit der ich nicht viel
anfangen kann (abgesehen davon, daß damit die einschlägigen Begriffe auf
Englisch vorliegen, falls das jemand braucht). Ferner gibt es einen
Hinweis auf das von IBM initiierte "Open Invention Network" und noch
mehr zu den oben angerissenen Themen.

Rohfassungen und ausführlichere Texte stehen bald wieder in der "Mutter
aller Wikis".





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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



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