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[ox] Konferenzbericht Wien



Bericht von der Konferenz "Open Access to Digital Archives and the
Open Knowledge Society", Demkratiezentrum Wien, 21-22.10.2005
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Link zu den Materialien der Konferenz:
http://www.demokratiezentrum.org/dz2.php?Nav=main/network&Lang=de

Die *Konferenz* wurde veranstaltet vom Demokratiezentrum Wien,
http://www.demokratiezentrum.org, in Kooperation mit verschiedenen
akademischen Einrichtungen in Wien, und stand "im Rahmen des vom
Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF)
geförderten Projekts Creative Access". Bezugspunkt war die
Open-Access-Bewegung vor allem in den USA und die sich darauf
beziehende wissenschaftliche und öffentlich-politische Debatte über
den freien Zugang zu digitalem Wissen auch in Europa. "Die Debatte
bewegt sich zwischen einer Demokratisierung des Wissens aufgrund
neuer technischer Möglichkeiten und einer zunehmenden Ökonomisierung
von digitalen Gütern und strengen Copyrightbestimmungen."

*Spiritus rector* der Konferenz war Prof. Oliver Rathkolb, der im
politischen Umfeld der SPÖ und deren Bruno-Kreisky-Klubs aktiv ist.
Das erklärt vielleicht auch etwas die mich überraschende Tatsache,
dass mir bekannte einschlägige Wiener und österreichische Akteure
wie Franz Nahrada, Peter Fleissner oder Georg Pleger im
Konferenzprogramm keine Rolle spielten, obwohl zeitweise selbst
anwesend und solche Kontakte nahe liegend gewesen wären.

Die Konferenz fand in Räumen der *Wiener Stadtbibliothek* statt,
welche vor einigen Jahren bewusst in einem sozial prekären Stadteil
(Wiener Gürtel) gebaut wurde und auch selbst intensiv nach ihrem
Platz in der "digitalen Gesellschaft" sucht. Sie sieht sich dabei
nach den Worten ihres Direktors Alfred Pfoser in der Tradition der
großen angelsächsischen Bibliotheken ("learning makes the genius
bright") und bietet neben klassischen Tätigkeitsfeldern einer
Bibliothek auch Tagungsräume, Lernräume für (selbst) organisiertes
"blended learning" in Gruppen, etwa 20 kostenfreie Zugangsplätze ins
Internet, öffentliche Vorlesungen usw.

Pfoser formulierte zwei Leitsätze: "creating places and ways of
learning" und "being an agora for urban residents to gather and
communicate in a non-commercial area". Dabei sei zu berücksichtigen,
dass sich mit der fortschreitenden Digitalisierung auch
Prozessketten verändern und etwa Bücher nicht mehr das Ende einer
solchen Prozesskette, sondern den Anfang einer Diskurskette
markieren, die von Bibliotheken technisch und infrastrukturell
begleitet werden könnten. Dabei wird es zu einer neuen Aufteilung
von Aufgaben zwischen Online-Suchdiensten wie Google und lokalen
Bibliotheken kommen.

*Zentraler Bezugspunkt der Diskussion* waren weniger die
österreichischen Erfahrungen als neuere Entwicklungen im
US-amerikanischen Kontext wie "Science Commons" als
Weiterentwicklung/Spezialisierung von "Creative Commons" sowie der
OpenAccess-Kontext. Zu ersterem war John Wilbanks (executive
director of Science Commons und CreativeCommons-Botschafter) da, zu
zweiterem Michael Eisen eingeladen, der aber aus persönlichen
Gründen kurzfristig absagen musste.

Den für Michael Eisen (Biologe, http://rana.lbl.gov) vorgesehenen
Part zu *Open Access* übernahm deshalb O. Rathkolb, der M. Eisen's
OpenAccess-Credo "to accomplish for science publishing what Linux
set out to do for computing" näher ausführte. Es gibt auf diesem
Gebiet größere Fortschritte zu berichten über PLoS - die Public
Library of Sciences.  So hat sich der PLoS-Journal "PLoS Biology"
inzwischen unter den weltweiten Top-Journalen etabliert. Generell
haben diese online-Journale aber in einer eher konservativ
aufgestellten Wissenschaftler-Gemeinde mit Akzeptanzproblemen zu
kämpfen.  Für das PLoS-Projekt http://www.plos.org/about/board.html,
dessen Board Michael Eisen als Co-Founder angehört,
fließen jährlich 9 Mill $ aus einer privaten Stiftung.

In einem weiteren Vortrag von Andrey Rzhetzky (Bioinformatiker und
Phylogenetiker - Arbeitsgebiet Gensequenzierung) wurde deutlich,
welche Möglichkeiten sich aus einer computergestützten Verarbeitung
von im Volltext verfügbaren wissenschaftlichen Aufsätzen ergeben.
Während es heute für Wissenschaftler sehr schwierig geworden ist,
aus dem enorm gewachsenen Fluss von Information die für sie
relevanten Teile in einiger Vollständigkeit herauszufiltern und sich
anzueignen, könnte durch *automatische Scans* semantische Netze
generiert werden, in welchen wesentlich gezielter navigiert werden
könnte. Für einige Bereiche wie Chemie und Biologie wären solche
Techniken bereits auf den Aufsatz-Titeln hilfreich, um Zusammenhänge
zwischen neuen Substanzen und untersuchten Wirkungen deutlicher
aufzuzeigen. All das hat OpenAccess als Voraussetzung.

*John Wilbanks* (JW) stellte dann das Projekt "Science Commons" vor,
in welchem der Ansatz der CreativeCommons von dessen primärem Gebiet
des Umgangs mit Publikationen ausgeweitet werden soll auf Commons im
Bereich der Daten und auch im Bereich der Research Tools. Das ist
besonders für daten-getriebene Forschung wichtig, weil heute 50 %
der datengestützten Publikationen auf Grund fehlender
Zugangsmöglichkeiten zu den Rohdaten nicht nachgeprüft werden
können. Dabei sind die unterschiedlichen Einbindungen dieser beiden
neuen Gebiete in den Wissenschaftsprozess zu berücksichtigen.
Grundlegend ist aber für alle drei Bereiche, dass der
Wissenschaftsprozess dem Paradigma

      Drawing on shared knowledge -> Research ->
      Recontribution to shared knowledge

folgt. Als Mission formulierte JW "create an open, accessible common
for science".  Weiter berichtete JW von Fortschritten im Kernbereich
der CreativeCommons selbst: Zahl der CC-Seiten hat sich in 2004
vervierfacht, Mozilla hat einen CC-Suchbutton, der die Suche auf
CC-Inhalte beschränkt, Bethesda Statement on OpenAccess.

Im Bereich des Abwägens zwischen Verlags- und Wissenschaftinteressen
gibt es das "Science Commons Open Access Law Program", welches das
Interesse von Verlagen an zeitlich beschränkten exklusiven
Verfügungsrechten anerkennt, dies jedoch wissenschaftsverträglich
ausgestalten will.

Links: http://sciencecommons.org; JW kommt im März 2006 für einige
Zeit nach Deutschland (Treffen organisieren? In Berlin?)

*Peter Rantasa* (executive director of MICA = Music Information
Center Austria, Wien, und executive director der World Culture Forum
Alliance) sprach dann über OpenAccess im Bereich der Musik. Er wies
auf den generell dualen Charakter von Kulturgütern hin: die
Verpackung als Einheit der Kommodifizierung steht im Widerspruch zur
kulturellen Einbettung der Inhalte. Das IMC = International Music
Council (NGO) hat deshalb eine "Charta des Zugangs zu Musik als
Kulturgut und Bewahrung als Kulturerbe" erarbeitet. Den
WTO-Bemühungen, über TRIPS zu Verschärfungen der IPR zu kommen, wird
seitens der NGO und Staaten der 2. und 3. Welt die gerade
verabschiedete UNESCO Deklaration über Kulturgüter entgegengesetzt.
Es gibt einige Hoffnung, das auf dem WSIS 2005 (world summit on
information society) in Tunis zu thematisieren.

IPR sichert weniger die Investitionen in die Musik als die
Investitionen in das Marketing, um "den Markt zu fluten", womit
kulturelle Vielfalt unter Druck gerät. Starke Korrelation zwischen
Ländern mit hohem Anteil an lokaler Musik und hohem Anteil an
"Piraterie". Umsatzzahlen des Musik-Business erreichten Mitte der
90er Jahre ein Maximum bei etwa 40 Mrd $, heute etwa 30 Mrd $
weltweiter Umsatz. Hinweis auf Open Music Distribution mit eigener
Portalseite http://www.manymusics.org

In mehreren Vorträgen ging es um die großen Digitalisierungsprojekte
*Google Print* (http://print.google.com) und *Google Scolar*, die in
klarer Konfrontation zu sonstigen Entwicklungen in Richtung IPR
stehen. Es handelt sich dabei um eine Übereinkunft von Google mit
fünf großen anglo-amerikanischen Bibliotheken (Stanford Univ., Univ.
Michigan, Harvard Univ., Oxford's Bodleian Lib., New York Public
Library), deren Buchbestand vollständig zu digitalisieren und im
Rahmen der legalen Möglichkeiten online zugänglich zu machen.  David
Ferreiro (CEO der Research Libraries at the New York Public Library)
führte genauer aus, was diese "Google-ization of American Libraries"
bedeutet und wie sie läuft:

* Sept 2004, announcement of Google Print ("to discover books, not
  to read them" - Kopplung mit online-Verkaufsangeboten);
* Okt 2004, announcement of Google Scholar (full text digitization
  of all public domain material - 10 Mill items in den beteiligten
  Bibliotheken);
* Dez 2004, Google Library Project (Gemeinschaftsprojekt mit den
  genannten Bibliotheken, das die Digitalisierung tw. auch copyright
  geschützten Materials vorsieht, woran sich allerdings die NYPL
  nicht beteiligt; sie hat etwa 6 Mill Items im PD. Jede der beiden
  Seiten bekommt eine Digitalkopie zum weiteren Gebrauch)

Oliver Rathkolbs wies darauf hin, dass in Europa auf das Projekt
sehr zwiespältig reagiert wird, vor allem mit Blick auf den
(angeblich) hohen englischsprachigen Anteil (Äußerung Chiracs).
Ferreiro wies darauf hin, dass (1) das ein Anfang ist, und (2) nur
49 % des Materials englischsprachig sei (10% deutsch, 8%
französisch).  Überhaupt sei das Projekt stark von einem typisch
amerikanischen Machbarkeits-Ansatz bestimmt, wie er ihn vom MIT der
60er Jahre aus eigenem Erleben her kenne ("young bright people, no
one more than 40, that claim that they can do everything").

Inzwischen (Mai 2005) gibt es (1) weitere Interessenten, sich am
Projekt zu beteiligen, (2) eine Sammelklage von 8000 Autoren (mit
Texten in der Univ Mich) gegen Google, und zwar in New York, was als
besonders restriktiv in urheberrechtlichen Fragen bekannt ist. Aber
darauf ist Google vorbereitet durch (1) entsprechende
Rückstellungen, (2) bisherigen "fair use" des digitalisierten
Materials auf den eigenen Seiten.

Juristisch wurde "Google Print" auf der Konferenz von verschiedenen
Juristen gewürdigt, etwa Christian Recht (ÖNB=Österreichische
Nationalbibliothek).  Setzt auf dem Recht der Bibliotheken auf,
Kopien herstellen zu dürfen. Europa (Chirac) will mit eigenem
Digitalisierungsprojekt mitmischen, wozu es Konsultationen (Apr
2005) auf Staatschef-Ebene gab. 6 Staatschefs unterstützen die
Einrichtung einer "digitalen virtuellen Bibliothek". Sept 2005 bis
Jan 2006 sollen dazu weitere Konsultationen stattfinden mit dem
Ziel, das als E-Content-Plus-Projekt weiterzuführen,
http://www.eblida.org (EU bureau of library, information and
documentation associations)

Über ein weiteres großes Digitalisierungsprojekt berichtete Christa
Müller (ÖNB) - das Projekt ANNO = AustriaN Newspapers Online,
http://anno.onb.ac.at.  Hier sind (fast) alle Newspaper der ÖNB bis
1935 (als Kompromiss zu "70 Jahre nach dem Tod des Autors")
digitalisiert und nach Tagen und Titeln geordnet seitenweise
verfügbar.

*Rechtliche Fragen* spielten in verschiedenen Vorträgen eine
wichtige Rolle. A. Wiebe (lange U Hannover, jetzt U Wien) wies
insbesondere auf die Verschiedenheit nationaler Rechtssysteme hin.
Wilbanks (private comm.) räumte ein, dass CC in der Frage des
Herunterbrechens auf nationale Rechtssysteme noch nicht so weit
gekommen ist wie man hoffte. Insbesondere im deutschsprachigen Raum
geht es langsam voran. M. Nentwich (Österr. Akademie der Wiss.)
stellte eine Wissensbasis zu Copyright vor, http://www.kb-law.info,
http://www.oeaw.ac.at, die insbesondere bei Projekten des
OpenArchiving hilfreich sein kann, um die vielfältigen rechtlichen
Bestimmungen für unterschiedliche Medien zu überschauen.

Ein weiterer Komplex war dem Thema *Open Access* im ökonomischen
Spannungsfeld gewidmet. Die beiden Vorträge (F. Reckling vom
Österr. Wissenschaftsfonds - Berliner Erklärung - und M. Huter als
Mitglied des Österr. Verlegerverbands) kann ich nur aus den
Abstracts wiedergeben. Huter brachte die - sicher richtigen -
Argumente (1) Open Access ist aus Verlegersicht eher als
Geschäftsmodell denn als Philosophie oder gar Utopie zu behandeln
und (2) "it is wrong to reduce a highly complex situation to a
matter of moral questions". Insbesondere Fragen der Archivierung und
persistenten Zugänglichkeit können nicht Autoren allein bewältigen.
Reckling adressierte die Frage der "Berlin Declaration on Open
Access to Knowledge in the Sciences..."
(http://www.zim.mpg.de/openaccess-berlin/berlindeclaration.html),
warum "publicly funded basic research should freely be available via
Open Access", und wie diese durch entsprechende öffentliche
Finanzierungsgremien im Kontext beschränkter Verfügbarkeit von
Ressourcen durchgesetzt werden kann.  Wichtige Empfehlungen der DFG
gehen in folgende Richtungen:
* Vorteile des Open Access unter Forschern propagieren;
* Koordiniertes Vorgehen mit anderen Akteuren (HRK, Akademien,
  Ministerien);
* Gründung referierter Open Access Publikationen;
* Druck auf Verlage zur Zweitverwertung als Open Access
  Publikationen;
* Archivierung referierter Ergebnisse von Forschungsprojekten;
* Entwicklung einer Open Access Infrastruktur.

Mit freundlichen Grüßen, Hans-Gert Gräbe

-- 

  Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
  Augustusplatz, D-04109 Leipzig, Raum 5-53	
  tel. : [PHONE NUMBER REMOVED]
  email: graebe informatik.uni-leipzig.de
  Home Page: http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



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