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Re: [ox] Wissens- und/oder Informationsgesellschaft?



Hallo Stefan! 

Stefan Merten <smerten oekonux.de> schrieb:

Last week (7 days ago) El Casi wrote:

Stefan Merten (2005-08-15 18:46 [PHONE NUMBER REMOVED]):
Die unbewusste Körpersprache ist ja nur im Zusammenspiel mit
einer Gegenseite interessant, die in der Lage ist, diese
Sprache zu "lesen". 

Interessant vielleicht. Aber sie verschwindet nicht ohne
Kommunikationspartner.

Man muss meiner Meinung nach in der Tat zunächst unterscheiden, ob man von
BEWUSSTER oder von UNBEWUSSTER Körpersprache reden möchte:

Eine bewußte Körpersprache möchte etwas zum Ausdruck bringen, möchte einem
Beobachter etwas mitteilen (ob dies gelingt hängt natürlich ganz wesentlich
vom jeweiligen Rezipienten ab, also von dem, der die bewußte Körpersprache
sieht). Nur für diesen Fall würde ich von Kommunikation sprechen wollen.

Im zweiten Fall kann man m.E. schlicht nicht von Kommunikation sprechen. Denn
dieser Fall unterscheidet sich in nichts davon, dass jemand im Schlaf etwas
murmelt, und dies von einem Dritten gehört wird; oder von der Beobachtung
einer Spitzmaus bei der Nahrungssuche. In diesen Fällen kann ich zwar auch
etwas sehen/hören und das gesehene/gehörte dann interpretieren, aber eben ohne
dass ich das Gesamtereignis eine Kommunikation nennen kann. 

Kommunikation impliziert immer (1) einen Sender und einen Empfänger (beide
kann ja räumlich und zeitlich durchaus weit auseinander liegen), sowie (2)
Intentionalität auf Seiten des Senders (die ganz abstrakt gesagt darin
besteht, einem Rezipienten etwas mitzuteilen). Ob eine Kommunikation
erfolgreich ist, ist eine andere Frage. 

=> Kommunikation hat zwangsläufig mit Information bzw. einem
Informationsprozess zu tun. Umgekehrt gilt jedoch nicht, dass Information/ein
Informationsprozess zwangsläufig etwas mit Kommunikation zu tun haben muss.  

Ich will das nochmal ganz hier aufrollen, weil das wichtig ist. Soweit
ich es mir momentan zusammen reime halt.

Steine, Sterne und Kaffeesatz wechselwirken mit ihrer Umwelt. Diese
Wechselwirkungen sind messbar und damit sind aus ihnen Daten zu
gewinnen. Eine Sprache - so hatte ich mir das gemerkt - ist jetzt vor
allem ein Symbolsystem. Die Sprache verbindet ein Symbolsystem mit
bestimmten physikalischen Wechselwirkungen - z.B. Töne, Verteilungen
von Hell-Dunkel, Höhe einer elektrischen Spannung. Das nennen wir
Kodierung der Symbole. Der Träger der Symbole ist für mich erstmal ein
Datenträger, dessen spezifische Wechselwirkungen ermöglichen, die
kodierten Symbole wieder zu extrahieren.

Wenn du von einer VERBINDUNG von Symbolen mit einer ?bestimmten physikalischen
Wechselwirkungen - z.B. Töne, Verteilungen von Hell-Dunkel, Höhe einer
elektrischen Spannung? sprichst, meist du dann damit eine 2-stellige Struktur
aus Präsentem (d.h. sinnlich wahrnehmbaren) und dem durch das Präsente
Repräsentierte (der Bedeutung, dem geistigen Inhalt)?
In diesem Falle könnte man aber nicht davon sprechen, dass Datenträger Träger
von Symbolen sind, denn wie der Name schon sagt, enthalten Datenträger nur
Daten, die sich mit Hilfe bestimmter Algorithmen dann womöglich als Töne und
Verteilungen von Hell-Dunkel darstellen lassen ? was dann wiederum aber nur
dem sinnlich wahrnehmbaren Teil von Symbolen entsprechen würde... (denn im
täglichen Sprachgebrauch spricht man zwar von Symbolen, wenn man
beispielsweise so etwas: ?:-)? sieht, aber genau genommen handelt es sich
dabei eben nur um den sinnlich wahrnehmbaren Teil eines Symbols).
 
Der Unterschied zwischen Steinen, Sternen, Kaffeesatz und dem Menschen
ist jetzt, dass ich nicht davon ausgehe, dass erstere ein Symbolsystem
kodieren wollen / können.
Ein Mensch kann sich aber jederzeit des Symbolsystems bedienen und
jederzeit Symbole kodieren. Das ist komplett unabhängig davon, ob es
Teil einer Kommunikation ist oder nicht. Ein Tagebuch ist z.B. voller
kodierter Symbole, die aber im Allgemeinen niemensch zugänglich sein
sollen.

Gehen wir davon aus, dass Sprache nur dann vorliegt, wenn eine
Kommunikation stattfindet, dann wären wir gezwungen für
Selbstgespräche und Tagebucheinträge einen Begriff zu finden, der
nicht Sprache ist. 

Da wäre ich mir nicht so sicher. Früher trugen Tagebücher gerne mal den Titel
"Ad me ipsum" - "An mich selbst" (ich hoffe ich habe das aus dem Gedächtnis so
richtig wiedergegeben). Dies drückt meiner Meinung nach recht gut aus, um was
es dabei geht: Ein Tagebuch richtet sich nicht etwa an Niemanden (in diesem
Fall wäre dein Argument richtig), sondern es richtet sich an einen ganz
bestimmten Adressaten: An den Absender selbst. Damit wären wie wichtigsten
Kriterien einer Kommunikation durchaus erfüllt:
(1) Es gibt sowohl einen Sender als auch einen Empfänger (wenn auch in
Personalunion). (2) Auch das Kriterium der Intentionalität ist gegeben, da das
Schreiben eines Tagebuchs nie eine völlig zweckfreie Betätigung darstellt
(manchmal geht es darum, durch das Aufschreiben bestimmte Dinge für sich zu
klären bzw. zu verarbeiten,  meist aber darum, dass man das, was man erlebt,
denkt oder fühlt für sich selbst festhält bzw. ?konserviert? ? der Adressat
wäre in dem Fall dann sogar tatsächlich ?ein Anderer?, nämlich der, der man in
Zukunft einmal sein wird?)

Richtig. Alles, was nicht Rauschen ist, sind Wechselwirkungen,
aus denen durch Messung Daten erzeugt werden können.

Rauschen ist relativ.  Und zwar relativ bezüglich des Lauschers.

Ja. Wir sind hier letzlich wieder bei der Messung. Was dem einen sein
Rauschen ist der anderen sein Signal.

Wie kannst Du HG einen Vorwurf aus seinem Urteil des
"unverbindlichen Palavers" machen und dann sofort pauschal und
undifferenziert alle Wechselwirkungen, "aus denen durch Messung"
keine "Daten erzeugt werden können", zu Rauschen im Sinne der
Nicht-Wechselwirkung degradieren?

Das habe ich ja nicht gesagt, aber deine Präsisierung macht das
nochmal deutlicher: Eine Messung extrahiert aus einer Masse von
Wechselwirkung einen ganz bestimmten Typ von Wechselwirkung und
prästentiert das als Daten. Rauschen ist also relativ zur Messung.
Diese Relativität hatte mir bei HGG gefehlt.

Mit dieser Verwendung des Begriffs der Messung hab ich so meine Probleme, da
eine Messung immer bereits eine ganze Reihe menschlicher kognitiver Prozesse
impliziert bzw. voraussetzt.  

Wie du unten selbst sagst, ist auch Rauschen bereits Wechselwirkung. Denn auch
das Rauschen muss erst einmal als solches wahrgenommen werden können: So
sehen/hören manche Tiere beispielsweise dort etwas wo die menschliche
Wahrnehmung folgendes an das Gehirn meldet: Nichts. Also auch kein Rauschen. 

Nun eröffnet die Technik dem Menschen zweifellos die Chance, seine
WAHRNEHMUNGSMÖGLICHKEIT zu erweitern, um Ereignisse wahrnehmen zu können, die
für ihn sonst in der Form schlicht nicht wahrnehmbar wären. Ein eindrückliches
Beispiel hierfür wäre das CERN. Dort wird durch Technik in der Tat Rauschen
erzeugt, aufgenommen und festgehalten, das für uns Menschen ohne aufwändige
technische Sensorik gar nicht erst wahrnehmbar wäre. ABER die riesige Flut von
?Daten?, die aus technischen Messungen resultieren, stellen für uns zunächst
eben nichts anderes dar als Rauschen bzw. ein Meer aus Nullen und Einsen. Erst
durch eine aufwändige Aufbereitung dieser durch technische Sensoren gewonnenen
Daten, ihre Übersetzung in Symbole und deren Strukturierung wird aus dem
Rauschen etwas für den MENSCHEN verstehbares und potentiell sinnvolles, etwas
das der Mensch selbst weiterverarbeiten kann. Aber diese Aufbereitung
geschieht nie völlig ziellos, planlos und willkürlich, sondern ABDUKTIV. 

Abduktiv wäre im Grunde bereits die Messung selbst, mit der ich einem
?Rauschen? zu Leibe rücke. Denn erstens lässt sich einem Rauschen im
eigentlichen Sinne (also etwas für Menschen zunächst einmal diffusem
qualitätslosem)  ja streng genommen nicht zwangsläufig eine ganz bestimmte Art
der Messung zuordnen, und zweitens handelt es sich bei Messungen selbst
bereits um zweckgerichtete und sinnbeladene Konzepte. Die Tatsache, dass eine
BESTIMMTE ART der Messung vorgenommen wird, impliziert also im Normalfall bereits
(I) eine Fülle von Annahmen in Bezug darauf, was man hinter bzw. in dem
Rauschen vermutet, sowie
(II) eine Fülle von Annahmen in Bezug darauf, wie bestimmte Dinge aus dem
Rauschen herausgefiltert werden könnten, die für uns dann Sinn ergeben können,
denen wir daher eine Bedeutung beimessen können? 
?und zwar unabhängig davon, ob sich die Annahmen durch die Messung dann als
richtig/sinnvoll erweisen oder nicht.

(btw.: Selbst dann, wenn die Entität/das Phänomen, dem mit einer Messung zu
Leibe gerückt werden soll, etwas uns bekanntes ist - zum Beispiel ?Wasser? -,
 setzt jede Messung abduktive Prozesse voraus: Was wollen wir denn messen?
Temperatur? Gewicht? Die Ionisierung? Kontaminierung (falls ja: Kontaminierung
durch was?)? Nun, das kommt eben darauf an, was wir mit der Messung bezwecken
wollen. Für den Zweck ist jedoch SINN konstitutiv? In Anspielung auf das, was
du in einer früheren Mail geschrieben hast, könnte man also sagen: Eine
Messung ist bereits Ausdruck einer Entscheidung; eine Entscheidung geht daher
zwingend jeder Messung voraus).

Weiter: Rauschen ist nicht Nicht-Wechselwirkung. Rauschen ist sehr
wohl Wechselwirkung - sonst gäbe es gar nichts, worüber wir sprechen
könnten. Aber - mit dem frisch geschärften Begriffsinstrumentarium -
es ist eine Klasse von Wechselwirkung, die bei einer bestimmten
Messung gerade nicht interessiert.

Langer Rede kurzer Sinn: Um ein wirklich geschärftes Begriffsinstrumentarium
zu erhalten, würde ich folgendermaßen präzisieren wollen:

Rauschen ist relativ zur Messung und Messung ist relativ zu menschlichen
kognitiven Prozessen (und damit relativ zu Wissen).

-- 
Stephan Eissler
Institut für Politikwissenschaft
Lehrstuhl für politische Wirtschaftslehre
Melanchtonstraße 36
72074 Tübingen
Telefon 07071-309124
www.wissen-schaft.org
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



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