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[ox] Grosse Systeme, OHA, Selbstentfaltung



Hi again!

Wie angekündigt hier ein Zitat von Rainer Fischbach
[http://www.freitag.de/2004/29/04290701.php], dass ich sehr
interessant finde.

  Von der Aufgabe, komplexe Systeme zu steuern, in großen
  Organisationen zu arbeiten, sie politisch und ökologisch zu zähmen
  und vor allem Entscheidungen über gigantische Investitionen zu
  treffen, befreit uns kein absehbarer technischer Fortschritt; zumal
  wir in jedem Fall mit einer Erbschaft von komplexen Systemen werden
  leben müssen, die man nicht einfach abschalten kann.

Ich würde zwar "Investitionen" durch "weitreichende Folgen" ersetzen,
aber ansonsten ist dem uneingeschränkt zuzustimmen. Genau deswegen
finde ich die OHA-Frage so wichtig, die letztlich auf genau diesen
Fragenkomplex zielt.

Ich erlaube mir im Folgenden mal, ein bisschen auf diesem Gebiet umher
zu schweifen. Nicht sehr sortiert, aber vielleicht ein Beitrag dazu,
die Fragen mal anzureißen. Na, zum Schluss komme ich sogar zu ein paar
Ergebnissen.

Ein Stichwort hier sind die "großen Systeme". Was sind eigentlich
große Systeme? Spontan würde mir einfallen: Große Systeme sind für
Einzelpersonen nicht mehr vollständig in allen Details verstehbar
und/oder handhabbar. M.a.W.: Sie sind sehr komplex und benötigen
Aktivität mehrerer bis vieler Personen.

Dieses Merkmal verweist darauf, dass zur Beherrschung eines solchen
großen Systems viele Leute notwendig sind. Auf Grund der Komplexität
müssen diese Leute spezialisiert sein. Wenn alle ihr Spezialwissen
geeignet einbringen, wenn sie ihre Arbeitskraft geeignet einsetzen,
dann wird das komplexe System beherrschbar.

Darin liegt zum Einen ein Verweis auf Kommunikation: "geeignet
einbringen". Kommunikation ist eine Grundvoraussetzung für solcherlei
geeignetes Einbringen. Gute Kommunikation führt zu besseren
Ergebnissen. D.h. hohe Qualität hat etwas mit guter Kommunikation zu
tun. Selbstredend hat hohe Qualität auch etwas mit hoher fachlicher
Kompetenz zu tun.

Darin liegt weiter, dass das komplexe System beherrscht werden soll.
M.a.W.: Das große System soll ganz bestimmte Wirkungen haben und
andererseits sollen andere, mögliche Wirkungen des großen Systems
vermieden werden. Es handelt sich also um eine Zwecksetzung, die einen
bestimmten Nutzen zur Folge haben soll.

An dieser Stelle springt mir natürlich sofort das OHA-System in den
Kopf. Verstehe ich Regeln als Kern von OHA-Systemen, so sind die
Regeln dazu da, einen bestimmten Zweck zu erreichen. OHA-Systeme für
große Systeme sind also dazu da, den mit dem großen System verfolgten
Zweck zu erreichen, den erwünschten Nutzen aus dem großen System zu
ziehen.

Das "geeignete Einbringen" von Spezialwissen und Arbeitskraft ist dann
Gegenstand dieses OHA-Systems: Es gibt Regeln an, die sagen wer was
wann tun sollte. Die Regeln verstehe ich dabei als einen je
vorläufigen besten Erkenntnisstand. Sie leiten sich also aus dem
Nutzen ab, der mit dem großen System erreicht werden soll.

Emanzipatorisch betrachtet wäre zu fragen: Wer setzt die Zwecke? Hier
kommen mir scheinbar drei Personengruppen in Frage:

* Die, die das große System betreiben.

* Die, die den Nutzen aus dem großen System ziehen.

* Die, die unter unerwünschten Wirkungen des großen Systems leiden.

Der Idealfall ist erreicht, wenn alle drei Personengruppen zu einem
Konsens kommen. Hier setzt normalerweise die Mega-Skepsis ein. Na,
schauen wir mal.

Jetzt denke ich das mal in (Doppelt) Freier Software.

Als die, die das große System betreiben, würde ich z.B. mal die
Kernel-EntwicklerInnen sehen - es geht mir in dieser Betrachtung mehr
um den Entwicklungsprozess. Hier haben wir Leute mit Spezialwissen,
die ihren Beitrag zum gemeinsamen Werk leisten. Da sie bei Doppelt
Freier Software dies nicht auf Grund eines äußeren Zwanges tun, tun
sie es freiwillig.

Es kann also davon ausgegangen werden, dass die gerde Aktiven dem
OHA-System, das ja auch ihre Tätigkeit reguliert, zustimmen. Das heißt
konkret so relativ banale Sachen wie Vermeidung von Bugs oder
Einhalten von Schnittstellen. Für die (zahlreichen)
Nicht-TechnikerInnen: Auch letzteres ergibt sich durchaus nicht immer
automatisch. Das Einhalten von Schnittstellen ist durchaus schon mal
ein Durchsetzungsprozess, wo das OHA-System deutlich spürbar wird.

Hier scheint auch schon ein Stück Entfremdungspotential auf:
Diejenigen, die sich z.B. an eine Schnittstelle halten sollen, sind
oft nicht identisch mit denen, die die Schnittstelle erfunden haben.
Was den ErfinderInnen der Schnittstelle gut und richtig erscheint,
muss nicht allen gut und richtig erscheinen. Häufig sind solche Regeln
aus iterativen Erfahrungsprozessen gewonnen. Hier scheint der "je
vorläufige beste Erkenntnisstand" durch, den ich oben erwähnt hatte.
Kritik hat hier also einerseits ihren Raum, andererseits ist nicht
gegeben, dass sie sich durchsetzt. Mir scheint, dass es sich hier um
ein Konfliktfeld handelt, dass letztlich nicht objektiv auflösbar ist,
sondern wo Vertrauen ins Spiel kommt.

Die, die den Nutzen aus dem großen System Linux-Kernel ziehen, sind
die AnwenderInnen. Diese kommen bei Doppelt Freier Software als
Personen vor, die Verbesserungsvorschläge machen, deren Erfüllung
ihnen die Arbeit erleichtert.

An dieser Stelle wird gerne gefordert, dass die AnwenderInnen /
NutzerInnen die EntwicklerInnen / ProduzentInnen irgendwie zwingen
können müssten. Bei Einfach Freier Software ist das der Fall: Die
AuftraggeberIn - d.h. AnwenderIn in spe - kann per strukturellem Zwang
(aka Geld) ihre Vorstellungen durchdrücken. Aus emanzipatorischer
Sicht habe ich hier ein zentrales Problem: Hier kommt für die
EntwicklerInnen Zwang rein, der von ihrer Tätigkeit zunächst einmal
entfremdet ist. Dieser Entfremdungsprozess - sei es
Marketing-Abteilung oder AuftraggeberIn - kommt bei den
EntwicklerInnen dann als "Die spinnen!" an. Nun mag sich jedeR
ausmalen, welchen Einfluss das auf die Qualität des Produkts hat...

Unter welchen Bedingungen, frage ich mich gerade, kann so eine
Situation eigentlich entstehen? Doch nur, wenn es für die Tätigkeit
möglich ist, unter Zwangsbedingungen ausgeführt zu werden. Es wäre
also ein Weg aus der Zwingbarkeit, die innere Logik einer Tätigkeit so
zu gestalten, dass sie tendenziell nicht unter Zwangsbedingungen
ausgeführt werden kann. Kreative Prozesse wie z.B.
Software-Entwicklung unterliegen tendenziell dieser inneren Logik: Ich
kann niemensch zwingen, kreativ zu sein. Das Beste was ich tun kann,
ist ein Umfeld schaffen, in dem Kreativität gedeiht. M.a.W.: Die
Selbstentfaltung der anderen Person in Form kreativer Tätigkeit wird
zu meinem konkreten eigenen Interesse.

Baue ich dieses Bild zu Ende, so habe ich als NutzerIn eines Guts also
das Interesse, den ProduzentInnen ein angenehmes Ambiente zu schaffen.
Aus dem Zwang, bestimmte Dinge für mich zu tun, wird ein Kümmern um
den Anderen, an den ich einen Wunsch habe. Dies bezieht sich
tendenziell sogar auf deren Ganzheit und beschränkt sich nicht auf
einzelne Aktivitäten.

Kleines Beispiel dafür: Nerve Freie EntwicklerInnen nicht mit
demonstrativer Unwissenheit und Desinteressiertheit. Zeige, dass du
dich wenigstens bemüht hast, eine Lösung für dein Problem zu finden.

Die Trennung voneinander unabhängiger ProduzentInnen, die sich im
Kapitalismus nur auf dem Markt begegnen wird in diesem Bild
fundamental umgekehrt. Die Selbstentfaltung aller als Voraussetzung
meiner eigenen Selbstentfaltung und umgekehrt gewinnt so Kontur.

Bleibt die Frage, was mit denen ist, die unter den unerwünschten
Wirkungen eines großen Systems leiden. Da fällt mir bei Freier
Software erstmal nicht so viel ein. Na ja, vielleicht proprietäre
Software-HerstellerInnen vielleicht. Hier scheint Konflikt erstmal
programmiert, aber wenn ich die eben versuchte Formel anwende, dann
löst sich auch das tendenziell auf: Wenn ich am Wohlergehen Anderer
interessiert bin, dann bin ich auch am Wohlergehen zumindest der
Menschen eines proprietären Software-Herstellers interessiert. So
fügen sich deren Probleme in meine ein.

Was ist dann mit den OHA-Systemen? Es läge in meinem Interesse anderer
Leute OHA-Systeme erstmal anzuerkennen - da davon auszugehen ist, dass
es für sie richtig ist. Sollten sie meine Selbstentfaltung direkt
behindern, so läge es im Interesse der NutzerInnen des OHA-Systems,
dies abzustellen. Das gilt auch unabhängig davon, ob es sich um ein
großes oder ein kleines System handelt.

Hört sich nach Harmoniesoße an? Nein ganz und gar nicht. Es geht hier
vielmehr um knallharte Interessen. Aber eben gedacht unter
Bedingungen, wo Kooperation - innerhalb eines Bereichs aber auch
zwischen den Bereichen - allen nutzt. Wo nicht mehr die Zwangskeule
geschwungen werden muss, sondern Menschen aus eigenem Antrieb heraus
Dinge tun - weil es Teil ihrer Selbstentfaltung ist. Es drängt sich
mir ja auf, dieses Modell "Freie Kooperation" zu taufen - Frei im
Sinne Freier Software. Na gut, schon belegt ;-) .

Insofern ist die Frage, ob eine Gesamtgesellschaft unter Bedingungen
der Selbstentfaltung möglich ist, so zu beantworten: Eine
Gesamtgesellschaft, die auf dem erreichten Stand der
Produktivkraftentwicklung aufsetzt, *darf* keine Zwangselemente
enthalten, da die Zwangselemente das Funktionieren der Gesellschaft
fundamental in Frage stellen.

Oh je, jetzt bin ich aber wirklich weit geschwiffen ;-) . Sicher
liegen auch einige, na sogar viele Fäden einfach so unverbunden rum.
Na, ich hatte euch gewarnt :-) . Immerhin habe ich das Subject noch
angepasst.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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