[ox] Änderung des Debian Social Contract
- From: Stefan Meretz <stefan.meretz hbv.org>
- Date: Fri, 4 Jun 2004 14:35:39 +0200
Ein Auszug aus "Brave GNU World" von Georg Greve:
http://www.linux-magazin.de/Artikel/ausgabe/2004/07/gnu/gnu.html
(...)
Debian Social Contract
Ein Thema, das noch mehr als die Java-Problematik von politischer Natur
ist, ist die Änderung des Debian-Projekts an seinem Gesellschaftsvertrag
([8] und[9]). Die Änderung hat gravierende Probleme nach sich gezogen
(siehe auch "Projekteküche" in diesem Heft). Die Diskussionen darüber
haben sich allerdings immer nur um die Verzögerung der nächsten
Debian-Release gedreht. Dabei gibt es eine viel wichtigere Fragestellung,
die dieser Änderung zugrunde liegt, aber nie in der breiten
Öffentlichkeit diskutiert wurde.
Der ursprüngliche Gesellschaftsvertrag sprach von "Software" und der
Begriff war eindeutig in Bezug auf ausführbare Programme zu verstehen.
Der neue Vertrag jedoch ersetzt ausdrücklich den Begriff "Software" durch
"Werke", über deren Akzeptanz als freie Werke die Debian Free Software
Guidelines entscheiden sollen. Auf den Mailinglisten haben die
Debian-Entwickler im Vorfeld viel über die anstehende Änderung
diskutiert. Begründung für diesen Schritt war die Unstimmigkeit innerhalb
von Debian über die Bedeutung des Begriffs Software, die nun durch
Verzicht auf den Begriff beigelegt werden soll.
Die Terminologie-Diskussion war in vielerlei Hinsicht ein Hilfsmittel, um
zu erreichen, dass die Debian Free Software Guidelines für alle Inhalte
innerhalb der Debian-Distribution gelten sollten - ein Ziel, das die
Befürworter mit der Änderung erreicht haben.
Auslöser der Debatte war die Diskussion um die GNU Free Documentation
License (GFDL). Die Debian-Entwickler waren sich lange Zeit nicht sicher,
ob sie frei sei oder nicht. Wie bereits in vorherigen Ausgaben der Brave
GNU World erläutert, gibt es durchaus berechtigte Einwände, die zu der
Bewertung "ungeeignet" führen könnten, doch schießt die Bezeichnung
"unfrei" meiner Ansicht nach deutlich über das Ziel hinaus. Ich sollte
allerdings zugeben, dass sowohl Debian als auch die Free Software
Foundation an der Aufheizung der Debatte nicht ganz unschuldig sind.
Was ist Software?
Eine zentrale Fragestellung bei diesem Problem ist: Was ist Software? Die
Mehrheitsmeinung scheint ganz klar in die Richtung zu gehen, dass
Software alle ausführbaren Programme auf einem Computer sind. Doch
innerhalb von Debian - und vermutlich nicht nur dort - gibt es einige
Entwickler, die eine andere Ansicht vertreten. Für sie ist Software alles
innerhalb eines Computers. Der Begriff Software bezieht sich nach ihrer
Meinung also auf alles, was digitalisiert ist, inklusive Dokumentation,
Firmware, Bilder und Musik.
Die Debian-Entwickler berufen sich dabei oft auf die Definition des
Statistikers und Amateurlinguisten John Tukey[10], der 1958 im "American
Mathematical Monthly" den Begriff "Software" in Bezug auf die Programme
eines elektronischen Taschenrechners erfand und sie dabei von der
"Hardware" abgrenzte. Hardware ist nach Tukeys Definition alles, was mit
"Röhren, Transistoren, Kabeln, Bändern und Ähnlichem" in Verbindung
steht.
Debian sagt: Alles ist Software
Da John Tukey im Jahr 2000 85-jährig starb, ist es leider nicht mehr
möglich, ihn zu fragen, ob er bereits 1958 davon ausging, dass sich
heutzutage ganze Bücher, Filme und andere "Werke" innerhalb eines
Computers befinden würden und ob er diese auch als "Software" bezeichnen
würde.
Insofern sprechen die Indizien dafür, dass Tukey in seiner Definition von
Software an das dachte, was sich 1958 innerhalb seiner Hardware befand:
Programme. Auf dieser Interpretation scheint auch der Wikipedia-Eintrag
zu Software[11] zu beruhen. Und wer Künstlern, Autoren oder Juristen die
Frage stellt, ob sie Bilder, Musikstücke oder Bücher als Software sehen,
wird meist eher verwunderte Blicke ernten.
Nun haben die Debian-Entwickler innerhalb des Gesellschaftsvertrags den
Begriff "Software" gegen "Werke" ausgetauscht, um diese Diskussion
endlich zu beenden und eine klare Handhabe zur Anwendung der Debian Free
Software Guidelines zu schaffen. Unglücklicherweise ist das Ergebnis, das
aus dieser Diskussion hervorging, unbefriedigend.
[http://www.linux-magazin.de/Artikel/ausgabe/2004/07/gnu/abb3.jpg
Abbildung 3: Der Wikipedia-Eintrag zum Begriff "Software". Diese
Definition ist eindeutig und lässt sich nur auf ausführbare Programme
anwenden. Das Debian-Projekt ist allerdings anderer Meinung.]
Derselbe Fehler, nur umgekehrt
Denn zum einen haben die Verantwortlichen die Richtlinien nicht in Debian
Free Works Guidelines umbenannt, sondern sie behaupten jetzt, dass auch
andere Werke Software seien, da die Debian Free Software Guidelines nun
eindeutig für diese gelten. Und zum anderen war die Änderung von Software
zu Works ein so genannter Editorial Change, eine redaktionelle Änderung
also, die lediglich der Klarstellung dienen soll. Das Ersetzen von
Software durch Werke stellt für die Entwickler daher keine inhaltliche
Änderung dar. Mit anderen Worten: Die Begriffe sind angeblich Synonyme.
Tatsächlich beinhaltet der allgemeine Begriff Werke jedoch auch
nicht-digitale Gegenstände. Drastisch ausgedrückt: Debian erklärt mit der
Änderung auch die Sixtinische Kapelle zu Software. Und da es sich nach
Bekunden von Debian nicht um eine inhaltliche Änderung handelt, ist die
Schlussfolgerung, dass das schon immer die Auffassung des Projekts
gewesen wäre.
Das sind die impliziten Aussagen, die diese kürzliche Änderung des
Gesellschaftsvertrags macht und die eine breite Mehrheit innerhalb von
Debian fanden. Um einem Teil der Entwickler kein Unrecht zu tun, weise
ich hier jedoch darauf hin, dass einige Debian-Entwickler in persönlichen
Gesprächen zu dieser Änderung großes Erstaunen über deren Bedeutung
bekundet haben.
Die Frage nach der minimalen oder angemessenen Freiheit für digitale
Werke, die nicht Programme sind, wurde meines Wissens noch nie ernsthaft
diskutiert. Somit steht es noch aus, eine Lösung des Problems zu finden.
Debian nimmt die Antwort auf diese Frage vorweg und unternimmt offenbar
den Versuch, die für Software festgestellten minimal notwendigen
Freiheiten im Umkehrschluss auf alle anderen digitalen Werke zu
übertragen. Das Übergreifen in den realen Raum war vermutlich nicht
beabsichtigt. Doch ob eine solche Übertragung sinnvoll oder
gerechtfertigt ist, bleibt zu klären.
Trügerischer Schluss
Im Rahmen dieser Klärung taucht schon bald der Begriff des geistigen
Eigentums auf, den ich aus zwei Gründen ablehne. Erstens ist er in hohem
Maße dogmatisiert und suggestiv. Der Begriff Eigentum ist vordergründig
einleuchtend. Er schmeichelt der individuellen Eitelkeit, da er
weismacht, man selbst habe eine bestimmte Idee gehabt, die andere mangels
Genialität nicht hatten. Und diese Idee sei ausschließlich dem Kopf des
Eigentümers entsprungen, nicht etwa aus dem Dialog mit anderen.
Zweitens suggeriert der Begriff die physikalische Begrenztheit eines
Gutes, was es notwendig machen würde, die Verteilung dieses Gutes zu
kontrollieren. Dabei übersehen diejenigen, die den Begriff geistiges
Eigentum nutzen, dass die Idee, einen Gedanken zu besitzen, überhaupt
keinen Sinn hat. Besitzen lässt sich ein Gedanke nur, solange er nicht
irgendwo manifestiert ist. Spricht man ihn aus, hat naturgemäß niemand
die Kontrolle darüber, was mit ihm in den Köpfen der anderen geschieht.
Doch es gibt noch ein weiteres Problem mit dem Begriff. Er wirft
unterschiedliche Dinge in einen Topf: Copyright und Urheberrecht,
Markenrecht und Patentrecht. Dabei ist selbst das Urheberrecht schon zu
allgemein gefasst, denn es ist nicht ersichtlich, warum die Anleitung
einer Waschmaschine dieselbe Behandlung erfahren muss wie das neue Buch
von John Grisham.
Von dieser Gleichmacherei ist auch Software betroffen, deren
Proprietarisierung wesentlich mit der Einstufung als literarisches Werk
zusammenhängt. Wer sich weitere Gedanken über das Thema machen möchte,
findet bei[12] Anhaltspunkte. Jetzt die Freiheiten freier Software wieder
auf alle anderen Werke zurückübertragen mag verlockend sein. Doch nach
meiner Einschätzung lässt sich Gleichmacherei in der einen Richtung nicht
durch Gleichmacherei in der anderen Richtung beheben.
Alternativen
Was wir brauchen, ist ein Dialog, in dem wir eine sinnvolle
Differenzierung finden. Für diese dann genau bestimmten Gebiete ist es
nötig, die gesellschaftlich notwendigen minimalen Freiheiten zu erkennen
und zu verstehen. Bei Debian hätte es durchaus Alternativen zur Anwendung
der Debian Free Software Guidelines auf sämtliche Werke gegeben. Mein
Vorschlag war, dem Debian-Dokumentationsteam mehr Befugnis zu geben. Das
Team sollte entscheiden können, welche Dokumentation ausreichend frei
ist, damit Benutzer die Freiheit der von Debian ausgelieferten Software
wahrnehmen können.
Es wäre auch möglich gewesen, eine Diskussion über die minimal notwendigen
Freiheiten für technische Dokumentation zu führen. Sie hätte vermutlich
relativ bald zu einem Ergebnis geführt. Auf Basis dieser Diskussion hätte
Debian dann die Debian Free Documentation Guidelines erstellt. Leider
scheint die Chance zu diesem Dialog vorerst vertan.
Praktische Auswirkungen
Die praktischen Auswirkungen auf Debian sind fatal. Zunächst wird sich die
Release der nächsten Stable-Version drastisch verzögern. Viel schlimmer
ist allerdings, dass in künftigen Versionen ein großer Teil der
notwendigen Dokumentation fehlen wird.
Zusätzlich gibt es noch einen weiteren Aspekt, den ich bisher nirgends
erwähnt fand: Unklar ist nicht nur der Status von Dokumentation, sondern
auch von Grafiken und Logos der einzelnen Programme. Der Linux-Pinguin
scheint unter einer Lizenz mit Advertising-Klausel zu stehen[13] und kein
Problem aufzuwerfen. Doch beim Apache-Logo ist die Lage schon weniger
klar. Es ist nicht sicher, ob Anwender das Apache-Logo in originaler oder
veränderter Form für kommerzielle oder nicht kommerzielle Zwecke
einsetzen dürfen.
Angesichts der verschiedenen Marken ist es wahrscheinlich, dass bestimmte
Grafiken und Begriffe unter Lizenzen stehen, die eine Verwendung nicht
ohne jede Einschränkung erlauben. Es gibt sogar eine Debian-Trademark,
für die bisher keine Lizenz existiert.
Zwar sind die hier dargestellten Probleme überspitzt dargestellt, doch die
Querelen um die GFDL haben gezeigt, dass es nicht abwegig ist, sich
darüber Gedanken zu machen. Sollte tatsächlich jemand mit demselben Eifer
die Grafiken in Debian prüfen, wie es die Entwickler mit der GFDL gemacht
haben, könnten die Auswirkungen dieser Vertragsänderung noch weiter
reichen. Realistischerweise muss jetzt zumindest jeder Debian-Maintainer
seine Pakete noch einmal mit Blick auf Dokumentation, Grafiken,
Sound-Schnipsel und sonstige möglicherweise urheberrechtlich relevanten
Anteile durchforsten.
[http://www.linux-magazin.de/Artikel/ausgabe/2004/07/gnu/abb4.jpg
Abbildung 4: Durch die Änderung des Debian-Gesellschaftsvertrags könnten
auch bestimmte Logos und Grafiken aus Debian rausfliegen. Larry Ewings
Pinguin Tux ist von diesem Problem zum Glück nicht betroffen.]
Fazit der Änderung
Die Diskussion um die Frage, was Software ist, hat durchaus das Potenzial,
um neue Fragen aufzuwerfen. Sie ist mehr als eine unnötige Störung. Und
die Verwendung des Wortes Software im Gesellschaftsvertrag war mehr als
Schlampigkeit, die es zu beheben galt. Die Debian-Entwickler haben
unabsichtlich eine Inselsituation geschaffen, bei der bestimmte
juristisch relevante Begriffe innerhalb des Projekts eine andere
Bedeutung haben als außerhalb.
Es ist allerdings die Frage, ob und auf welche Art eine solche Situation
Debian fördert oder eher in Gefahr bringt. Unabhängig davon sollte eine
derartige Inselposition immer nur bewusst eingenommen und kommuniziert
werden. Sonst besteht die Gefahr, dass Missverständnisse aufkommen.
Daher wäre es nun konsequent und erstrebenswert von Debian, diese durch
Änderung des Gesellschaftsvertrags implizit eingenommene Position auch
explizit und öffentlich entsprechend zu dokumentieren. Zumindest bietet
dies ein relativ taugliches Beispiel dafür, dass Diskussionen um
Terminologie oberflächlich betrachtet auch nur oberflächlich sind. Bei
näherer Betrachtung eröffnet sich erst die ganze Tragweite.
Auch wenn ich mir sicher bin, dass meine Freunde bei Debian mich richtig
verstehen, möchte ich denen, die mich nicht persönlich kennen,
versichern, dass ich die Arbeit des Debian-Projekts und die Arbeit der
Entwickler für die Freiheit sehr zu schätzen weiß. Die obigen
Ausführungen sind ausschließlich als konstruktiver Beitrag zu einer
interessanten Diskussion zu werten, auch wenn meine persönliche Meinung
momentan von einer Portion Skepsis in Bezug auf die Änderungen des
Gesellschaftsvertrags geprägt ist.
(...)
[8] Debian Social Contract Tally Sheet:
[http://master.debian.org/~srivasta/gr_editorial_tally.txt]
[9] Debian Social Contract: [http://www.de.debian.org/social_contract]
[10] Wikipedia-Eintrag zu John Tukey:
[http://en.wikipedia.org/wiki/John_W._Tukey]
[11] Wikipedia-Eintrag zu Software:
[http://de.wikipedia.org/wiki/Software]
[12] Artikel "Fighting Intellectual Poverty":
[http://fsfeurope.org/projects/wsis/issues.en.html]
[13] Homepage von Larry Ewing: [http://www.isc.tamu.edu/~lewing/linux/]
(...)
--
Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di
Internetredaktion, Projekt di.ver
Potsdamer Platz 10, 10785 Berlin
--
ver.di: http://www.verdi.de
di.ver: http://verdi.org
privat: http://www.meretz.de
--
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de