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[ox] Änderung des Debian Social Contract



Ein Auszug aus "Brave GNU World" von Georg Greve:
http://www.linux-magazin.de/Artikel/ausgabe/2004/07/gnu/gnu.html

(...)

Debian Social Contract

Ein Thema, das noch mehr als die Java-Problematik von politischer Natur 
ist, ist die Änderung des Debian-Projekts an seinem Gesellschaftsvertrag 
([8] und[9]). Die Änderung hat gravierende Probleme nach sich gezogen 
(siehe auch "Projekteküche" in diesem Heft). Die Diskussionen darüber 
haben sich allerdings immer nur um die Verzögerung der nächsten 
Debian-Release gedreht. Dabei gibt es eine viel wichtigere Fragestellung, 
die dieser Änderung zugrunde liegt, aber nie in der breiten 
Öffentlichkeit diskutiert wurde. 

Der ursprüngliche Gesellschaftsvertrag sprach von "Software" und der 
Begriff war eindeutig in Bezug auf ausführbare Programme zu verstehen. 
Der neue Vertrag jedoch ersetzt ausdrücklich den Begriff "Software" durch 
"Werke", über deren Akzeptanz als freie Werke die Debian Free Software 
Guidelines entscheiden sollen. Auf den Mailinglisten haben die 
Debian-Entwickler im Vorfeld viel über die anstehende Änderung 
diskutiert. Begründung für diesen Schritt war die Unstimmigkeit innerhalb 
von Debian über die Bedeutung des Begriffs Software, die nun durch 
Verzicht auf den Begriff beigelegt werden soll. 

Die Terminologie-Diskussion war in vielerlei Hinsicht ein Hilfsmittel, um 
zu erreichen, dass die Debian Free Software Guidelines für alle Inhalte 
innerhalb der Debian-Distribution gelten sollten - ein Ziel, das die 
Befürworter mit der Änderung erreicht haben. 

Auslöser der Debatte war die Diskussion um die GNU Free Documentation 
License (GFDL). Die Debian-Entwickler waren sich lange Zeit nicht sicher, 
ob sie frei sei oder nicht. Wie bereits in vorherigen Ausgaben der Brave 
GNU World erläutert, gibt es durchaus berechtigte Einwände, die zu der 
Bewertung "ungeeignet" führen könnten, doch schießt die Bezeichnung 
"unfrei" meiner Ansicht nach deutlich über das Ziel hinaus. Ich sollte 
allerdings zugeben, dass sowohl Debian als auch die Free Software 
Foundation an der Aufheizung der Debatte nicht ganz unschuldig sind. 

Was ist Software?

Eine zentrale Fragestellung bei diesem Problem ist: Was ist Software? Die 
Mehrheitsmeinung scheint ganz klar in die Richtung zu gehen, dass 
Software alle ausführbaren Programme auf einem Computer sind. Doch 
innerhalb von Debian - und vermutlich nicht nur dort - gibt es einige 
Entwickler, die eine andere Ansicht vertreten. Für sie ist Software alles 
innerhalb eines Computers. Der Begriff Software bezieht sich nach ihrer 
Meinung also auf alles, was digitalisiert ist, inklusive Dokumentation, 
Firmware, Bilder und Musik. 

Die Debian-Entwickler berufen sich dabei oft auf die Definition des 
Statistikers und Amateurlinguisten John Tukey[10], der 1958 im "American 
Mathematical Monthly" den Begriff "Software" in Bezug auf die Programme 
eines elektronischen Taschenrechners erfand und sie dabei von der 
"Hardware" abgrenzte. Hardware ist nach Tukeys Definition alles, was mit 
"Röhren, Transistoren, Kabeln, Bändern und Ähnlichem" in Verbindung 
steht. 

Debian sagt: Alles ist Software

Da John Tukey im Jahr 2000 85-jährig starb, ist es leider nicht mehr 
möglich, ihn zu fragen, ob er bereits 1958 davon ausging, dass sich 
heutzutage ganze Bücher, Filme und andere "Werke" innerhalb eines 
Computers befinden würden und ob er diese auch als "Software" bezeichnen 
würde. 

Insofern sprechen die Indizien dafür, dass Tukey in seiner Definition von 
Software an das dachte, was sich 1958 innerhalb seiner Hardware befand: 
Programme. Auf dieser Interpretation scheint auch der Wikipedia-Eintrag 
zu Software[11] zu beruhen. Und wer Künstlern, Autoren oder Juristen die 
Frage stellt, ob sie Bilder, Musikstücke oder Bücher als Software sehen, 
wird meist eher verwunderte Blicke ernten.

Nun haben die Debian-Entwickler innerhalb des Gesellschaftsvertrags den 
Begriff "Software" gegen "Werke" ausgetauscht, um diese Diskussion 
endlich zu beenden und eine klare Handhabe zur Anwendung der Debian Free 
Software Guidelines zu schaffen. Unglücklicherweise ist das Ergebnis, das 
aus dieser Diskussion hervorging, unbefriedigend. 

[http://www.linux-magazin.de/Artikel/ausgabe/2004/07/gnu/abb3.jpg
Abbildung 3: Der Wikipedia-Eintrag zum Begriff "Software". Diese 
Definition ist eindeutig und lässt sich nur auf ausführbare Programme 
anwenden. Das Debian-Projekt ist allerdings anderer Meinung.]

Derselbe Fehler, nur umgekehrt

Denn zum einen haben die Verantwortlichen die Richtlinien nicht in Debian 
Free Works Guidelines umbenannt, sondern sie behaupten jetzt, dass auch 
andere Werke Software seien, da die Debian Free Software Guidelines nun 
eindeutig für diese gelten. Und zum anderen war die Änderung von Software 
zu Works ein so genannter Editorial Change, eine redaktionelle Änderung 
also, die lediglich der Klarstellung dienen soll. Das Ersetzen von 
Software durch Werke stellt für die Entwickler daher keine inhaltliche 
Änderung dar. Mit anderen Worten: Die Begriffe sind angeblich Synonyme. 

Tatsächlich beinhaltet der allgemeine Begriff Werke jedoch auch 
nicht-digitale Gegenstände. Drastisch ausgedrückt: Debian erklärt mit der 
Änderung auch die Sixtinische Kapelle zu Software. Und da es sich nach 
Bekunden von Debian nicht um eine inhaltliche Änderung handelt, ist die 
Schlussfolgerung, dass das schon immer die Auffassung des Projekts 
gewesen wäre. 

Das sind die impliziten Aussagen, die diese kürzliche Änderung des 
Gesellschaftsvertrags macht und die eine breite Mehrheit innerhalb von 
Debian fanden. Um einem Teil der Entwickler kein Unrecht zu tun, weise 
ich hier jedoch darauf hin, dass einige Debian-Entwickler in persönlichen 
Gesprächen zu dieser Änderung großes Erstaunen über deren Bedeutung 
bekundet haben. 

Die Frage nach der minimalen oder angemessenen Freiheit für digitale 
Werke, die nicht Programme sind, wurde meines Wissens noch nie ernsthaft 
diskutiert. Somit steht es noch aus, eine Lösung des Problems zu finden. 
Debian nimmt die Antwort auf diese Frage vorweg und unternimmt offenbar 
den Versuch, die für Software festgestellten minimal notwendigen 
Freiheiten im Umkehrschluss auf alle anderen digitalen Werke zu 
übertragen. Das Übergreifen in den realen Raum war vermutlich nicht 
beabsichtigt. Doch ob eine solche Übertragung sinnvoll oder 
gerechtfertigt ist, bleibt zu klären. 

Trügerischer Schluss

Im Rahmen dieser Klärung taucht schon bald der Begriff des geistigen 
Eigentums auf, den ich aus zwei Gründen ablehne. Erstens ist er in hohem 
Maße dogmatisiert und suggestiv. Der Begriff Eigentum ist vordergründig 
einleuchtend. Er schmeichelt der individuellen Eitelkeit, da er 
weismacht, man selbst habe eine bestimmte Idee gehabt, die andere mangels 
Genialität nicht hatten. Und diese Idee sei ausschließlich dem Kopf des 
Eigentümers entsprungen, nicht etwa aus dem Dialog mit anderen. 

Zweitens suggeriert der Begriff die physikalische Begrenztheit eines 
Gutes, was es notwendig machen würde, die Verteilung dieses Gutes zu 
kontrollieren. Dabei übersehen diejenigen, die den Begriff geistiges 
Eigentum nutzen, dass die Idee, einen Gedanken zu besitzen, überhaupt 
keinen Sinn hat. Besitzen lässt sich ein Gedanke nur, solange er nicht 
irgendwo manifestiert ist. Spricht man ihn aus, hat naturgemäß niemand 
die Kontrolle darüber, was mit ihm in den Köpfen der anderen geschieht. 

Doch es gibt noch ein weiteres Problem mit dem Begriff. Er wirft 
unterschiedliche Dinge in einen Topf: Copyright und Urheberrecht, 
Markenrecht und Patentrecht. Dabei ist selbst das Urheberrecht schon zu 
allgemein gefasst, denn es ist nicht ersichtlich, warum die Anleitung 
einer Waschmaschine dieselbe Behandlung erfahren muss wie das neue Buch 
von John Grisham. 

Von dieser Gleichmacherei ist auch Software betroffen, deren 
Proprietarisierung wesentlich mit der Einstufung als literarisches Werk 
zusammenhängt. Wer sich weitere Gedanken über das Thema machen möchte, 
findet bei[12] Anhaltspunkte. Jetzt die Freiheiten freier Software wieder 
auf alle anderen Werke zurückübertragen mag verlockend sein. Doch nach 
meiner Einschätzung lässt sich Gleichmacherei in der einen Richtung nicht 
durch Gleichmacherei in der anderen Richtung beheben. 

Alternativen

Was wir brauchen, ist ein Dialog, in dem wir eine sinnvolle 
Differenzierung finden. Für diese dann genau bestimmten Gebiete ist es 
nötig, die gesellschaftlich notwendigen minimalen Freiheiten zu erkennen 
und zu verstehen. Bei Debian hätte es durchaus Alternativen zur Anwendung 
der Debian Free Software Guidelines auf sämtliche Werke gegeben. Mein 
Vorschlag war, dem Debian-Dokumentationsteam mehr Befugnis zu geben. Das 
Team sollte entscheiden können, welche Dokumentation ausreichend frei 
ist, damit Benutzer die Freiheit der von Debian ausgelieferten Software 
wahrnehmen können. 

Es wäre auch möglich gewesen, eine Diskussion über die minimal notwendigen 
Freiheiten für technische Dokumentation zu führen. Sie hätte vermutlich 
relativ bald zu einem Ergebnis geführt. Auf Basis dieser Diskussion hätte 
Debian dann die Debian Free Documentation Guidelines erstellt. Leider 
scheint die Chance zu diesem Dialog vorerst vertan. 

Praktische Auswirkungen

Die praktischen Auswirkungen auf Debian sind fatal. Zunächst wird sich die 
Release der nächsten Stable-Version drastisch verzögern. Viel schlimmer 
ist allerdings, dass in künftigen Versionen ein großer Teil der 
notwendigen Dokumentation fehlen wird. 

Zusätzlich gibt es noch einen weiteren Aspekt, den ich bisher nirgends 
erwähnt fand: Unklar ist nicht nur der Status von Dokumentation, sondern 
auch von Grafiken und Logos der einzelnen Programme. Der Linux-Pinguin 
scheint unter einer Lizenz mit Advertising-Klausel zu stehen[13] und kein 
Problem aufzuwerfen. Doch beim Apache-Logo ist die Lage schon weniger 
klar. Es ist nicht sicher, ob Anwender das Apache-Logo in originaler oder 
veränderter Form für kommerzielle oder nicht kommerzielle Zwecke 
einsetzen dürfen. 

Angesichts der verschiedenen Marken ist es wahrscheinlich, dass bestimmte 
Grafiken und Begriffe unter Lizenzen stehen, die eine Verwendung nicht 
ohne jede Einschränkung erlauben. Es gibt sogar eine Debian-Trademark, 
für die bisher keine Lizenz existiert. 

Zwar sind die hier dargestellten Probleme überspitzt dargestellt, doch die 
Querelen um die GFDL haben gezeigt, dass es nicht abwegig ist, sich 
darüber Gedanken zu machen. Sollte tatsächlich jemand mit demselben Eifer 
die Grafiken in Debian prüfen, wie es die Entwickler mit der GFDL gemacht 
haben, könnten die Auswirkungen dieser Vertragsänderung noch weiter 
reichen. Realistischerweise muss jetzt zumindest jeder Debian-Maintainer 
seine Pakete noch einmal mit Blick auf Dokumentation, Grafiken, 
Sound-Schnipsel und sonstige möglicherweise urheberrechtlich relevanten 
Anteile durchforsten. 
 
[http://www.linux-magazin.de/Artikel/ausgabe/2004/07/gnu/abb4.jpg
Abbildung 4: Durch die Änderung des Debian-Gesellschaftsvertrags könnten 
auch bestimmte Logos und Grafiken aus Debian rausfliegen. Larry Ewings 
Pinguin Tux ist von diesem Problem zum Glück nicht betroffen.]

Fazit der Änderung

Die Diskussion um die Frage, was Software ist, hat durchaus das Potenzial, 
um neue Fragen aufzuwerfen. Sie ist mehr als eine unnötige Störung. Und 
die Verwendung des Wortes Software im Gesellschaftsvertrag war mehr als 
Schlampigkeit, die es zu beheben galt. Die Debian-Entwickler haben 
unabsichtlich eine Inselsituation geschaffen, bei der bestimmte 
juristisch relevante Begriffe innerhalb des Projekts eine andere 
Bedeutung haben als außerhalb. 

Es ist allerdings die Frage, ob und auf welche Art eine solche Situation 
Debian fördert oder eher in Gefahr bringt. Unabhängig davon sollte eine 
derartige Inselposition immer nur bewusst eingenommen und kommuniziert 
werden. Sonst besteht die Gefahr, dass Missverständnisse aufkommen. 

Daher wäre es nun konsequent und erstrebenswert von Debian, diese durch 
Änderung des Gesellschaftsvertrags implizit eingenommene Position auch 
explizit und öffentlich entsprechend zu dokumentieren. Zumindest bietet 
dies ein relativ taugliches Beispiel dafür, dass Diskussionen um 
Terminologie oberflächlich betrachtet auch nur oberflächlich sind. Bei 
näherer Betrachtung eröffnet sich erst die ganze Tragweite. 

Auch wenn ich mir sicher bin, dass meine Freunde bei Debian mich richtig 
verstehen, möchte ich denen, die mich nicht persönlich kennen, 
versichern, dass ich die Arbeit des Debian-Projekts und die Arbeit der 
Entwickler für die Freiheit sehr zu schätzen weiß. Die obigen 
Ausführungen sind ausschließlich als konstruktiver Beitrag zu einer 
interessanten Diskussion zu werten, auch wenn meine persönliche Meinung 
momentan von einer Portion Skepsis in Bezug auf die Änderungen des 
Gesellschaftsvertrags geprägt ist. 

(...)

[8] Debian Social Contract Tally Sheet: 
[http://master.debian.org/~srivasta/gr_editorial_tally.txt] 

[9] Debian Social Contract: [http://www.de.debian.org/social_contract] 

[10] Wikipedia-Eintrag zu John Tukey: 
[http://en.wikipedia.org/wiki/John_W._Tukey] 

[11] Wikipedia-Eintrag zu Software: 
[http://de.wikipedia.org/wiki/Software] 

[12] Artikel "Fighting Intellectual Poverty": 
[http://fsfeurope.org/projects/wsis/issues.en.html] 

[13] Homepage von Larry Ewing: [http://www.isc.tamu.edu/~lewing/linux/] 

(...)

-- 
    Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di
    Internetredaktion, Projekt di.ver
    Potsdamer Platz 10, 10785 Berlin
--
    ver.di: http://www.verdi.de
    di.ver: http://verdi.org
    privat: http://www.meretz.de
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