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[ox] Artikel in der Zeitschrift "Widerspruch"



Passt vielleicht zu dem virtuellen Community-Interview der FR. Erscheint 
in Kürze in Widerspruch 45 (http://www.widerspruch.ch). Für Oekonuxis 
nichts wirklich Neues.

Online: http://www.opentheory.org/fs_ist_cool/text.phtml


Stefan Meretz

Freie Software

Über die verständliche Unverständlichkeit einer neuen Produktionsweise

Die traditionelle Wirtschaftslehre kommt mit Freier oder 
Open-Source-Software nicht klar: "Open-Source-Software stellt für die 
Managementforschung ein Rätsel dar" (Osterloh, 2003). Das ist ein gutes 
Zeichen. Freie Software ist "unlogisch", denn Freie Software ist weder 
kapitalistisch noch antikapitalistisch, sondern sie ist 
transkapitalistisch. Sie ist im begrifflichen Rahmen des "Es muss sich 
rechnen" nicht verstehbar. Das hält die akademischen Interpreten nicht 
davon ab, dem Unverstandenen die überkommenen Begriffe überzustülpen.

Entstehung

Der Begriff "Freie Software" entstand erst mit der Exklusivierung
gesellschaftlichen Software-Wissens. In heutiger Perspektive kann man
natürlich auch sagen: Früher gab es nur freie Software. Damals machte das
keinen Sinn. Aus der freien Software wurde Freie Software, weil unfreie,
proprietäre Software entstand. Es war ein Akt der Verteidigung gegen die
Einfriedung der Software-Allmende (Grassmuck 2002).

AT&T besaß die Rechte am Unix-Betriebssytem. Das fiel der Firma auf, als 
sie Anfang der 1980er zerschlagen wurde. Der Markt diktierte der 
Unix-Division: Nutze deine exklusive Verfügungsgewalt auch exklusiv. 
Wissenschaftler/innen konnten bis dahin den Quellcode verwenden. Nun 
sollten sie eine Nicht-Weiterverbreitungs-Erklärung (NDA) unterzeichnen, 
wenn sie den Zugriff behalten wollten. Diese Freiheitseinschränkung 
erzürnte Richard Stallman am MIT und andere sehr. Sie gründeten das 
GNU-Projekt. "GNU's Not Unix" lautet die rekursive Abkürzung: GNU ist 
nicht Unix, sondern frei - und besser. Der erste historische Geniestreich 
Freier Software bestand in der Schaffung einer Freien Software-Lizenz, 
der GNU General Public License (GNU GPL). Die GPL basiert auf dem 
Copyright, dreht dessen Sinn aber subversiv um: Software soll nicht 
exklusiv sein und nie wieder exklusiviert werden. Die GPL wird deswegen
auch als Copyleft bezeichnet.

Durchsetzung

Der zweite historische Geniestreich wurde von Linus Torvalds in die Welt
gesetzt. Ganz traditionell organisierte sich Freie Software in ihrer 
Frühphase tayloristisch: Programmierung in zurückgezogenen Teams, 
Trennung von Entwicklung und Test, Top-Down-Steuerung. Torvalds stellte 
diese Logik intuitiv auf den Kopf. Anstatt die Kontrolle über jeden 
Schritt zu behalten, gab er sie aus der Hand. Neben das gängige 
Entwicklungsprinzip des "rough consensus - running code" stellte er sein 
"release early - release often". Grundlage des sogenannten 
Maintainer-Prinzips ist die individuelle Selbstentfaltung und die 
kollektive Selbstorganisation. Und natürlich die globale Vernetzung über 
das Internet auf der Grundlage wertfreier, nicht-tauschförmiger 
Beziehungen zwischen Menschen. Das Prinzip der Selbstregulation ist 
bestechend einfach: Was funktioniert, das funktioniert. Die eigenen 
Bedürfnisse sind der Maßstab und die praktische Erfahrung, dass die 
Entfaltung der anderen die eigene Entfaltungsbedingung ist. Maintainer 
und Projekt sind positiv-verstärkend aneinander gebunden.

Ein subversiv fixierter rechtlicher Rahmen durch das Copyleft und das
Zusammenkommen der vier Faktoren Selbstentfaltung, Selbstorganisation,
Vernetzung und Wertfreiheit bilden die Triebkräfte einer ungeheuren 
Dynamik der Bewegung Freier Software. Nun erst kommen sie dazu: Die 
ökonomischen Absahner und akademischen Interpreten. Geht damit die Freie 
Software kaputt? Nein, es ist umgekehrt: Der "Freiheitsvirus" wird weiter 
verbreitet.

Anti-Ökonomie

Die neue Produktionsweise braucht die strukturelle Wertfreiheit von 
Prozess und Produkt. Für die Produktfreiheit sorgt die GPL, für die des 
Prozesses das Maintainer-Prinzip. Was woanders Hobby heißt, ist hier 
Spitze der Produktivkraftentwicklung. Freie Software ist unknapp und 
damit wertlos. Es muss schon Knappheit der Freien Software hinzugefügt 
werden, um mit ihr Geld zu machen: Karton, Buch, Service, Hardware etc. 
Auf die Freie Software geguckt wird klar: Der Antagonismus besteht nicht 
zwischen Kapital und Arbeit, sondern zwischen Selbstentfaltung und 
Selbstverwertung. Nur außerhalb der kybernetischen Wertmaschine kann sich 
die Freie Software entwickeln. Will Selbstentfaltung unbeschränkt sein, 
braucht sie einen wertfreien Kontext. Das ist die Unlogik Freier 
Software, sie ist "unökonomisch", nein, mehr noch: anti-ökonomisch - und 
gerade deswegen überlegen (Meretz 2002).

Die Herausbildung der Produktionsweise Freier Software ist kein Zufall. 
Sie ist auch nicht bloß eine kapitalistische "Anomalie" wie kritische
Verwertungslogiker meinen (Nuss, Heinrich 2002). Die Freie 
Produktionsweise musste sich notwendig herausbilden, sie ist gleichzeitig 
Resultat und Ende kapitalistischer Entwicklung. Dazu ein kurzer Blick in 
die Geschichte der Produktivkraftentwicklung.

Produktivkraftentwicklung

Obwohl oft behauptet: Produktivkraftentwicklung ist nicht 
Technikentwicklung. Die "Produktivkraft der Arbeit ist durch mannigfache 
Umstände bestimmt" erklärt uns Marx. Solcherlei Umstände entdeckte er 
viele: Naturbedingungen, technische Entwicklungen, die Kooperation der 
Arbeitenden, die Qualifikation, die Organisation der Arbeit, allgemeines 
Wissen etc. Statt eines dinglichen ist also ein Verhältnisbegriff 
erforderlich: Produktivkraftentwicklung fasst das historisch sich 
ändernde Verhältnis von Natur, Mittel und Mensch bei der (Re-) Produktion 
des gesellschaftlichen Lebens. Dieser Begriff der 
Produktivkraftentwicklung hilft, die Freie Software zu verstehen (Meretz 
2001, 2003a).

Jeder der drei Aspekte der Produktivkraftentwicklung ist in einer 
historischen Epoche dominant und bestimmt sie. Alle agrarischen 
Gesellschaften vor dem Kapitalismus gehören demnach zur naturalen Epoche. 
Die Bearbeitung des Bodens steht im Zentrum der (Re-) Produktion, 
Werkzeuge werden dabei nur mitentwickelt. Die Vergesellschaftung ist 
personal-konkret und herrschaftsförmig organisiert. Das bedeutet, dass 
die gesellschaftlichen Regulations-, Vermittlungs- und Verteilungsformen 
durch personale Herrschaft von Menschen über Menschen bestimmt sind.

Die Arbeitsmittel-Revolution - auch industrielle Revolution genannt - 
bringt den Kapitalismus hervor. Güter werden hier von getrennten 
Privatproduzenten hergestellt. Erst der Markt vermittelt ihren Austausch. 
Sekundär kommt es zu den bedeutenden Umwälzungen in der Landwirtschaft 
oder der Gewinnung von Bodenschätzen, die jedoch erst mit der Entwicklung 
der industriellen Produktion und der Naturwissenschaften möglich wurden. 
Die Vergesellschaftung wird nun durch die abstrakt-entfremdete Herrschaft 
der gesellschaftlichen Wertmaschine strukturiert. Die Ironie der 
Geschichte: Der Kampf der Arbeiterbewegung gegen die Herrschaft des 
Menschen über den Menschen hilft bei der Durchsetzung der 
Verwertungslogik. Solidarität war das Mittel. Heute ist jeder seines 
eigenen Glückes Schmied in allgemeiner Entfremdung, eine Gesellschaft von 
Warenmonaden.

Die Geschichte ist nicht am Ende angelangt. In den Falten der Gesellschaft
entsteht Neues. Der Mensch ist immer die Hauptproduktivkraft, meint Marx. 
- "an sich". Die Entfaltung der Hauptproduktivkraft Mensch, die 
Selbstentfaltung des Menschen, steht aus. Sie kündigt sich aber bereits 
an, nicht zuletzt in Gestalt der Freien Software. Die Durchsetzung der 
Selbstentfaltung des Menschen als Hauptproduktivkraft wird die 
abstrakt-entfremdete Vergesellschaftung aufheben und wieder 
personal-konkrete Vermittlungsformen etablieren - herrschaftsfrei und 
global vernetzt. Dann regeln die Menschen ihre Angelegenheiten wieder 
selbst: Freie Menschen in freien Vereinbarungen (Gruppe Gegenbilder 
2000). Die Voraussetzungen dazu sind entwickelt: stofflicher Reichtum, 
kommunikative Mittel, globales Wissen.

Widersprüche

Die Kapitalfunktionäre haben die menschliche Individualität als ultimative
Produktivkraft-Ressource entdeckt. Und auch die Arbeitsfunktionierer, die
abhängig Beschäftigten, finden neue Möglichkeiten der Entfaltung. Die zum
Zerreißen gespannte Gemengelage hat Wilfried Glißmann (1999) auf den Punkt
gebracht: "Tut was ihr wollt, aber ihr müßt profitabel sein". Kapital- und
Arbeitsfunktion, Wertschaffung und Wertrealisierung rutschen zusammen, 
fallen in eine Person: "Die beiden Aspekte zerreißen mich geradezu, und 
ich erlebe dies als eine persönlich-sachliche Verstrickung". Es gibt 
keine Auflösung: "Herrscher über die neue Welt ist nicht ein Mensch, 
sondern der Markt. ... Wer seine Gesetze nicht befolgt, wird vernichtet." 
Treffender als Olaf Henkel (1996) hätte auch Marx die 
abstrakt-entfremdete totalitäre Herrschaft der Verwertungslogik nicht 
formulieren können.

Freie Software passt hier nicht hinein, sie ist komplett "wert-unlogisch".
Warum aber machen die Leute Freie Software, wenn sie doch in der Regel 
kein Geld dafür bekommen? Wer so fragt, hat den Homo economicus als 
Menschenbild verinnerlicht. Der hat gedanklich das abstrakte Tun für ein 
entfremdetes Drittes zu einer Naturform erhoben. Der vermutet das 
Tauschen als Urtrieb wahrscheinlich in den Genen. Doch Freie Software 
funktioniert einfach so, weil ganz normale Menschen ihre produktiven 
Bedürfnisse befriedigen. Befreit von scheinbar allmächtigen 
Realabstraktionen wie Geld, Markt, Tausch schaffen sie die Produkte, die 
sie brauchen, und die organisatorische Struktur, die je ihren 
Anforderungen angemessen ist. Die Freie Software erreicht in ihrem
Bereich gesellschaftliche Größenordnung - ohne Zentralplanung und im
Unterschied zu jedem Alternativ-Projekt. Sie ist eine Keimform einer 
freien Gesellschaft (Meretz 2003b, 2003c).

Natürlich ist die Freie Software nicht widerspruchsfrei. Es handelt sich
jedoch um eine betriebswirtschaftlich verzerrte Sicht, "gleichzeitig
kommerzielle Anbieter und von der Sache begeisterte Programmierer" 
(Osterloh 2003) zum Kern der Freien Software zu erklären. Hier ringen 
zwei unvereinbare Produktionsweisen miteinander. Die Freie Software würde 
ein Aufsaugen in den globalen Verwertungsapparat nicht überleben. Doch da 
der "Freiheitsvirus" dem einzelnen Kapital einen Konkurrenzvorteil 
verschafft, muss es ihn auch pflegen. Der Ausgang ist offen.

Oekonux

Das international interessanteste Reflexionsprojekt Freier Software ist
Oekonux - Ökonomie und GNU/Linux. Eine Erfahrung im Projekt Oekonux ist, 
dass fast alle traditionelle Theorie bei der Erklärung des "Phänomens" 
versagt. So nimmt die Bewegung Freier Software nicht nur die Produktion 
selbst in die Hand, sondern auch die theoretische Reflexion. Die Freie 
Software ist schon dabei, die Welt zu verändern, jetzt kommt es auch noch 
darauf an, sie - durchaus unterschiedlich - zu interpretieren. Leitfrage 
ist: Können Prinzipien Freier Software gesellschaftlich verallgemeinert 
werden, und wo geschieht das schon?

So wie Freie Software von normalen Menschen gemacht wird, so kennt Oekonux
keine ideologischen Eintrittsvoraussetzungen. So wie die Freie Software
transkapitalistisch, so ist Oekonux als Teil der Freien Softwarebewegung
"trans-links" - wurde doch die Erfahrung gemacht, dass "linke Theorie" 
sich bei aller moralischen Aufladung doch auch nur innerhalb der 
Tauschlogik bewegt. Und Oekonux ist schließlich auch "trans-identitär". 
Die in diesem Text formulierten Thesen wurden im Oekonux-Kontext 
entwickelt, doch sie "sind" nicht Oekonux-Theorie. Ein wichtiger Ort des 
Zusammentreffens unterschiedlicher Denkströmungen sind die 
Oekonux-Konferenzen. Die nächste findet vom 19.-21.5.2004 am 
Philosophischen Institut in Wien statt unter dem Motto "Reichtum durch 
Copyleft - Kreativität im digitalen Zeitalter".

Copyleft-Notiz

Dieser Text erscheint unter den Bedingungen der GNU Free Documentation
License, Version 1.2 (www.gnu.org/copyleft/fdl.html) und darf frei 
verwendet, kopiert, verändert und verbreitet werden, sofern diese 
Lizenznotiz erscheint sowie Quelle und ursprünglicher Autor genannt 
werden.

Literatur

Glißmann, Wilfried, 1999: Die neue Selbständigkeit in der Arbeit und
Mechanismen sozialer Ausgrenzung. In: Sebastian Herkommer (Hg.), Soziale
Ausgrenzungen. Gesichter des neuen Kapitalismus. Hamburg.

Grassmuck, Volker, 2002: Freie Software zwischen Privat- und 
Gemeineigentum. Bonn.

Gruppe Gegenbilder, 2000: Freie Menschen in freien Vereinbarungen. Saasen.

Henkel, Hans-Olaf, 1996. In: Süddeutsche Zeitung, 30.05.1996. München

Meretz, Stefan, 2001: Produktivkraftentwicklung und Aufhebung. In: 
Streifzüge, Heft 2/2001. Wien

Meretz, Stefan, 2002: "GNU/Linux ist nichts wert - und das ist gut so!" 
In: Ingrid Lohmann / Rainer Rilling (Hg.): Die verkaufte Bildung. 
Opladen.

Meretz, Stefan, 2003a: Freie Software - Ideen für eine andere 
Gesellschaft. In: Anja Ebersbach / Richard Heigl / Thomas Schnakenberg 
(Hg.): Missing Link - Fragen an die Informationsgesellschaft. Regensburg.

Meretz, Stefan, 2003b: Zur Theorie des Informationskapitalismus. In:
Streifzüge, Hefte 1/2003 und 2/2003. Wien

Meretz, Stefan, 2003c: Der wilde Dschungel der Kooperation. In: Christoph

Spehr: Gleicher als Andere. Eine Grundlegung der freien Kooperation. 
Berlin.

Nuss, Sabine / Heinrich, Michael, 2002: Freie Software und Kapitalismus. 
In: Streifzüge, Heft 2/2002. Wien

Osterloh, Margit, 2003: Zur Ökonomie von Gratissoftware. In: NZZ, 
23.09.2003. Zürich

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