[ox] Artikel in der Zeitschrift "Widerspruch"
- From: Stefan Meretz <stefan.meretz hbv.org>
- Date: Sat, 22 Nov 2003 15:02:38 +0100
Passt vielleicht zu dem virtuellen Community-Interview der FR. Erscheint
in Kürze in Widerspruch 45 (http://www.widerspruch.ch). Für Oekonuxis
nichts wirklich Neues.
Online: http://www.opentheory.org/fs_ist_cool/text.phtml
Stefan Meretz
Freie Software
Über die verständliche Unverständlichkeit einer neuen Produktionsweise
Die traditionelle Wirtschaftslehre kommt mit Freier oder
Open-Source-Software nicht klar: "Open-Source-Software stellt für die
Managementforschung ein Rätsel dar" (Osterloh, 2003). Das ist ein gutes
Zeichen. Freie Software ist "unlogisch", denn Freie Software ist weder
kapitalistisch noch antikapitalistisch, sondern sie ist
transkapitalistisch. Sie ist im begrifflichen Rahmen des "Es muss sich
rechnen" nicht verstehbar. Das hält die akademischen Interpreten nicht
davon ab, dem Unverstandenen die überkommenen Begriffe überzustülpen.
Entstehung
Der Begriff "Freie Software" entstand erst mit der Exklusivierung
gesellschaftlichen Software-Wissens. In heutiger Perspektive kann man
natürlich auch sagen: Früher gab es nur freie Software. Damals machte das
keinen Sinn. Aus der freien Software wurde Freie Software, weil unfreie,
proprietäre Software entstand. Es war ein Akt der Verteidigung gegen die
Einfriedung der Software-Allmende (Grassmuck 2002).
AT&T besaß die Rechte am Unix-Betriebssytem. Das fiel der Firma auf, als
sie Anfang der 1980er zerschlagen wurde. Der Markt diktierte der
Unix-Division: Nutze deine exklusive Verfügungsgewalt auch exklusiv.
Wissenschaftler/innen konnten bis dahin den Quellcode verwenden. Nun
sollten sie eine Nicht-Weiterverbreitungs-Erklärung (NDA) unterzeichnen,
wenn sie den Zugriff behalten wollten. Diese Freiheitseinschränkung
erzürnte Richard Stallman am MIT und andere sehr. Sie gründeten das
GNU-Projekt. "GNU's Not Unix" lautet die rekursive Abkürzung: GNU ist
nicht Unix, sondern frei - und besser. Der erste historische Geniestreich
Freier Software bestand in der Schaffung einer Freien Software-Lizenz,
der GNU General Public License (GNU GPL). Die GPL basiert auf dem
Copyright, dreht dessen Sinn aber subversiv um: Software soll nicht
exklusiv sein und nie wieder exklusiviert werden. Die GPL wird deswegen
auch als Copyleft bezeichnet.
Durchsetzung
Der zweite historische Geniestreich wurde von Linus Torvalds in die Welt
gesetzt. Ganz traditionell organisierte sich Freie Software in ihrer
Frühphase tayloristisch: Programmierung in zurückgezogenen Teams,
Trennung von Entwicklung und Test, Top-Down-Steuerung. Torvalds stellte
diese Logik intuitiv auf den Kopf. Anstatt die Kontrolle über jeden
Schritt zu behalten, gab er sie aus der Hand. Neben das gängige
Entwicklungsprinzip des "rough consensus - running code" stellte er sein
"release early - release often". Grundlage des sogenannten
Maintainer-Prinzips ist die individuelle Selbstentfaltung und die
kollektive Selbstorganisation. Und natürlich die globale Vernetzung über
das Internet auf der Grundlage wertfreier, nicht-tauschförmiger
Beziehungen zwischen Menschen. Das Prinzip der Selbstregulation ist
bestechend einfach: Was funktioniert, das funktioniert. Die eigenen
Bedürfnisse sind der Maßstab und die praktische Erfahrung, dass die
Entfaltung der anderen die eigene Entfaltungsbedingung ist. Maintainer
und Projekt sind positiv-verstärkend aneinander gebunden.
Ein subversiv fixierter rechtlicher Rahmen durch das Copyleft und das
Zusammenkommen der vier Faktoren Selbstentfaltung, Selbstorganisation,
Vernetzung und Wertfreiheit bilden die Triebkräfte einer ungeheuren
Dynamik der Bewegung Freier Software. Nun erst kommen sie dazu: Die
ökonomischen Absahner und akademischen Interpreten. Geht damit die Freie
Software kaputt? Nein, es ist umgekehrt: Der "Freiheitsvirus" wird weiter
verbreitet.
Anti-Ökonomie
Die neue Produktionsweise braucht die strukturelle Wertfreiheit von
Prozess und Produkt. Für die Produktfreiheit sorgt die GPL, für die des
Prozesses das Maintainer-Prinzip. Was woanders Hobby heißt, ist hier
Spitze der Produktivkraftentwicklung. Freie Software ist unknapp und
damit wertlos. Es muss schon Knappheit der Freien Software hinzugefügt
werden, um mit ihr Geld zu machen: Karton, Buch, Service, Hardware etc.
Auf die Freie Software geguckt wird klar: Der Antagonismus besteht nicht
zwischen Kapital und Arbeit, sondern zwischen Selbstentfaltung und
Selbstverwertung. Nur außerhalb der kybernetischen Wertmaschine kann sich
die Freie Software entwickeln. Will Selbstentfaltung unbeschränkt sein,
braucht sie einen wertfreien Kontext. Das ist die Unlogik Freier
Software, sie ist "unökonomisch", nein, mehr noch: anti-ökonomisch - und
gerade deswegen überlegen (Meretz 2002).
Die Herausbildung der Produktionsweise Freier Software ist kein Zufall.
Sie ist auch nicht bloß eine kapitalistische "Anomalie" wie kritische
Verwertungslogiker meinen (Nuss, Heinrich 2002). Die Freie
Produktionsweise musste sich notwendig herausbilden, sie ist gleichzeitig
Resultat und Ende kapitalistischer Entwicklung. Dazu ein kurzer Blick in
die Geschichte der Produktivkraftentwicklung.
Produktivkraftentwicklung
Obwohl oft behauptet: Produktivkraftentwicklung ist nicht
Technikentwicklung. Die "Produktivkraft der Arbeit ist durch mannigfache
Umstände bestimmt" erklärt uns Marx. Solcherlei Umstände entdeckte er
viele: Naturbedingungen, technische Entwicklungen, die Kooperation der
Arbeitenden, die Qualifikation, die Organisation der Arbeit, allgemeines
Wissen etc. Statt eines dinglichen ist also ein Verhältnisbegriff
erforderlich: Produktivkraftentwicklung fasst das historisch sich
ändernde Verhältnis von Natur, Mittel und Mensch bei der (Re-) Produktion
des gesellschaftlichen Lebens. Dieser Begriff der
Produktivkraftentwicklung hilft, die Freie Software zu verstehen (Meretz
2001, 2003a).
Jeder der drei Aspekte der Produktivkraftentwicklung ist in einer
historischen Epoche dominant und bestimmt sie. Alle agrarischen
Gesellschaften vor dem Kapitalismus gehören demnach zur naturalen Epoche.
Die Bearbeitung des Bodens steht im Zentrum der (Re-) Produktion,
Werkzeuge werden dabei nur mitentwickelt. Die Vergesellschaftung ist
personal-konkret und herrschaftsförmig organisiert. Das bedeutet, dass
die gesellschaftlichen Regulations-, Vermittlungs- und Verteilungsformen
durch personale Herrschaft von Menschen über Menschen bestimmt sind.
Die Arbeitsmittel-Revolution - auch industrielle Revolution genannt -
bringt den Kapitalismus hervor. Güter werden hier von getrennten
Privatproduzenten hergestellt. Erst der Markt vermittelt ihren Austausch.
Sekundär kommt es zu den bedeutenden Umwälzungen in der Landwirtschaft
oder der Gewinnung von Bodenschätzen, die jedoch erst mit der Entwicklung
der industriellen Produktion und der Naturwissenschaften möglich wurden.
Die Vergesellschaftung wird nun durch die abstrakt-entfremdete Herrschaft
der gesellschaftlichen Wertmaschine strukturiert. Die Ironie der
Geschichte: Der Kampf der Arbeiterbewegung gegen die Herrschaft des
Menschen über den Menschen hilft bei der Durchsetzung der
Verwertungslogik. Solidarität war das Mittel. Heute ist jeder seines
eigenen Glückes Schmied in allgemeiner Entfremdung, eine Gesellschaft von
Warenmonaden.
Die Geschichte ist nicht am Ende angelangt. In den Falten der Gesellschaft
entsteht Neues. Der Mensch ist immer die Hauptproduktivkraft, meint Marx.
- "an sich". Die Entfaltung der Hauptproduktivkraft Mensch, die
Selbstentfaltung des Menschen, steht aus. Sie kündigt sich aber bereits
an, nicht zuletzt in Gestalt der Freien Software. Die Durchsetzung der
Selbstentfaltung des Menschen als Hauptproduktivkraft wird die
abstrakt-entfremdete Vergesellschaftung aufheben und wieder
personal-konkrete Vermittlungsformen etablieren - herrschaftsfrei und
global vernetzt. Dann regeln die Menschen ihre Angelegenheiten wieder
selbst: Freie Menschen in freien Vereinbarungen (Gruppe Gegenbilder
2000). Die Voraussetzungen dazu sind entwickelt: stofflicher Reichtum,
kommunikative Mittel, globales Wissen.
Widersprüche
Die Kapitalfunktionäre haben die menschliche Individualität als ultimative
Produktivkraft-Ressource entdeckt. Und auch die Arbeitsfunktionierer, die
abhängig Beschäftigten, finden neue Möglichkeiten der Entfaltung. Die zum
Zerreißen gespannte Gemengelage hat Wilfried Glißmann (1999) auf den Punkt
gebracht: "Tut was ihr wollt, aber ihr müßt profitabel sein". Kapital- und
Arbeitsfunktion, Wertschaffung und Wertrealisierung rutschen zusammen,
fallen in eine Person: "Die beiden Aspekte zerreißen mich geradezu, und
ich erlebe dies als eine persönlich-sachliche Verstrickung". Es gibt
keine Auflösung: "Herrscher über die neue Welt ist nicht ein Mensch,
sondern der Markt. ... Wer seine Gesetze nicht befolgt, wird vernichtet."
Treffender als Olaf Henkel (1996) hätte auch Marx die
abstrakt-entfremdete totalitäre Herrschaft der Verwertungslogik nicht
formulieren können.
Freie Software passt hier nicht hinein, sie ist komplett "wert-unlogisch".
Warum aber machen die Leute Freie Software, wenn sie doch in der Regel
kein Geld dafür bekommen? Wer so fragt, hat den Homo economicus als
Menschenbild verinnerlicht. Der hat gedanklich das abstrakte Tun für ein
entfremdetes Drittes zu einer Naturform erhoben. Der vermutet das
Tauschen als Urtrieb wahrscheinlich in den Genen. Doch Freie Software
funktioniert einfach so, weil ganz normale Menschen ihre produktiven
Bedürfnisse befriedigen. Befreit von scheinbar allmächtigen
Realabstraktionen wie Geld, Markt, Tausch schaffen sie die Produkte, die
sie brauchen, und die organisatorische Struktur, die je ihren
Anforderungen angemessen ist. Die Freie Software erreicht in ihrem
Bereich gesellschaftliche Größenordnung - ohne Zentralplanung und im
Unterschied zu jedem Alternativ-Projekt. Sie ist eine Keimform einer
freien Gesellschaft (Meretz 2003b, 2003c).
Natürlich ist die Freie Software nicht widerspruchsfrei. Es handelt sich
jedoch um eine betriebswirtschaftlich verzerrte Sicht, "gleichzeitig
kommerzielle Anbieter und von der Sache begeisterte Programmierer"
(Osterloh 2003) zum Kern der Freien Software zu erklären. Hier ringen
zwei unvereinbare Produktionsweisen miteinander. Die Freie Software würde
ein Aufsaugen in den globalen Verwertungsapparat nicht überleben. Doch da
der "Freiheitsvirus" dem einzelnen Kapital einen Konkurrenzvorteil
verschafft, muss es ihn auch pflegen. Der Ausgang ist offen.
Oekonux
Das international interessanteste Reflexionsprojekt Freier Software ist
Oekonux - Ökonomie und GNU/Linux. Eine Erfahrung im Projekt Oekonux ist,
dass fast alle traditionelle Theorie bei der Erklärung des "Phänomens"
versagt. So nimmt die Bewegung Freier Software nicht nur die Produktion
selbst in die Hand, sondern auch die theoretische Reflexion. Die Freie
Software ist schon dabei, die Welt zu verändern, jetzt kommt es auch noch
darauf an, sie - durchaus unterschiedlich - zu interpretieren. Leitfrage
ist: Können Prinzipien Freier Software gesellschaftlich verallgemeinert
werden, und wo geschieht das schon?
So wie Freie Software von normalen Menschen gemacht wird, so kennt Oekonux
keine ideologischen Eintrittsvoraussetzungen. So wie die Freie Software
transkapitalistisch, so ist Oekonux als Teil der Freien Softwarebewegung
"trans-links" - wurde doch die Erfahrung gemacht, dass "linke Theorie"
sich bei aller moralischen Aufladung doch auch nur innerhalb der
Tauschlogik bewegt. Und Oekonux ist schließlich auch "trans-identitär".
Die in diesem Text formulierten Thesen wurden im Oekonux-Kontext
entwickelt, doch sie "sind" nicht Oekonux-Theorie. Ein wichtiger Ort des
Zusammentreffens unterschiedlicher Denkströmungen sind die
Oekonux-Konferenzen. Die nächste findet vom 19.-21.5.2004 am
Philosophischen Institut in Wien statt unter dem Motto "Reichtum durch
Copyleft - Kreativität im digitalen Zeitalter".
Copyleft-Notiz
Dieser Text erscheint unter den Bedingungen der GNU Free Documentation
License, Version 1.2 (www.gnu.org/copyleft/fdl.html) und darf frei
verwendet, kopiert, verändert und verbreitet werden, sofern diese
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werden.
Literatur
Glißmann, Wilfried, 1999: Die neue Selbständigkeit in der Arbeit und
Mechanismen sozialer Ausgrenzung. In: Sebastian Herkommer (Hg.), Soziale
Ausgrenzungen. Gesichter des neuen Kapitalismus. Hamburg.
Grassmuck, Volker, 2002: Freie Software zwischen Privat- und
Gemeineigentum. Bonn.
Gruppe Gegenbilder, 2000: Freie Menschen in freien Vereinbarungen. Saasen.
Henkel, Hans-Olaf, 1996. In: Süddeutsche Zeitung, 30.05.1996. München
Meretz, Stefan, 2001: Produktivkraftentwicklung und Aufhebung. In:
Streifzüge, Heft 2/2001. Wien
Meretz, Stefan, 2002: "GNU/Linux ist nichts wert - und das ist gut so!"
In: Ingrid Lohmann / Rainer Rilling (Hg.): Die verkaufte Bildung.
Opladen.
Meretz, Stefan, 2003a: Freie Software - Ideen für eine andere
Gesellschaft. In: Anja Ebersbach / Richard Heigl / Thomas Schnakenberg
(Hg.): Missing Link - Fragen an die Informationsgesellschaft. Regensburg.
Meretz, Stefan, 2003b: Zur Theorie des Informationskapitalismus. In:
Streifzüge, Hefte 1/2003 und 2/2003. Wien
Meretz, Stefan, 2003c: Der wilde Dschungel der Kooperation. In: Christoph
Spehr: Gleicher als Andere. Eine Grundlegung der freien Kooperation.
Berlin.
Nuss, Sabine / Heinrich, Michael, 2002: Freie Software und Kapitalismus.
In: Streifzüge, Heft 2/2002. Wien
Osterloh, Margit, 2003: Zur Ökonomie von Gratissoftware. In: NZZ,
23.09.2003. Zürich
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