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Re: [ox] Fwd: Artikel zum Urheberrecht



On Wednesday 06 August 2003 10:03, Ing. Hanspeter Riedmann wrote:
bekomme eine Fehlermeldung beim Aufruf der
angegebenen Seite. Geht es euch genauso?

Dann nehmen wir es mal ins ox-Archiv:

- -

Das Ende kommt sowieso

Plädoyer für die Abschaffung des Copyrights / Von Joost Smiers


Ist es nicht ein schrecklicher Gedanke, dass die meisten Bilder, die
wir täglich sehen, ein Großteil der Musik, die wir hören, die meisten
Wörter, die wir lesen, jemandes persönliches Eigentum sind? Dieser
"Jemand" ist meist ein Teil der Kulturindustrie. Corbis, Bill Gates'
Firma, besitzt zum Beispiel Millionen von Bildern. Der Augenblick ist
nicht mehr fern, in dem fast alle Bilder der Welt in den Händen seiner
Firma oder denen der Getty Corporation sind. Dem System, welches
diesen Privatbesitz eines substanziellen und immer größer werdenden
Teils unseres gemeinsamen kulturellen Erbes aus Vergangenheit und
Gegenwart erlaubt, hat man den Namen Copyright gegeben. Der Name
deutet an, dass für die Nutzung dieser Werke gezahlt werden und dass
man für ihre Nutzung um Erlaubnis bitten sollte. In keiner
Gesellschaft zuvor waren die Mittel kultureller Kommunikation jemals
in so extremer Form privatisiert und kommerzialisiert wie in der
heutigen westlichen Welt.

Indem sie sich das Copyright an Millionen von Werken der Kunst, des
Designs und des Entertainments sichert, bestimmt die Kulturindustrie,
welche Werke und welche Künstler Förderung erfahren. Sie bestimmen
Natur und Kontur unserer kulturellen Landschaft, während sie zugleich
die öffentliche Eigentum an Wissen und Kreativität abtragen. Das ist
undemokratisch und gegen sämtliche Prinzipien der Menschenrechte. Wenn
man ihre faktisch monopolhafte Kontrolle nicht beendet, wird die
Konsequenz das Ende der Redefreiheit und der Freiheit der Kunst sein.

Zudem berechtigt das CopyrightSystem Künstler und Copyright-Industrie,
anderen die kreative Adaption "ihrer" Werke zu verbieten, obwohl diese
Adaption während der gesamten Geschichte ein Charakteristikum von
Kulturen gewesen ist. Es ist ein westlicher Irrweg, dass Kunstwerke -
und das sie umgebende, weite Feld kreativer Adaptionen - von
Individuen oder gar Firmen besessen werden können und zwar für viele
Jahrzehnte, wie ein Krake, der alles in seiner Reichweite ergreift.
Letztlich führt es zum Einfrieren unserer Kultur.

Die Vorstellung, ein Individuum schaffe aus dem Nichts heraus etwas,
ist ein modernes westliches Konzept, das keine Grundlage in der
Realität hat. Jeder Schöpfer, jeder Darsteller schöpft aus dem breiten
Fluss früherer Schöpfungen. Bach, Shakespeare und tausende anderer
Künstler, nutzten, was sie vorfanden, gleich, ob aus der Vergangenheit
oder Gegenwart. Der zeitgenössische Originalitätsgedanke wird benutzt,
um die Kontrolle von Kreativität durch vornehmlich kommerzielle Halter
geistigen Eigentums zu rechtfertigen.

Das System ist verdorben

So gut wie niemand hat das Gefühl, etwas Falsches zu tun, wenn er eine
Audio- oder Videokassette in Raubkopie kauft oder Musik und Filme im
Internet tauscht. Viele Künstler sampeln Musik, Bilder und Texte, ohne
sich dabei schuldig zu fühlen. Warum auch? Trotz aller Strafen und
Propaganda zu Gunsten des Copyright-Systems lehnen es die meisten
intuitiv ab, ein Konzept zu internalisieren, das ihnen falsch
erscheint. Sie bezahlen schöpferische und darstellende Künstler gerne
für ihre Arbeit, aber sie glauben nicht an die monopolistische
Kontrolle von Kreativität.

Das Copyright-System stellt nicht einmal sicher, dass die Künstler für
ihre Arbeit anständig entlohnt werden. Untersuchungen haben ergeben,
dass 90 Prozent des Geldes, das für die Künstler gedacht ist,
lediglich an zehn Prozent der Künstler geht, während die übrigen zehn
Prozent des Geldes an die übrigen 90 Prozent der Künstler geht. Diese
Aufteilung der Gewinne ist offensichtlich verkehrt. Abgesehen davon
ist das Copyright-System wohl kaum der Grund dafür, das Künstler etwas
schaffen oder aufführen.

Wir können daraus schließen, dass Konzept und Praxis des Copyrights
nicht im Interesse der meisten Künstler liegt, auch nicht im Interesse
der öffentlichen Zugänglichkeit von Kultur. Wir erkennen allmählich,
dass das gegenwärtige System geistigen Eigentums nicht mehr reformiert
werden kann. Es ist verdorben durch die industriellen Interessen der
Kulturkonglomerate. Eine Rückkehr ist nur schwer vorstellbar, zumal
die Digitalisierung Herausforderungen an uns stellt, auf welche die
zugrundeliegende Philosophie der Autorenrechte keine Antwort bereit
hält.

Ist eine Alternative vorstellbar? Ich glaube schon. Aber bevor wir die
Alternative diskutieren können, müssen wir den ersten Schritt
betrachten. Manche Menschen mag dies schockieren, denn das Konzept des
Copyrights ist ein Glaubensartikel geworden. Wir wollen es dennoch
versuchen: Wir sollten das Copyright abschaffen. Dieser Forderung
lassen wir sogleich die Feststellung folgen, dass der spontane
Zusammenbruch des Copyrights im digitalen Bereich bereits eingesetzt
hat und nicht mehr aufzuhalten ist. Natürlich sollte jemand, der
beispielsweise einen Song komponiert, weiterhin das Recht haben, damit
Geld zu verdienen. Das impliziert eine Form von Eigentümerschaft, denn
es handelt sich nicht um den Song irgendeines Menschen, sondern um den
des Komponisten. Das Problem mit dem gegenwärtigen System von
Autorenrechten ist jedoch, dass die Eigentümerschaft sich auf einen zu
langen Zeitraum erstreckt - alles in allem bis zu einem Jahrhundert.
Und es ist zu umfassend, da es alles einschließt, was so ähnlich, ja
selbst entfernt so aussieht wie das fragliche Werk. Vor allem aber
blendet das Copyright aus, welch großen Einfluss das öffentliche
Eigentum an Wissen und Kreativität auf das Werk jedes Künstlers hat.
Kein Gedicht existiert ohne vorangegangene Gedichte. Das sollte zu dem
Schluss führen, dass das Eigentum eines Künstlers an seinem Werk im
Verhältnis zum gegenwärtigen status quo radikal eingeschränkt wird,
zeitlich und qualitativ.

Holt den Plagiator ins Boot

Ein Werk, das schnell populär wird, könnte schon nach einigen Monaten
ins öffentliche Eigentum überführt werden. Das passiert faktisch
ohnehin in den meisten Fällen. Ein anderes Werk mag fünf oder maximal
zehn Jahre brauchen. Je beliebter ein Werk wird, je größer seine
Verbreitung ist, in desto stärkerem Maße geht die Beziehung zwischen
Künstler und Endverbraucher verloren. Offenbar gibt es eine
"Massengrenze", wenn diese überschritten ist, "lässt" die
Eigentümerschaft "nach".

Die zweite Begrenzung der Eigentumsansprüche betrifft die Reichweite
eines Werkes. In allen Kulturen ist es Brauch gewesen, jedes beliebige
Kunstwerk zu bearbeiten, zu verändern, es kreativ zu nutzen. In
unserem heutigen westlichen Copyright-System ist dies verboten: Der
"Eigentümer" hat die Möglichkeit, den Plagiator vor Gericht zu zerren.
Dabei sollte das Gegenteil die Regel sein: Kreative Adaption und
Fortführung sollten gefördert werden, um stets neue künstlerische
Energien freizusetzen.

Warum wäre die Abschaffung des Copyrights ein Segen für die meisten
Künstler? Die radikale Beschränkung der Eigentümerschaft würde es
erheblich weniger attraktiv für die Kulturindustrie machen, gezielt in
einzelne Stars zu investieren, in Blockbuster-Filme, Bestseller und
Merchandising. Nach der Abschaffung des Copyrights hätte jeder die
Möglichkeit, Werke zu adaptieren, damit zu improvisieren, sie kreativ
zu verändern. Die "Produkte" der Kulturindustrie wären weniger
exklusiv. Diese könnte nicht länger das Umfeld ihrer "Produkte"
kontrollieren. Das hätte weit reichende Folgen. Die Kulturindustrie
würde ihren Krakengriff um die Kunstwerke verlieren, viele Künstler
hätten erheblich mehr Gelegenheit als bisher, kreativ zu sein, mit dem
Publikum zu kommunizieren und ein angemessenes Einkommen für ihre
Arbeit zu erzielen. Sie würden nicht länger von der Kulturindustrie
marginalisiert.

Schließlich fiele das Kontrollmonopol über Produktion, Verteilung und
Bewerbung von Kunstwerken weg. Wenn es in diesem Szenario irgendeine
Rolle für Einrichtungen gibt, die Geld für die Vervielfältigung von
Werken einnehmen (elektronisch oder nicht), dann ist es eine sehr
bescheidene. In jedem Falle muss die gegenwärtige, nahezu grenzenlose
Reichweite dieser Einrichtungen beschnitten werden. Wenn sie weiterhin
Geld einnehmen, sollte dies nur auf einer begrenzten Eigentümerschaft
basieren. Abgesehen davon sollte viel mehr Phantasie für die Frage
aufgewendet werden, welches System so vielen Künstlern wie möglich
einen fairen Anteil an den Einnahmen für ihre Werke zukommen lässt.

Nichts auf dieser Welt ist selbstverständlich und per definitionem
segensreich, nicht einmal unser westliches Copyright-System.

Der Autor lehrt Politische Wissenschaft der Künste an der
Kunsthochschule in Utrecht.

Deutsch von Alexander Menden

  
[Quelle: http://www.sueddeutsche.de/sz/feuilleton/red-artikel1698/ ]
Die Quelle ist inzwischen offline.

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