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[ox] Re: Interessengruppen und Klassen



Hi StefanS, El, alle!

BTW: Über Els Bemerkungen zu Klassen habe ich so herzlich gelacht wie
schon lange nicht mehr. Einfach Klasse :-) ;-) ! Kann ich nur
unterstützen. In meinem Sprachspiel: Es handelt sich um ganz
verschiedene Sprachspiele, in denen "Klasse" unterschiedliche
Bedeutungen hat. Eine Angabe des Sprachspiels wie z.B. in
"informatische Klasse", "gesellschaftliche Klasse", "abstrakte Klasse"
finde ich jedenfalls sehr hilfreich. Aus meiner Sicht ringen wir hier
alle um ein Verständnis nun wirklich nicht ganz trivialer
Zusammenhänge. Vorsicht in der Argumentation, Interesse an dem, was
andere zu sagen haben, und differenzierter Ausdruck und Wahrnehmung
sind dafür sicher nützlich. Ich habe jedenfalls in diesen Threads
schon *viel* gelernt :-) . Auch wenn es nicht immer nur eng an Freier
Software orientiert war - aber ich denke, dass wir da auch wieder hin
kommen.

So, genug der Vorrede. Nun zu Els und StefanS' Mails aus diesem
Thread.

Last week (9 days ago) Stefan Seefeld wrote:
Stefan Merten wrote:

Die Gruppen, die vor allem durch gemeinsame Merkmale definiert werden,
- - was StefanS hier als Klasse präzisiert hat - finde ich dagegen
schwierig. Hier wird zunächst mal von Außen(!) etwas an konkrete
Menschen herangetragen, wozu diese sich nicht selbst entschieden
haben.

Diesen Absatz verstehe ich nicht. Wieso von aussen ?

Du hattest es selbst andernmails nochmal gesagt: Die AutofahrerInnen
über die RadfahrerInnen. Hier werden von Außen - nämlich von den
AutofahrerInnen - Attribute an konkrete Menschen herangetragen -
nämlich die RadfahrerInnen. Da sah ich den Kern der Entfremdung: Da
das von Außen Herangetragene eben nicht mehr einer konkreten
Willensäußerung entspricht, ist es den RadfahrerInnen gegenüber eben
fremd / entfremdet.

Und wieso m"ussen
sich Menschen dazu entscheiden ?

Weil ich auf der Grundlage einer Willensäußerung - aka Entscheidung -
eine andere Basis für mein eigenes Handeln im emanzipatorischen Sinne
habe, als wenn diese Willensäußerung nicht vorliegt. Wenn "die
AutofahrerInnen" jetzt also Maßnahmen für oder gegen "die
RadfahrerInnen" ergreifen, dann kann das mit dem Willen "der
RadfahrerInnen" übereinstimmen - oder eben nicht. Im letzteren Fall
wäre dies dann eine Beschränkung von Handlungsmöglichkeiten, die nicht
selbstgewählt ist und von daher mal anti-emanzipatorisch.

Vielleicht hier nochmal explizit: Ich denke da momentan so dran rum.
Ich habe hier sicher noch keine feste Meinung. Andere Meinungen würden
mich interessieren.

Mir fällt gerade kein gutes Beispiel aus der Freien Software ein,
hmm... Aber da ist es ja auch tendenziell so, dass es eben
Kommunikationskanäle zumindest gibt. D.h. auch wenn keine
Willensäußerung ad hoc vorliegt, so gibt es doch Mittel und Wege
solche Willensäußerungen dennoch nachträglich zu bekommen. Das
funktioniert natürlich nur bei rückholbaren Entscheidungen - aber das
dürften bei der Freien Software die allermeisten sein. Wie gesagt -
ich denke da so dran rum ;-) .

Merkmale algemein, und Interessen
insbesondere, kannst Du auch dann tragen wenn Du Dir dessen nicht
bewusst bist, also insbesondere Dich nicht dazu 'entschieden' hast.

Das ist genau die Grauzone weswegen ich mir auch nicht sicher bin.
Manchmal ist es schicht nervig, sich für jeden Mist entscheiden zu
müssen - oder dagegen. Manchmal ist es einfach nicht so wichtig.
Vielleicht geht es wie oben: Wenn (rückholbare) Entscheidungen
nachträglich mit Willensäußerungen eingedeckt werden können?

Darin liegt m.E. der Kern von Entfremdung. Deswegen wäre ich

Das Wort 'Entfremdung' hast Du schon mehrmals benutzt, und immer
habe ich mich gefragt was Du damit meinst.

;-)

Na, auf jeden Fall ist es mein momentaner Lieblingsbegriff. Einen
eigenen Definitionsversuch wohl etwas abseits eingefahrener Wege habe
ich mal in

	http://www.opentheory.org/eigentum-begriffe/text.phtml#10

versucht. Benni war es glaube ich, der mal

	http://co-forum.de/index.php4?Entfremdung

erwähnt hatte. Wichtig für mich: Mir deucht, dass Entfremdung ein
Schlüsselbegriff ist, wenn wir über Emanzipation sprechen wollen. Wenn
ich es recht überblicke, dann gibt es wohl Leute, die das auch über
Marx sagen. Nicht den Marx der Arbeiterbewegung, sondern den eher
philosophischen Marx, der in der Entfremdung des Menschen von sich
selbst in der (Lohn)arbeit und überhaupt im warenproduzierenden System
das Hauptproblem sah.

hier sehr vorsichtig. BTW: Ich finde es witzig, wie die Klasse der
objektorientierten Programmierung und die politische Klasse hier
munter gemischt werden ;-) .

???

Na, das hat Nils und El ja nun gut auf den Punkt gebracht ;-) .

Konkret: Die Gruppe der RadfahrerInnen wird für mich erst dann in
emanzipatorischem Sinne diskutierbar, wenn sie sich als solche
konstituiert hat. Über Freie-Software-EntwicklerInnen im Allgemeinen

hmm, und wie kann sich die Gruppe konstituieren ? Oder besser: woraus ?

Nun wie sich Gruppen eben so konstituieren. Vor allem durch einen
entsprechenden Beschluss, der eine gewisse Öffentlichkeit braucht.

Wahrscheinlich muss das nicht immer so formalistisch gehen. Als ich
z.B. anno dunnemals diese Liste hier gegründet habe, da habe ich und
die, die von Anfang an dabei waren, quasi einen impliziten Beschluss
gefasst, dass es eine Gruppe von Leuten gibt, die sich für einen
bestimmten Themenkomplex interessieren und die darüber auf einer
Mailing-Liste diskutieren wollen. Öffentlichkeit war ja praktisch von
Anfang an da. Es kann also mit gewissem Recht gesagt werden, dass sich
hier eine Interessengruppe gebildet hat. Das lässt sich auch alles
nahtlos auf Freie-Software-Projekte übertragen.

Als Beispiel: Radfahrer bilden hiernach eine *Klasse*, weil sie alle
radfahren -- das ist nichts als ein gemeinsames Merkmal. Eine *Gruppe*
aber bilden sie, weil sich bspw. die Situation des einzelnen
Radfahrers mit sinkender Anzahl von Radfahrern tendenziell
verschlechtert (-- oder verbessert, je nach dem).

BTW: Wenn ich das irgendwo richtig aufgeschnappt habe, dann werden
solche Menschengruppen, die durch gemeinsame Merkmale gekennzeichnet
sind, wohl in manchen Sprachspielen als soziologische Gruppen
bezeichnet.

Das würde ich dann doch lieber die RadfahrerInnen fragen. Oder
genauer: Sie sollten sich zu einer Interessengruppe organisieren, wenn
das für sie so ist.

ah, hier ist ja noch ein Gruppenbegriff ! Nun werden mir auch Deine
obigen Bemerkungen ein wenig klar. Gruppe als Institution.

Ja, der Begriff der Institution hängt hier sicher irgendwie mit drin.
Kam ja schon in den Debatten mit ThomasBe zu Adorno auch zur Sprache.
Eine Institutionalisierung der Gruppe ist aus meiner Sicht vor allem
eine Verfestigung einer bestehenden Struktur.

Nein, ich führe hier jetzt *nicht* den Projekt Oekonux e.V. auf, weil
ich den nur für ein Notwendigkeit halte um mit der bürgerlichen Welt
besser klar zu kommen. Ein Projekt wie Oekonux lässt sich m.E. durch
bürgerliche Formen nicht adäquat institutionalisieren.

Das scheint mir nur eine leicht ver"anderte Variante des schon diskutierten
Gruppenbegriffs, der Bewusstsein voraussetzt.
Die Entstehung so einer 'Interessengruppe' aus einer Gruppe im Sinne von
Casimir ist dann tats"achlich ein emanzipatorischer Prozess.

Ja, mir scheint es da auch einiges an Deckung zu geben - aber mehr
dazu unten.

Um mal eben den Bogen zurück zu schlagen zu der Ausgangsfrage der
Herrschaft / H. in Freier Software: Die Leute in
Freien-Software-EntwicklerInnen-Gruppen - die sicher ohne Weiteres als
Interessengruppen durchgehen - handeln mit Bezug auf diese Gruppe. Um
zu klären, wie dieser Bezug genau aussieht und funktioniert, ist es
m.E. unabdingbar, das Konzept von Gruppe zu haben.

hier also nochmal: ich w"urde gern zur"uck zum allgemeineren Gruppenbegriff
wie ihn Casimir diskutiert hat. Freie Software f"angt lange vor der
Institutionalisierung zu einer 'Interessengruppe' an, und ich finde es
insbesondere interessant die wirkenden Kr"afte zu studieren, die dazu
beitragen/beigetragen haben, dass Freie Software m"oglich ist.

Ja. Wie gesagt, ich bin hier auch nicht so richtig sicher. Ok,
vielleicht macht das Sinn: Eine Interessengruppe kann es auch vor
deren expliziter Institutionalisierung geben. Bei Freier Software z.B.
die Zeit, als es den Begriff "Freie Software" noch nicht gab.

Im emanzipatorischen Sinne problematisch wird es eben dann, wenn von
Außen solche Zuschreibungen vorgenommen werden. Dann trampelt es über
die Leute tendenziell hinweg. Hier ist also maximale Vorsicht und
haufenweise Korrektive nötig.

Zu deinen anderen Fragen mache ich mal einen neuen Sub-Thread.

Nun zu einigem von El.

6 days ago Casimir Purzelbaum wrote:
Ich plädiere dafür den Begriff Klasse nicht so leichtfertig zu
gebrauchen.  Für Menschen, die mit der objektorientierten
Programmierung vertraut sind ist das verständlich, aber für andere
dann wieder unverständlich/missverständlich. Der Begriff Gruppe
trifft das bis jetzt diskutierte besser, da die mathematische und
gesellschaftliche Gruppe gleich (oder ähnlich) geblildet wird.

Deswegen hatte mich ja Stefan genau darauf hingewiesen, daß ich
aufpassen soll, nicht Klassen und Gruppen durcheinander zu werfen. Und
deswegen bemühe ich mich ja um eine klare Abgrenzung der Begriffe.

Da bin ich aber zu dem Schluß gekommen, daß es sinnvoll sein könnte,
nicht nur zwischen "Klassen" (im weitesten Sinne) und Gruppen zu
unterscheiden, sondern eben auch zwischen Gruppen (allgemein) und
solchen Gruppen, die sich durch einen aktiven Bezug der dazugehörigen
Menschen zur Gruppe auszeichnen: man könnte sie bspw. Gemeinschaften
nennen. (Oder weckt das dann wieder falsche Assoziationen?)

Hmm... Wo ich es jetzt nochmal lese: Ist die Institutionalisierung
vielleicht das, was die Gruppe zur Gemeinschaft macht?

Nur nochmal zur Aufzählung, wie ich das Begriffsfeld mittlerweile
unterteilen würde und auch nochmal in Verbindung mit der Gruppe als
Handlungsrahmen, den ich in einem anderen Sub-Thread mal postuliert
hatte:

* Klasse / soziologische Gruppe

  Zeichnet sich durch gemeinsame Merkmale aus, die irgendwer
  feststellen kann. Z.B. RadfahrerInnen, BrillenträgerInnen, ...

  Einen Handlungsrahmen gibt so etwas grundsätzlich nicht her. Gibt es
  einen Handlungsrahmen her, dann ist es keine Klasse / soziologische
  Gruppe mehr sondern schon etwas anderes.

* Interessengruppe ohne Institutionalisierung

  Zeichnet sich durch ein allen Beteiligten / Mitgliedern gemeinsames
  Interesse aus. Freie-Software-Projekte sind z.B. mindestens
  solcherlei.

  Je nachdem wer das gemeinsame Interesse feststellt ist die
  Abgrenzung gegenüber der Klasse schwierig. Vielleicht kann es so
  gesehen werden, dass auch die Interessengruppe das gemeinsame
  Interesse selbst feststellen kann - auch wenn es jemensch von Außen
  zuerst gesehen hat.

  Ein Handlungsrahmen bildet eine solche Interessengruppe sicherlich.
  Allerdings einen eher losen und vielleicht wenig bewussten.

* Interessengruppe mit Institutionalisierung / Gemeinschaft

  Hier wäre dann der explizite Schritt vollzogen, wo sich mehrere
  Menschen zu gemeinsamem Handeln zur Erreichung bestimmter Ziele
  bekennen.

  Eine solche Interessengruppe mit Institutionalisierung /
  Gemeinschaft bildet für das individuelle Handeln im jeweiligen
  Lebensbereich einen starken Handlungsrahmen. Das Bekenntnis und die
  Bindung an die entsprechende Gruppe bilden hier die Grundlage.

Demnach wäre jede Gemeinschaft eine Gruppe, aber nicht jede Gruppe
eine Gemeinschaft. Und jede Gruppe wäre eine Klasse (im Sinne der
Klassifikation), aber nicht jede Klasse (blablabla) wäre eine Gruppe.

Passt das mit der oben vorgeschlagenen Dreiteilung?

Somit könnte ich mit den Radfahrern wie folgt weitermachen: wenn sie
sich also jetzt zusammenschließen, dann bilden sie eine
Gemeinschaft. Das Verhältnis zwischen Gemeinschaft (in diesem Sinne)
und Gruppe (in meinem Sinne) zu betrachten, dürfte übrigens gar nicht
uninteressant sein: Die Gruppe der Radfahrer wäre größer als die
Gemeinschaft der Radfahrer...

Ja.

Ein Lobbyist hingegen, der für die
Interessengemeinschaft arbeitet, aber selber gar "keine Zeit" hat
radzufahren, wäre dann zwar ein Mitglied der Radfahrergemeinschaft
aber keins der Gruppe der Radfahrer. Dieser Unterschied ist
beispielsweise für die Arbeiterbewegung immer ein wichtiger gewesen:
es gibt Leute, die gehören objektiv zur Gruppe der Arbeiter (oder
neudeutsch: Arbeitnehmer)(also auch zur Klasse Proletariat), "machen
sich aber nicht mit ihr gemein" oder vertreten gar Interessen, die
nicht die ihren sind, oder so...

Und ist in vielen Fällen auch ein ziemliches Problem gewesen... Einer
der Gründe, warum ich irgendwie davon weg will.

Auch das würde ich übrigens als einen Entfremdungsprozess begreifen.

Und dieses Problem dürfte man auch
sehr verbreitet unter Softwareproduzenten und -Konsumenten
bzw. -Anwendern beobachten können, oder?

Du meinst, dass Software-EntwicklerInnen Software entwickeln, die sie
nicht selbst nutzen? Hmm... Ja, da gibt es tendenziell diese Spaltung
auch. Hilft hier nicht Transparenz, offene Kommunikationskanäle,
Einflußmöglichkeiten? Ist es nicht das, was bei den erwähnten
Beispielen eben oft nicht der Fall war?


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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