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[ox] Re: Zur Hierarchie



Hi Casimir und Liste!

Last week (13 days ago) Casimir Purzelbaum wrote:
Ref.: 	«Zur Hierarchie (was: Re: [ox] aHa!)»
 		Stefan Merten
 		(2003-03-17, 14:58:35 +0100, KW 12/2003)

IIRC ist die Lexikonübersetzung wohl "heilige Herrschaft" - der
Begriff stammt wohl tatsächlich aus der (nur christlichen?) Kirche.

Vielleicht wäre aber auch "Rangordnung unter den Heiligen" (Priestern
bzw. Engeln) eine adäquatere Übertragung ins Neudeutsche?

Ich zitiere einfach mal der Vollständigkeit den ganzen Absatz [dtv
Brockhaus Lexikon, 1989; Expansion der Abkürzungen von mir]:

  **Hierarchie** [griechisch "heilige. Herrschaft"], die nach
  Ranstufen gegliederte Herrschaft; im übertragenen Sinn auch zur
  Kennzeichnung einer Ordnung mit von oben nach unten abnehmendem
  Bedeutungsgehalt verwendet.

  1) katholisches Kirchenrecht: die Gesamtheit des Klerus und dessen
     Rangordnung, gegliedert in die *Weihe-Hierarchie* (nach
     göttlichem Recht jeder kirchlichen Abänderung entzogen: Bischöfe,
     Priester, Diakone) und die *Jurisdiktions-Hierarchie* (nach
     göttlichem Recht: Papst und Bischöfe). Die Eingliederung in die
     Weihe-Hierarchie geschieht durch Empfang der Weihe, die in der
     Jurisdiktions-Hierarchie beim Papst durch die Annahme der Wahl,
     bei allen anderen durch die Erteilung der Missio canonica.

  2) Gliederung von sozialen Organisationen durch ein eindeutig
     festgelegtes System der Unter- und Überordnung in einer
     überwiegend vertikalen Rangfolge der Mitglieder, deren Weisungs-
     und Entscheidungsbefugnis bei abnehmender Zahl von unten nach
     oben zunimmt (pyramidenförmiger Aufbau).

Zumindest danach geht es also ganz klar um das Diesseits.

Was mir hier bei Betrachtung der Bedeutung im katholischen
Kirchenrecht kommt: Hier ist die Dynamik abgeschafft. Insbesondere die
Weihe-Hierarchie ist als solche ja wohl nur zusammen mit dem gesamten
Laden abzuschaffen. Die Möglichkeit zur Dynamik scheint mir aber ein
wichtiger Aspekt wenn's emanzipatorisch werden soll - zumindest im
europäisch geprägten Raum zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Vielleicht hat man einfach erst in ihrem Zusammenhang so gründlich
über das Phänomen hierarchischer Strukturen "nachgedacht", daß man
gerade in diesem Zusammenhang erst auf einen feststehenden Begriff
gekommen ist, den man in Folge maßgeblich erweitern konnte, als sich
die Weltsicht (-wahrnehmung!) entsprechend erweitert hat --?

Das wäre einen Gedanken wert - aber da haben bestimmt schon viele
drüber nachgedacht.

Im Lichte der hiesigen Debatten ist das "heilig" daran selbstredend
hochverdächtig.

Dies wäre dann nicht mehr der Fall, weil die spezifische
Zusammensetzung des Wortes dann historisch, als bloßer Ausgangspunkt,
quasi als Aufhänger, erklärt wäre...

Ja. Zugegeben: Ich argumentiere aus einer sehr säkularen Weltsicht.

Das "heilig" bezieht sich ja gerade auf im wahrsten Sinne des
Wortes transzendente Institutionen (z.B. Gott), die die Herrschaft
legitimieren.

Wenn aber das Wort Hierarchie als Beschreibung der Ordnung unter den
Heiligen erdacht wurde, dann ist es nicht Grundlage ein transzendenten
Bezugs, sondern nur sein _Ausdruck_.

Und _Ausdruck_ eines transzendenten Bezugs ist das Wort Hierarchie
auch in seiner modernen Bedeutung allemal.

Ja. Aber ich bin nicht sicher, ob ich deinen Punkt verstanden habe.

Ach so: Du meinst, dass die Hierarchie nur einen transzendenten Bezug
*ausdrückt*, der aber auf einer anderen Grundlage entstanden ist.
Richtig? Ja, da ist was dran.

Ebenso, übrigens, wie das
Wort Struktur: Sie verweisen auf einen Zusammenhang, in welchem
Komponenten sich befinden, welcher ihnen (angeblich) nicht immanent,
ihnen also übergeordnet ist. Diese Worte weisen im Grunde darauf hin,
daß die Komponenten der jeweiligen Hierarchie / Struktur gar nicht
einzeln betrachtet werden können, weil sie nur in dem durch die
Hierarchie bzw. Struktur beschriebenen Zusammenhang existieren
(können). Sie beschreiben also die Grenzen der Immanenz.

Ein schwieriges Feld. Ich tendiere mittlerweile dazu, verschiedene
Perspektiven zu unterscheiden. Je nach Perspektive ist eine Struktur
dann eben äußerlich und eben nicht immanent oder sie ist gerade das,
was betrachtet wird - dann ist sie voll immanent.

Als Beispiel könnte ich Computer-Technik nehmen - da wimmelt es nur so
von Hierarchien. Betrachte ich die Elektronen, die da durch die
Leiterbahnen und Chips strömen, dann kann ich schon durchaus
interessante Betrachtungen anstellen - z.B. wieviele Elektronen da so
fließen und wie hoch dementsprechend Strombedarf und Verlustleistung /
Wärmeentwicklung ist.

Auf einer den Elektronen nicht immanenten Ebene kann ich dann von
Transistoren, logischen Gattern etc. sprechen. Das abstrahiert von den
konkreten Elektronen, nimmt einen bestimmten Teilaspekt ihres
Verhaltens und packt ihn in eine Struktur. *Auf dieser Struktur*
wiederum kann ich ganz neue Dinge betrachten, die ohne diese Struktur
gar nicht erkennbar wären (= Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten).
Ich würde aber meinen, dass es sich hier um eine Immanenz auf einem
anderen Gebiet handelt.

Das Ganze kann munter fortgesetzt werden bis hin zum Internet als
riesige Computer-Verbundstruktur.

Der Unterschied zur Technik besteht aber nun gerade darin, dass weder
Elektronen noch Gatter noch Programme Bedürfnisse haben (das sage ich,
ohne zu wissen, wie die Elektronen darüber denken ;-)-: ). Sie sind
einfach Material, das Menschen nach Gutdünken verwenden können.

Diese Grenzen geraten einem aber leicht aus den Augen, wenn man dazu
neigt, übergeordnete Zusammenhänge zu vernachlässigen:

Das kann also irgendwie nicht emanzipatorisch sein, da diese
transzendenten Bezüge halt einerseits über die Menschen drüber weg
brettern und eben nicht ihre Bedürfnisse berücksichtigen.

Hierarchien entstehen nicht gegen die Bedürfnisse ihrer
Komponenten. Auch die Hierarchie der Priester oder der Engel
brettert(e) nicht über "die Menschen" hinweg! Es sei denn man erklärt
sich die Herausbildung von Strukturen und Hierarchien ausschließlich
verschwörungstheoretisch.

Das scheint mit in der Tat ein Mega-Trend zu sein. Ich stimme dir aber
völlig zu, dass das einfach zu kurz gedacht ist:

Die Hierarchisierung der Gesellschaft ist
immer eine Folge ihrer historisch-spezifischen "Bedürfnisse", mithin
der Bedürfnisse der Menschen, aus denen sich diese Gesellschaften
zusammensetz(t)en.

Ich würde auch auf jeden Fall festhalten, dass es da einen
Zusammenhang gibt.

Zum Beispiel: keine Kornspeicher und keine Bewässerungsanlagen ohne
verantwortliche Strukturen, sprich: ohne Hierarchie. Diese Hierarchien
waren nicht antastbarer als irgendwelche ausdrücklich "heilig"
genannten -- und sie entsprangen den Bedürfnissen der Menschen nach
Emanzipation aus der allzu engen Abhängigkeit von der Wankelmütigkeit
der Natur.

Dein Beispiel bringt auch sehr schön den Organisationsaspekt ins Bild,
den ThomasBe hervorgehoben hatte.

Aber auch die Heiligkeit(en) an sich (also im geistigen
bzw. geistlichen Sinne) entspringen dem Bedürfnis nach Emanzipation,
wie Dir jeder konvertierte Gläubige bestätigen wird, der sein
Bekenntnis zum Glauben (an irgendwas Transzendentes) als Befreiung
empfindet... ;-) (-- das ist zwar was anderes als vor "einigen"
Jahrhunderten, steht aber trotzdem in ähnlichem Zusammenhang.)

Definitiv. Vielleicht ist es ja auch nur aus einer ganz bestimmten
Perspektive transzendent. Ich weiß nicht, ob Gott bei einem Menschen,
der fest von einer persönlichen, konkret stattgefunden habenden
Gotteserfahrung ausgeht, noch von Transzendenz geredet werden sollte.
Ist nicht vielmehr eine solche Behauptung dann bezogen auf diesen
Menschen transzendent?

Hierarchien haben also in meinen Augen weder auf der materiellen noch
auf der ideellen Ebene etwas (ausschließlich) anti-emanzipatorisches
an sich. Ganz im Gegenteil. Sie fördern die Stabilität (-- wie Du ja
weiter unten selber sehr ausführlich beschrieben hast --) und sind
somit einerseits Garant für das Bestehen von etwas Bestehendem, als
auch für das Entstehen von etwas Neuem -- als auch... für die
"Verkrustung" des "alten Neuen" gegenüber etwas neuem Neuen! -- Nur
darf man diesen letzten Aspekt nicht separat betrachten und zum Anlaß
nehmen, den positiven Zusammenhang zwischen Strukturen / Hierarchien /
Institutionen einerseits und dem Prozeß der Emanzipation andererseits
zu negieren.

Du sprichst mir aus der Seele :-) .

... Gäbe es vielleicht auch noch was zu überlegen / differenzieren.

Ich hoffe, ich bin Deinem Anspruch ein bischen gerecht geworden ;-)

Oh je wenn du da Zweifel hast :-( . Ja, es ist sehr anspruchsvoll das
Niveau. Aber ich denke, dass wir dieses Niveau brauchen wenn wir was
lernen wollen - oder?

... Gleichzeitig tut jede Ordnung / Struktur den Dingen natürlich
auch irgendwie Gewalt an, indem es die Dinge in ihnen äußerliche
Strukturen einsortiert. Wohl eine unauflösbare Spannung.

Alle(?) Dinge, die wir uns vorstellen können, existieren nur aufgrund
ihrer Struktur -- und zwar, sofern dies keine (im direkten oder
übertragenen Sinn) flache Struktur ist, ihrer hierarchischen Struktur.

Und das bezieht sich nicht nur auf "irgendwelche Objekte unserer
Umwelt", sondern auch auf die menschliche Gesellschaft in jeglicher
Ausprägung. -- Oder etwa nicht?

Schon. Aber in emanzipatorischer Perspektive gibt es einen Unterschied
zwischen Elektronen und Menschen. Daran macht sich vor allem fest,
wozu du meinst:

Ich möchte also vor allem folgenden Gedanken ausdrücklich bestreiten:

Ist Hierarchie also bezogen auf irgendwelche Objekte unserer Umwelt
ein nützlich Ding, so ändert sich das Bild wenn wir es auf Menschen
projizieren. Just die Aspekte von Hierarchie, die bei Objekten
sinnvoll sind, sind es bei Menschen unter emanzipatorischer Perspektive
gerade nicht. Die bei Objekten nützliche Abstraktion heißt bei
Menschen tendenziell ein Verlassen der konkreten Bedürfnislage. Je
weiter die Abstraktion geht, desto stärker verschwinden die je
konkreten Bedürfnisse. Menschen werden in solchen abstrakten Gebilden
schnell zur reinen Funktion und damit eines Teils ihres Menschseins
beraubt.

Ich würde schon betonen, dass hier ganz besondere Vorsicht angebracht
ist. Auch was die Abstraktion betrifft.

---

Mir scheint Dein Blickwinkel unterscheidet sich von meinem darin, daß
Du in der Bezeichnung Hierarchie sozusagen die Heilig*sprechung* einer
subjektiv angestrebten Herrschaftsstruktur siehst, während ich in ihr
einen Ausdruck der bzw. für die real-existierenden Strukturen
(einschl. Herrschaftsstrukturen) sehe.

Ja, aber zumindest gibt es diese Heiligsprechung durchaus. Aber dazu
können vielleicht die Leute mehr sagen, die mit Verve diesen Aspekt
der Heiligsprechung als Leitidee vertreten.

Mir scheint, daß es früher durchaus üblich war, dasjenige als heilig
zu empfinden, was real zu sein schien und worin man einen Sinn zu
erkennen vermeinte. Daß (vermeintliche) Erkenntnis auch durch
Manipulation erzeugt und/oder im Sinne partikularer Interessen
mißbraucht werden kann, darf nicht zur Verurteilung der Erkenntnis
führen.

Wofür ich letztlich plädiere ist eigentlich, immer genau hin zu
schauen und die konkreten Menschen mit ihren konkreten Bedürfnissen
nie aus dem Auge zu verlieren. Das als Maßgabe genommen lässt sich
auch mit einigermaßen Sicherheit zwischen Heiligsprechung und
emanzipatorisch legitimer Struktur unterscheiden.

Die Abstraktion, die eine Hierarchie also leistet, bedeutet bezogen
auf Menschen also eine Entfremdung von ihnen.

Abstraktion ist eins der Momente der Erkenntnis, mehr nicht.

Und zur "Entfremdung" (bzw. zum Hindernis bezüglich der
Bedürfnisbefriedigung und der Emanzipation) führt auch das Gegenteil,
der Mangel an Abstraktion, das (Über-)Betonen von Partikular- oder
Individualinteressen, das Verkennen von Zusammenhängen und
Gemeinsamkeiten etc.

Kurz: Nur eine schlechte Abstraktion ist eine schlechte Abstraktion!

Vielleicht hast du einfach recht :-) .


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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