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[ox] Stichpunkte aus deinem Vortrag



Liebe Oekonuxis,

eigentlich hatte ich ja zur Konferenz schon Gundolf Freyermuth
eingeladen, der aber leider aus Termingründen nicht kommen konnte.
Weil er mich aber wirklich interessiert hat, hatten wir ihn im Rahmen
der Kritischen Uni Kaiserslautern eingeladen
[http://www.merten-home.de/KritischeUni/veranstalt/02w/030123.html].
Ich kann nur sagen: Sehr interessant!!

Neben Pekka Himanen halte ich Gundolf für einen der wenigen, die eine
ähnliche Sicht auf die aktuellen Entwicklungen haben, wie sie in
Oekonux entstanden ist. Auch wenn Gundolf von einem ganz anderen, eher
geistes- / kultur- / medienwissenschaftlichen Ansatz her kommt, landet
er doch vielfach auf ganz ähnliche Ergebnisse wie wir. Hier können wir
sicher noch viel lernen! (Und er von uns :-) .)

Während seines (sehr guten) Vortrags habe ich mir einige Stichworte
aufgeschrieben, die ich euch nachfolgend wiedergeben möchte. Hat sich
ein wenig verzögert, weil ich es noch mit ihm abstimmen wollte. Ich
habe auch eine Tonaufzeichnung des Vortrags gemacht, die nach einer
Nachbearbeitung ganz gut geworden ist. Die 20MB MP3-Datei findet ihr
für's Erste unter

	http://merten-home.onlinehome.de/030123_kl-freyermuth-alles.mp3

Hören lohnt sich auf jeden Fall!


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

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Notizen zu Gundolf Freyermuth's Vortrag "Die neue Hack-Ordnung -- Mit
Open Source kommt die digitale Ordnung der Dinge", 23.01.03,
Kaiserslautern


Thesen
------

* Grundthese: Wir befinden uns im Übergang von einer auf industrieller
  Technologie beruhenden Zivilisation zu einer, die auf digitaler
  Technologie beruht. Die Open-Source-Praxis (ungleich
  Open-Source-Bewegung) wird dafür eine ähnlich zentrale Rolle
  spielen, wie sie Taylorismus und Fordismus für den Übergang zur
  industriellen Zivilisation gespielt hat. Sie wird bis in die letzten
  Ritzen der Gesellschaft vordringen.

* Entscheidend bei der digitalen Technologie sind die zwei Tendenzen
  zur Privatisierung (individuelle Verfügung) und zur Personalisierung
  (individuelle Anpassung)

* Beide Thesen, sagt Freyermuth, wird er hier nur im speziellen
  Hinblick auf die Open-Source-Praxis darstellen, sie werden aber in
  seinem nächstem Buch (seiner Dissertation) zum Ursprung digitaler
  Kunst und Unterhaltung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
  grundsätzlich und ausführlich entwickelt.

Zum Verhältnis von Zivilisation und Technologie
-----------------------------------------------

* Vorindustriell gab es keine Technologie im heutigen Sinne, da
  technischer Wandel sich außerhalb der Lebensspanne eines Menschen
  vollzogen hat

* Die Aufklärung hat Fortschritt quasi als geschichtsmächtig behauptet

* Marx hat das technologische / industrielle Denken praktisch
  eingeführt

* Foucault hat die Technologie quasi wieder exorziert, womit einige
  Phänomene unverständlich werden

* Nach Fukuyama (der oft falsch zitiert wird) verschiebt sich das
  Primat von der Politik weg hin zur Technologie

* These: Es gibt einen Zusammenhang zwischen technologischer und
  zivilisatorischer Entwicklung

  1. Technologie schafft Rahmenbedingungen für Zivilisation

     - Das dürfte klar sein

  2. Zivilisation entwickelt sich durch den eigenwilligen, ungeplanten
     Einsatz von Technologie weiter

     - Viele wichtige Entwicklungen sind unbeabsichtigte Ergebnisse

     - Neben vielen anderen Beispielen: das Internet

     - Die digitale Technologie treibt die Exaptation auf die Spitze

     - Begriff: Exaptation (Gegenteil von Adaptation, sinnvolle
       Zweckentfremdung, kreative Nutzung)

     - Historisch bedeutendste Exaptation ist das menschliche Gehirn,
       das nichts anderes als eine sinnvolle Zweckentfremdung des
       zentralen Steuerorgans eines prähominiden Steppenbewohners
       darstellt


Abriss über die Kulturgeschichte digitaler Technologie
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* Pionierzeit (bis Ende der 1960er)

  - Fundamente innerhalb weniger Monate in 1945 gelegt durch von
    Neumann (Entwurf des Computers) und Shannon (grundsätzliche
    Digitalisierbarkeit aller analogen Artefakte)

  - Digitale Technologie im industriellen Korsett

    - Verfügung ist strikt geregelt

    - Nicht-private, nicht-personalisierte Großtechnik

    - Hierarchien, Konkurrenz

  - Anfang 1960er: NutzerInnen entwickeln aus Unzufriedenheit
    Time-Sharing-Systeme

  - Damals wurde die Basis für Open-Source-Praxis gelegt

  - Impuls: "Diesen Taylorismus machen wir nicht mehr mit!"

  - Es erfolgte eine Selbstermächtigung, die die industriellen
    Grenzen, die der digitalen Technik auferlegt waren, sprengten

* Gründerzeit (bis Ende der 1980er Jahre)

  - Mikroprozessoren, Unix, Spiele, ..., Internet

  - Wichtigster Faktor: Doppeltes Upgrade des Peer-Review

    1. Zeitfaktor

       - Peer-Review dauerte vorher Ewigkeiten

       - Fand vorher post festum statt

       - Jetzt Peer-Review tendenziell unter Echtzeitbedingungen

       - Damit wird das Peer-Review von einer post-festum-Kritik zur
         Produktionstechnik

       - Dies ist eine kategoriale Veränderung!

    2. Demokratisierung

       - Vorher war Peer-Review nur wenigen vorbehalten und von
         Verlagen organisiert

       - Heute steht Peer-Review allen zur Verfügung

* Steinzeit der digitalen Zivilisation (heute)

  - Entscheidende Neuerung durch Torvalds Arbeitsorganisation

    - Aufgabenorientierung

    - Zeitsouveränität

    - Globale Offenheit statt lokale Geheimniskrämerei

    - Einbeziehung von Fremden

    - Eigenverantwortlichkeit statt Verwaltung und Kontrolle

    - Peer-Review statt Beurteilung durch Vorgesetzte

    - => Radikaler Anti-Taylorismus


Kulturelle und regionale Wurzeln der Open-Source-Praxis
-------------------------------------------------------

* In den USA

  - Technik als messianische Hoffnung

  - Gründerjahre fanden weitgehend an der Westküste statt

  - USA hat starke Tradition von Techniknutzung - auch zur Änderung
    des Lebens

  - Beispiel: Büroautomation passte in Europa nicht in die
    überkommenen Hierarchien

* Westküste als fortgeschrittenstes postindustrielles Gebiet

  - Praktisch keine klassische Industrie

  - Kalifornien: Anti-Industrialismus wae nicht gleichzeitig
    anti-technisch

  - Verbindung von Hippies und Hackern

  - Hobby-Bewegung, die selbst den PC herbeibastelt führt zum
    Überfluss von Rechentechnik

  - Bei Freier Software ist jede Exaptation möglich

* In das Fließband ist das Kollektiv eingebaut - in den PC das
  Individuum


Die digitale Ordnung des Wissens
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* Entscheidend beim Wissen: Verfügbarkeit in Form von Besitz und
  Ordnung

* Industrielle Ordnung der Bücher durch Signaturen und Dezimalsystem

  - Ordnung nach dem bürokratischen Hausnummernsystem aus der
    Frühphase der Industrialisierung

  - Überwindung der ersten industriellen Ordnung: Microfiches und
    Distribution überall hin

* Früher Überwindungsversuch: Memex

  - Von Bush, Lehrer von Shannon, Pionier analoger Computer

  - Auf Basis von analogen Computern

  - Sucht Fotokopien raus

  - Ideen: Menschen denken assoziativ => Wissen nach eigenen Gedanken
    sortieren und suchen

* Berners-Lee: Gleiches Problem => World Wide Web

  - URL: Neue, globale Verknüpfung des Wissens

  - Problem an der Wurzel angehen: Bei der Publikation

  - Dadurch entsteht:

    - Privatisierung der Verfügung weil für alle jederzeit zugreifbar

    - Personalisierung des Gebrauchs weil für je eigene Zwecke
      verlinkbar

* Musikindustrie

  - Liefert nur noch Rückzugsgefechte - die sehr lange dauern können

  - Bürgerliche Revolution hat Klöster und Privatbibliotheken
    enteignet um das Wissen in öffentlichen Bibliotheken zugänglich zu
    machen

  - Dies blüht heute den Musik- und anderen Copyright-Konzernen, weil
    vollständiger Echtzeit-Zugang notwendig wird

  - DRM will die Kette auf den eigenen Computer bringen

  - Das wird sich nicht durchsetzen

* Entmaterialisierung dessen, was gewünscht wird

  - Nicht mehr Besitz des Mediums ist entscheidend

  - Vielmehr ist der Zugriff auf die Inhalte entscheidend

* Permanente Versionierung

  - Auflösung des Werks

  - Nichts ist final

  - Web-Installationen: Die Interaktion schafft erst das Kunstwerk

    - Privatisierung und Personalisierung in der Kunst

  - Wem gehören solche Werke?


Ausblick
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* Wir denken noch zu sehr in analoger, fixierter Welt

* Ersetzen durch Privatisierung und Personalisierung

* Fortgeschrittenste Branche liefert Leitideen für die ganze
  Gesellschaft (Organisation der Arbeit, Kunst, etc. pp.)

  - Heute: Software

  - Fortgeschrittenste Variante: Open Source


Aus der Diskussion
------------------

* Die digitale Ökonomie übernimmt die industrielle

* Warum klappt der anti-tayloristische Impuls hier?

  - Du musst die Technologie hinter dir haben, dann klappt so was

* Woher kommen die Brötchen?

  - Früher: "Eisenbahn kann man nicht essen"

* Zum Übergang

  - Manche Erfahrungen ließen sich leicht industrialisieren, andere
    nicht

  - Auch im Süden gibt es bei Einzelnen Privatisierung der Verfügung

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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