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Re: [ox] Re: Warum Herrschaftsdebatte?



Hi ThomasBe, StefanMz, FranzN und Liste!

Danke für deine neuen Worte. Die sind wenigstens bekannter als
Hutzliputzli. Aber sie verschleiern m.E. auch ein paar wichtige Teile.
Die unangenehmen halt, von denen wir hier wohl nicht so gerne sprechen
und die deswegen unter den Tisch geworfen werden :-( .

Last week (13 days ago) Thomas Berker wrote:
On Monday 13 January 2003 20:43, Stefan Merten wrote:
Eine einfache Frage dazu, die vielleicht schon auf den Kern der ganzen
Debatte zielt: Kann die Anwendung von Macht emanzipativ sein? Wenn ja:
Wann? Wenn nein: Was ist für dich Macht?

Die Unterscheidung von Holloway zwischen instrumenteller Macht (potestas)
und kreativer Macht (potencia) erscheint mir sehr sinnvoll. Hier auf der
Liste wurde schon oft zwischen "Durchsetzung auf Kosten anderer" und
"Selbstentfaltung, die die Entfaltung der anderen voraussetzt"
unterschieden. In der Kritischen Psychologie wird zwischen restriktiver
und verallgemeinerter Handlungsfähigkeit unterschieden. Das meint alles
ähnliches.

IMHO geht es darum, den Einsatz instrumenteller Macht zu unterbinden und
die Entfaltung kreativer Macht zu ermöglichen. Oder mehr oxig:
Bedingungen zu schaffen, in denen die eigene Entfaltung die Entfaltung
der anderen voraussetzt und umgekehrt.

Um das mit Herrschaft zu verknüpfen, würde ich sagen: Herrschaft braucht
die Anwendung instrumenteller Macht während die Entfaltung der kreativen
Macht die Herrschaftsfreiheit braucht.

Einig. Ich hatte sowas Aehnliches mal mit dem Begriff Ermaechtigung
probiert. Herrschaft ist dann emanzipativ, wenn sie Handeln ermoeglicht statt
einschraenkt.

Darauf kann ich mich auch sehr gut einlassen.

Aber ich wollte Herrschaft nicht mit mehr mit irgendeiner positiven
Konnotation verwenden, da damit offensichtlich zu viele
Missverständnisse ausgelöst werden. Ok, Sozialismus löst auch zu viele
Missverständnisse aus, weswegen ich auf diese Bezeichnung auch schon
länger verzichte. Für mich sind ohnehin die Inhalte wichtiger als die
Labels, also kann's mir egal sein.

Adorno hat das mal mit dem Begriff Organisation durchgespielt und der
passt dann vielleicht auch besser als Herrschaft.

Organisation könnte eine Bezeichnung für das sein, worum es mir seit
einem 3/4 Jahr geht. StefanMz hatte schon interindividuelle Regulation
vorgeschlagen, was in eine ähnliche Richtung geht.

Was mir an beiden Bezeichnungen nicht gefällt, ist, dass in ihnen die
Ausübung von Macht / Domination bestenfalls irgendwo im Hintergrund
vorkommt. Diese Ausübung von Macht / Domination ist aber m.E. ein
nicht unerheblichher Anteil dieser Tätigkeiten. Dass sie sich
(notwendig!) bis in das Design von Artefakten hinein fortsetzt und
schon deswegen nicht vermeidbar ist, darauf hatte ich kürzlich
andernthreads hingewiesen. Deswegen fand ich die Bezeichnung
Herrschaft / Hutzliputzli gar nicht so schlecht für diese Kategorie
und eine Verschleierung dieses Sachverhalts führt m.E. sehr schnell zu
dem, was wir hier wohl alle (möglichst strukturell) verhindern wollen:
Ausübung von Macht / Domination entgegen emanzipatorischer
Zielsetzungen. Oder genauer: Gegen die Bedürfnisse der Menschen.

Der Aufsatz heisst
Individuum und Organisation und darin wird _mehr_ Organisation gefordert und
begruendet unter welchen Bedingungen Organisation befreiend wirkt,

Hast du da einen Link?

naemlich dann,
wenn Organisation dem Willen aller Organisierten dient (wenn ich mich richtig
erinner).

Ja, das klingt durchaus vernünftig für mich.

Wichtig hier - und das hatte ich in der Debatte mit StefanMz mehrfach
versucht herauszuarbeiten - : Wer sind die "alle Organisierten"? Dass
es mit einem Staatsvolk nicht geht, ist glaube ich klar. Aber es gibt
m.E. sinnvoll zu betrachtende soziale Entitäten (mengenmäßig)
unterhalb eines Staatsvolks aber (mengenmäßig) oberhalb des
Individuums. Für solche Entitäten sind diese Fragen alles andere als
obsolet.

Die Frage wer das im Einzelfall ist wird m.E. vor allem dann spannend,
wenn die Ausübung von Macht / Domination nicht nur die Gruppe der
Organisierten(?) selbst betrifft, sondern auch andere.

Um's an einem ganz platten Beispiel klar zu machen: Die
Ozonloch-MaintainerInnen werden in ihrer Tätigkeit mindestens Hinweise
geben müssen, wie das Ozonloch verkleinert werden kann. Wenn wir von
den Modellen Freier Software ausgehen, dann sind die
Ozonloch-MaintainerInnen die Gruppe der Organisierten, die die im
Projekt sind. Dass deren (Selbstentfaltungs)-Interessen an einem
möglichst kleinen Ozonloch sich unmittelbar in ein
allgemein-menschliches Interesse übersetzt, dass dann alle nur ganz
munter befolgen, glaube ich aber auch unter
Selbstentfaltungsbedingungen nicht so recht. Hier wäre also der Punkt,
wo eine Organisation die Nicht-Organisierten dominieren müsste - oder?

M.E. ergibt sich aus dem relativ einfachen Massstab der Ermoeglichung von
Handeln aller ein ganzer eher altbekannter Rattenschwanz:

Ja, ich habe auch den Eindruck, dass vieles davon nicht wirklich neu
ist. Aber ich weise ja ohnehin ganz gerne auch auf die Kontinuitäten
hin ;-) .

Danke für die folgenden Kriterien.

*Transparenz* ist
noetig um fuer alle Mitglieder der Organisation entscheidbar zu machen, ob ihr
Handeln begrenzt wird,

Definitiv.

*Kontrolle* der Organisierenden brauchts, um im
Zweifelsfall antiemanzipatorische Organisation zu verhindern.

Was genau meint Kontrolle? Die Kontrolle (im deutschen, eher passiven
Sinne) ist ja durch die Transparenz schon weitgehend gegeben. Die
control (in englischen, auch aktiven Sinne) kann wie funktionieren?

*Freiwilligkeit* der
Mitgliedschaft ergibt sich als Muss aus unterschiedlichen Zwecken
unterschiedlicher Organisationen.

Ja. Und diese wiederum aus unterschiedlichen individuellen Interessen.
Wobei diese sich sowohl vom Inhalt her als auch von den
Schwerpunktsetzungen her unterscheiden können.

Ich füge noch ein paar Kriterien an:

*Einsicht* in die Sinnhaftigkeit von Maßnahmen / Organisation ist m.E.
ein weiterer Schlüssel. Wenn ich einsehe, dass eine Maßnahme in
irgendeinem Rahmen sinnvoll ist, auch wenn sie nicht gerade meine je
eigenen Interessen bedient, dann kann ich auch einer entsprechenden
Organisation folgen. StefanMz würde jetzt vermutlich argumentieren,
dass mit der Einsicht in eine Sinnhaftigkeit dann gerade diese
Interessen in den je eigenen aufgehen und mensch da gar nicht mehr
vernünftig unterscheiden kann. Eine Anwendung von "die
Selbstentfaltung aller ist Voraussetzung für meine Selbstentfaltung".
So hatte ich ihn jedenfalls verstanden.

*Machtverteilung* war ein Aspekt, den wir in seligen libertären Zeiten
immer wieder thematisiert haben. Das kam hier auch schon häufiger:
Zentralisierte Macht ist problematischer als dezentrale.

Kommunikation kommt mir noch in den Sinn, aber das scheint mir mehr
eine Technologie, mit der die genannten Kriterien erreicht werden als
dass es ein eigenständiges Kriterium ist.

Ganz weit dahinter steckt freilich der Glaube an letztendliche
Konfliktaufhebung in einer befreiten, wahrhaft rational organisierten Gesellschaft. Da bin
ich mir nicht mehr ganz so sicher, wie ichs mal war.

Absolute Konfliktaufhebung kann es nur geben, wenn es eine absolute
Wahrheit gibt. Das hatte ich ja andernthreads heftig bestritten. Mir
würde es aber schon vollauf genügen, wenn wir Konfliktlösungsformen
finden würden, die weniger gewalttätig sind als die, die uns täglich
vor Augen geführt werden.

Wichtig aber daran: Rationalität. Würde ich hier nicht eng im Sinne
von verstandesmäßig verstehen, sondern in einen individuellen Bezug
nehmen. Wie es individuelle Wahrheiten gibt, gibt es dann auch
individuelle Rationalitäten. Mit einer konsequenten Anerkennung
individueller Rationalitäten - und ist das nicht letztlich das, was
Immanenz meint? - kann ich aber mit Konflikten ganz anders umgehen.

Last week (13 days ago) Thomas Berker wrote:
Tuesday, January 14, 2003, 2:05:01 PM, Stefan Mz wrote:
Zitiere Thomas Berker <thomas.berker gmx.de>:
M.E. ergibt sich aus dem relativ einfachen Massstab der Ermoeglichung von
Handeln aller ein ganzer eher altbekannter Rattenschwanz: *Transparenz* ist
noetig um fuer alle Mitglieder der Organisation entscheidbar zu machen, ob ihr
Handeln begrenzt wird, *Kontrolle* der Organisierenden brauchts, um im
Zweifelsfall antiemanzipatorische Organisation zu verhindern. *Freiwilligkeit*
der Mitgliedschaft ergibt sich als Muss aus unterschiedlichen Zwecken
unterschiedlicher Organisationen.

Ja, genau. Und IMHO gibt es nun die historische Erfahrung, dass das nicht
funktioniert.

Wenn, StefanMz, wenn das so eine breite historische Erfahrung ist,
dann würde ich doch mal um ein paar Beispiele bitten, wo Transparenz,
Kontrolle und Freiwilligkeit weitgehend und überzeugend - d.h.
mindestens auch für alle Organisierten - verwirklicht sind und wo das
nicht funktioniert. Staat kann's schon mal nicht sein, da der keine
freiwillige Veranstaltung ist. Systeme, die sich durch den
ideologischen Abklatsch dieser Kriterien legitimieren können es auch
nicht sein, da es dort eben nicht verwirklicht ist - sonst bräuchte es
keine Ideologie.

Oder meinst du, dass die historische Erfahrung zeigt, dass jeder
solcher Versuch scheitern *muss*? Ich glaube nicht, dass Erfahrung
solcherlei überhaupt zeigen kann. Sonst wäre "Es war schon immer so"
die ultimative Antwort auf alle Fragen.

Ich wuerde sagen FS ist ein real existierender Ort an dem das
zu funktionieren scheint. Das waere ja gerade das Feine daran, wenns
so waere.

Eben. Und mir geht es darum, das alles genauer zu verstehen.

Ich spiele mal unsere Kriterien durch:

* Transparenz

  Ist bei Freier Software durch die offenliegenden Quellen schon mal
  an wichtiger Stelle weitgehend verwirklicht.

  Was die Organisation eines Freie-Software-Projekts betrifft, so
  wäre hier mal eine Untersuchung nützlich, die schaut, welche
  Organisationsformen sich wie verteilen. In vielen Fällen dürfte es
  sich aber um offene Formen wie Newsgroups oder Mailing-Listen (mit
  Archiv) handeln. Auch dort ist Transparenz also weitgehend
  verwirklicht.

* Kontrolle

  Die aktive Kontrolle findet bei Freie-Software-Projekten durch die
  Kommunikation mit den MaintainerInnen statt. Allerdings haben die
  Kontrollierenden hier im Wesentlichen genauso wenig oder viel Macht
  wie die Kontrollierten selbst. Heißt das was?

* Freiwilligkeit

  Bei Freie-Software-Projekten maximal. Zumindest bei Doppelt Freier
  Software.

* Einsicht

  Das scheint mir ein wichtiger Faktor in Freie-Software-Projekten und
  eine Begründung dafür, dass das MaintainerInnen-Modell funktionieren
  kann. MaintainerInnen zeichnen sich ja nicht selten auch durch ein
  überdurchschnittliches Maß einer bestimmten Fähigkeit aus. Anders
  herum: EinE BanausIn wird wohl kaum von (nach Selbsteinschätzung!)
  eindeutig Begabteren als MaintainerIn anerkannt werden.

  Dies hängt m.E. damit zusammen, dass andere Gruppenmitglieder
  einsehen, dass die MaintainerIn sinnvoll handelt. Ist diese Einsicht
  nachhaltig gestört, dann ist auch die Rolle als MaintainerIn
  nachhaltig gestört. Das zeigt m.E. das, es dieser Faktor Einsicht
  der Gruppe ist, der die MaintainerIn letztlich in ihrer Rolle
  legitimiert.

  Dies ist m.E. letztendlich die entscheidende Rückkopplung zwischen
  dem Handeln der MaintainerIn und den Interessen der
  Gruppenmitglieder / der Gruppe.

* Machtverteilung

  Ist bei Freier Software durch die Möglichkeit des Fork auch ziemlich
  maximal. Dass er selten geschieht ist m.E. auch ein Zeichen dafür,
  dass die anderen Kriterien oben schon strukturell so weit erfüllt
  sind, dass ein solcher machtvoller Eingriff durch eine
  Nicht-MaintainerIn den Organisierten selten notwendig erscheint.

Offene Frage: Wer sind die Organisierten? Die Leute, die in dem
Projekt aktiv mitwirken? Ab welcher Mitwirkungstiefe - d.h. reicht das
Einsenden eines Bug-Reports? NutzerInnen?

Was ich jetzt spannend finde: Wie kommt es, dass all dies auf dem
erreichten Stand der Produktivkraftentwicklung sich quasi von selbst
als das günstigere / produktivere Modell erweist. M.E. hängt das stark
damit zusammen, dass diese Formen eben gerade maximal die
Selbstentfaltung der Einzelnen (und damit: der Gruppe) begünstigen,
damit maximale Kreativität frei setzen und damit für die Produktion
von Informationsprodukten, bei denen Kreativität ja unabdingbar ist,
die fruchtbarste Grundlage bilden. Oder kurz gesagt: Die Entwicklung
weg von Unterdrückung liegt m.E. fundamental in der
Produktivkraftentwicklung selbst begründet. Freie Software zeigt das
keimförmig.

Last week (13 days ago) Franz J Nahrada wrote:
liste oekonux.de schreibt:
Woran ich da
eher laboriere ist die Frage nach _notwendigen_ Interessenkonflikten.
Gibts die? Sind sie wirklich in letzter Instanz aufhebbar im
Dampfmaschinen-Computer-Produktivitaetsparadies?

das m.E. klügste dazu hat P.M. in bolo'bolo geschrieben. Es gibt
jede Menge unaufhebbare Interessenskonflikte, aber wir können
sie durch räumliche Dissoziation von Kulturmustern zu entschärfen
versuchen.

Was meinst du mit räumlich? Wirklich den räumlichen Raum? Ja, mag
helfen, aber ich denke das übersieht ziemlich stark die Vielfältigkeit
menschlicher Entfaltungsbedürfnisse. Oder andersherum gesagt: Durch
die unglaubliche Individualisierung menschlicher
Entfaltungsbedürfnisse - die ich durchaus als Befreiungsmöglichkeit
wahrnehme - gibt es keine kontingenten Kulturen mehr, die sich
vernünftig auf einen räumlichen Raum abbilden lassen. Vielmehr ist nur
eine bunte Mischung der Orte der Entfaltung *in einem räumlichen Raum*
dieser Vielfalt angemessen. Das Internet bietet das immerhin schon mal
für den virtuellen Raum.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan
___________________________
Unread: 51 [ox], 83 [ox-en]

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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