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[ox] TELEPOLIS: Memetik und Oekonomie



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Ersetze in folgendem Text "Mem" durch "Wert" und er wird wahr ;-)

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 Memetik und Ökonomie
 
 Rolf Breitenstein   03.12.2002 
 
 Wie die Information die Wirtschaft nach ihrem Interesse lenkt 
 
 Die Information gilt in der Ökonomie immer als etwas, was da ist, an 
sich aber harmlos ist. Information wird als Wissen verstanden, um etwas 
anders oder besser zu machen. Wer es hat, hat Vorteile, wer es nicht 
hat, macht so weiter, wie bisher. Die Information wird von den 
Wirtschaftswissenschaftlern gehegt und gepflegt, sie ist ihr liebstes 
Kind, denn wer mehr weiß, kann mehr richtig machen. Das 
Wissensmanagement ist der Versuch, aus den im Unternehmen vorhandenen 
Informationen Profite zu machen. Informationen sind nett und 
ungefährlich.  
 
 So die Ansicht vieler Managementtheoretiker und -praktiker. Eine 
andere, bisher in dem Bereich unbemerkte Richtung, schiebt der 
Information den schwarzen Peter zu. Information ist böse, und je mehr 
wir davon haben, desto schlechter geht es uns. Das Naschen von Baum der 
Erkenntnis war schon im Paradies eine Sünde, warum sollte sich dies 
geändert haben? 
 
 Lange Zeit hat man mit dieser biblischen Botschaft nichts anfangen 
können, bis Richard Dawkins, ein Zoologe, das Memkonzept erschuf. Er 
war derjenige, der der Information den eigenen Willen zuschrieb. 
Eigentlich befasste er sich mit Genen und formulierte Darwins 
Evolutionstheorie aus einer aufschlussreichen Perspektive neu. 
 
 Gene sind Informationen, die auf Aminosäuren gespeichert sind. Sie 
haben nur den einen Willen und zwar den, zu überleben. Eine 
Information, die diesen Überlebenswillen nicht hat, verschwindet von 
der Welt, wenn sich ihre Trägersubstanz durch Materialermüdung auflöst. 
Eine überlebenswillige Variante muss also permanent Kopien von sich 
anfertigen, um dem kontinuierlichen Zerfall zuvor zu kommen. Die 
genetische Information, als eine der ersten Informationen schlechthin 
auf der Erde, erfand hierzu eine Vielzahl von Mechanismen. Wie auch 
immer sie funktionieren, ist an dieser Stelle weniger interessant. 
Wichtig ist, dass diese Information sich Hüllen, also Zellen, schuf, 
die sich immer wieder teilten und damit die ganze Welt bevölkern 
konnte. Informationen, die sich nicht eigenständig vervielfältigen 
konnten, wurden irgendwann verdrängt. Menschen, Tiere und Pflanzen 
vermehren sich in dem Sinne nur deshalb, damit ihre Erbinformation 
nicht ausstirbt. Sie ist egoistisch und hat nur ihr eigenes 
Fortbestehen im Sinn. 
 
 Information als ansteckender Virus 
 
 Nachdem das Konzept der Information mit dem eigenem Willen einmal 
geschaffen war, konnte es auch verallgemeinert werden. Dawkins übertrug 
das Konzept der egoistischen Gene auf alle anderen Informationen, 
selbst die, die wir in unserem Kopf haben. Meme sind Ideen, 
Vorstellungen, Rituale, Verhaltensanweisungen oder Gedanken, also 
alles, was wir an Informationen in unserer geistigen Welt beherbergen 
und worüber wir kommunizieren. Genau wie genetische 
Informationseinheiten versuchen auch die Meme zu überleben und andere 
ihrer Art zu verdrängen. 
 
 Brodie, ein ehemaliger Programmierer bei Microsoft, prägte das 
negative Image der Meme ganz extrem ( [1]Die Evolution der Meme). Er 
bezeichnete sie als Viren oder als Parasiten, die unser Gehirn belagern 
und den Menschen dazu anregen über sie zu reden, damit ein Anderer nun 
auch diese Meme hat. Die Information ist ganz im Gegensatz zu anderen 
Sichtweisen nicht so harmlos, wie es scheint, sie ist eine gefährliche 
Krankheit. So, wie man sich mit Pocken, Typhus oder Aids anstecken 
kann, kann man auch Opfer von Modewellen, Managementtrends oder Kultur 
werden - allerdings mit dem Unterschied, dass es gegen letzteres noch 
keine zuverlässigen Impfstoffe gibt. 
 
 Die Gedanken und Ideen fressen sich eigenständig durch die 
Gesellschaft, in der Hoffnung noch ein leeres Gehirn zu finden, in dem 
sie weiterleben können. Genau wie die genetischen Informationen haben 
die Meme bestimmte Tricks ausdifferenziert um unbemerkt neue Gehirne zu 
besetzen. Bei Kettenbriefen wird dies deutlich: 
 
    "Dies ist ein Kettenbrief, er soll dich glücklich machen, schicke 
ihn an 10 deiner besten Freunde. Wenn du es unterlässt, wird das 
Unglück über dich kommen."       
 
 Grant erschuf ein [2]memetisches Lexikon, in dem er die einzelnen 
Komponenten analysierte. Zuerst verkauft das Mem dem potenziellen 
Träger seine eigentlich nicht existenten Vorzüge. Dann versucht es sich 
von dort aus weiter zu vermehren. Dies scheint zu trivial, aber fast 
jedes Glaubenssystem benutzt diese Mechanismen um in Raum und Zeit zu 
überleben. Auf der einen Seite spricht es vom Paradies im Himmel, auf 
der anderen Seite vom Missionieren. Wer sich dem entzieht, so sagt es 
uns, wird in der Hölle schmoren. Je erfolgreicher eine Idee, desto 
geschickter ihre Tricks um sich durchzusetzen. 
 
 Nicht die Menschen, die Produkte sind die Träger der wirtschaftlichen 
Interessen 
 
 Das egoistische und böswillige an diesen Informationsparasiten wurde 
bislang aus ökonomischer Perspektive nicht erkannt. Die Geldgier der 
Manager verleitet sie in eine grenzenlose Naivität. Sie sehen nur die 
versprochenen Vorteile der Information und übersehen das eigene 
Interesse ihres Schmiermittels. Die Meme sind die Parasiten im System, 
die die Menschen nach ihrer Pfeife tanzen lassen. Die Ökonomie ist auf 
der Grundlage des gesunden Menschenverstandes konzipiert, und kommt 
logischerweise zu dem Schluss, dass da wo keine Menschen sind, auch 
keine Interessen sein können. 
 
 Im Rahmen eines memetischen Verständnisses von Wirtschaft ist das 
anders. Nicht die Menschen versuchen in ihren Verträgen ihre Interessen 
zu verwirklichen, sondern die Produkte, über die sie den Vertrag 
schließen, veranlassen sie dazu, den Vertrag zu schließen. Beim 
Autokauf sind also nicht mehr der Gebrauchtwagenhändler und der 
ahnungslose Käufer die zentralen Akteure, sondern der rostige 
Gebrauchtwagen wird zum entscheidenden Faktor. Es ist nicht mehr so, 
dass sich Menschen dazu entschließen Häuser zu bauen, sondern dass die 
Häuser durch ihre Existenz ihre Vorteile über den Schutz vor 
Witterungseinflüssen und Kriminalität kommunizieren und sich damit 
weitervermehren. 
 
 Die Menschheit wird immer wieder mit neuen Memen überschwemmt. 
Bedürfnisse für hochhackige Schuhe, tiefergelegte Autos, Anzüge mit 
Krawatten oder rotlackierte Fingernägel sind im Grunde nutzlos, 
schaffen es aber immer wieder eine logische Rechtfertigung für ihre 
Existenz zu finden. Alle diese kulturellen Errungenschaften sind 
letztendlich nur für sich selber gut, werden vom Menschen aber 
ökonomisch am Leben gehalten. 
 
 Die Meme verschieben Angebots- und Nachfragerelationen dahin, wo sie 
nach vernünftiger Überlegung gar nicht sein dürften 
 
 Viele Hersteller von Modeartikeln sind froh, dass es solche Meme gibt, 
denn nichts ist besser, als wenn ein möglichst einfaches Produkt ohne 
jegliche Mithilfe einen reißenden Absatz findet. So wie sich die Einen 
über die Meme freuen, fluchen Andere über sie. Es kommt immer wieder 
vor, dass sich unscheinbare Ereignisse zu verhängnisvollen Tatsachen 
auswachsen. Die Information, irgendwo in Schweden sei ein Auto 
umgekippt, vermehrte sich mit hoher Geschwindigkeit in den Medien, so 
dass Mercedes bei der Einführung seiner neuen A-Klasse eine klassische 
Bauchlandung erlebte. 
 
 Auch eine kleine Anzahl von Demonstranten auf der Bohrinsel Brent Spar 
produzierten in der Welt so viele Meme, dass Shell innerhalb weniger 
Wochen einen Umsatzeinbruch von über 30% hinnehmen musste. Von anderen 
Umweltskandalen wird nicht mehr geredet. Bayer musste wegen einigen 
tragischen Ereignissen, zwei gerade eingeführte Produkte vom Markt 
nehmen und kam damit liquiditätstechnisch ins Schleudern. Lipobay 
vernichtete einige Menschenleben, die Meme dazu ein Vielfaches an 
Arbeitsplätzen. Bei der Betrachtung der tatsächlichen Infektionsraten, 
kann gesagt werden, dass das HIV-Virus eher in den menschlichen Köpfen, 
als im menschlichen Blut zirkuliert. 
 
 Was auch immer die Meme für ein Unwesen treiben, oft werden 
ökonomische Größen dadurch beeinflusst. Menschen kaufen plötzlich 
etwas, oder kaufen etwas plötzlich nicht mehr. Autofahrer kaufen kein 
Benzin mehr an der einen Tankstelle, obwohl das Benzin einer anderen 
Tankstelle genauso viele Umweltschäden in der Produktion verursacht 
hat. Der Markt für Kondome wäre bestimmt nicht so groß, wenn nur die 
Leute sie kaufen würden, die sie auch wirklich brauchen. Die Meme leben 
in unserer Unsicherheit, in den Nischen unseres Geistes und verschieben 
Angebots- und Nachfragerelationen dahin, wo sie nach vernünftiger 
Überlegung gar nicht sein dürften. 
 
 Sehr prägnant ist es mit Produkten, die nur aus Information bestehen. 
Software und Musik im MP3-Format stellt ihre Schöpfer vor ein ganz 
besonderes Problem. Sie haben genau wie Meme den egoistischen Wahn sich 
zu vermehren, was dabei mit ihrem Schöpfer passiert, ist ihnen dann 
egal. Wenn ein solches Produkt einmal das Fabrikgelände verlassen hat, 
befinden sich in kürzester Zeit Tausende von Kopien im Umlauf. Das 
Produkt übernimmt selbst die Marketing- oder Vertriebsfunktion und 
besetzt eigenständig weite Bevölkerungsschichten. Das herstellende 
Unternehmen muss jetzt sehen, wie es an die Erlöse kommt. 
 
 Sind für das irrationale Handeln der Menschen die Meme Schuld? 
 
 Die Memetik löst in der Ökonomie einen der zentralen Widersprüche auf. 
Wirtschaftliche Entscheidungen werden nach der Theorie auf Grund von 
Rationalität getroffen. Der Mensch versucht seinen Nutzen zu 
maximieren, handelt also so, dass er zwischen Aufwand und Ertrag bzw. 
Input und Output ein für sich günstiges Verhältnis realisiert. 
 
 Viele haben diese Konzept bisher kritisiert, da es in vielen Fällen 
gar nicht mit der Realität übereinstimmt. Meistens wird argumentiert, 
der Mensch kann nicht über alle entscheidungsrelevanten Informationen 
verfügen, die er für eine rationale Entscheidung benötigt. Das stimmt, 
er verfügt nur über die Information, die ihn bis zum 
Entscheidungszeitpunkt besiedelt hat. Er entscheidet auf Grund der 
Meme, die so geschickt und egoistisch waren, sich in seinem Kopf 
niederzulassen. Damit sie überleben, geben sie dem Menschen eine 
Realität vor, die ihn so entscheiden lässt, dass die Meme sich weiter 
vermehren können. 
 
 Anders formuliert: Irrational handeln heißt, dass der Mensch 
offensichtlich gegen seinen Willen handelt, denn wenn er nach seinem 
Willen oder nach seinem Interesse handeln würde, würde er rational 
handeln. Wenn ein Mensch nun irrational handelt, manifestiert sich in 
seinem Tun das Vermehrungsinteresse der Meme. 
 
 Die Ökonomie ist nun neben dem Interesse der Menschen auch mit dem 
Interesse der Meme konfrontiert. Das erscheint auf den ersten Blick 
problematisch, weil die Meme nicht sichtbar sind, aber trotzdem ihre 
Finger im Spiel haben sollen. Auf den zweiten Blick hat diese 
Wissenschaft schon ihre Tradition mit Elementen, die transzendental 
über den Dingen schweben. Der Auktionator oder die unsichtbare Hand bei 
Adam Smith sind genauso wirkungsvoll wie das virtuelle und egoistische 
Interesse der Meme.
 
 Literatur (1) 
 
 Links 
 
 [1] http://www.heise.de/tp/deutsch/special/mem/2081/1.html
 [2] http://virus.lucifer.com/lexicon.html
 
 Artikel-URL: http://www.telepolis.de/deutsch/special/mem/13649/1.html 
 
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 Literatur 
 
 Breitenstein, R. (2002): Memetik und Ökonomie - Wie die Meme Märkte 
und Organisationen bestimmen. Lit-Verlag, Münster.
 Blackmore, S. (2000): Die Macht der Meme. Heidelber.-Berlin.
 Brodie, R. (1996): Virus of the Mind - The new Science of the Meme. 
Seattle. Dawkins, R. (1976): Das egoistische Gen. Oxford. Lynch, A. 
(1996): Thought Contagion: How Belief Spreads Through Society. New 
York. 
 
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