[ox] United Speichellecker
- From: Horibbeck t-online.de (H.R.)
- Date: Wed, 13 Nov 2002 10:17:24 +0100
Passend zur United-Speichellecker-Resolution (Irak)
leite ich folgenden Text weiter.
Liebe Leut,
ich schick dieses Ding an eine ganze Menge meiner Adressen, an Leute, von denen
ich denke, sie könnten sich für solche Gedanken interessieren, auch wenn sie mir
vielleicht bis wahrscheinlich nicht zustimmen werden. Für Reaktionen bin ich
dankbar. Sollte es jemand für Spam halten und sich belästigt fühlen, mög er/sie
es mir bitte mitteilen - soll nimmer vorkommen.
Liebe Grüße
Lorenz Glatz
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Warum läuft Herr B. Amok?
Gedanken über die Logik von Krieg und Terror und über den Bruch mit ihr
(von Lorenz Glatz)
Werner Fassbinder hat 1969 den Film "Warum läuft Herr R. Amok?" gedreht. Darin
erwächst der abschließende Amoklauf aus dem normalen Alltag, aus einem Leben, in
dem Herr R. gerade deswegen entgleist, weil er es so ernst und wörtlich nimmt.
Mittlerweile weiß auch der fassungslose Normalverbraucher aus Fernsehen, Radio
und Zeitung, dass der Amokläufer meist gestern noch ein "Mensch wie du und ich"
war. Im Selbstmordattentat ist der Amoklauf seit Fassbinder sogar von einem
individuellen Kurzschluss zur logistisch aufwendigen postpolitischen Kampfform
avanciert. Mit dem "war on terror" aber drohen nun der ganz und gar
durchschnittliche Herr B. und seine Gang, die allerdings am Drücker der größten
Vernichtungsmaschinerie der Weltgeschichte sitzen, mit einem Amoklauf als
apokalyptische Reiter.
Was aber ist die Normalität, aus der heraus die USA um sich zu schießen
beginnen? - Es ist die Normalität der modernen Gesellschaft und ihres Staates,
die hier in verheerende Schießwut auszurasten sich anschickt. Diese Auffassung
soll hier kurz erläutert und zur Diskussion gestellt werden.
Der moderne Staat - entstanden aus Rüstung und Krieg
Maximale Expansion der Macht gehörte zu den Charakteristika des neuzeitlichen
Staats von Anbeginn. Als Feuerwaffenstaat über die Welt gekommen, hatte er
despotische Zentralisierung von Produktion und Verwaltung sowie die Forcierung
der Geldwirtschaft als unabdingbare Voraussetzung; denn für Kanonenrüstung und
Festungsbau brauchte es die Konzentration und Versorgung einer hohen Zahl von
Arbeitern, große Werkstätten, die Umstellung auf Söldnerheere sowie Geldsteuern
samt Steuereintreibung und Kredit zur Finanzierung. Die Zwänge der
Schuldenrückzahlung waren der Beginn eines modernen gesellschaftlichen
Automatismus - der Ausdehnung der Staatsmacht durch Eroberungen nach außen und
durch bürokratischen und fiskalischen Zugriff auf die Menschen nach innen. Die
Bedienung der Kredite war die Peitsche staatlicher Durchdringung der
Gesellschaft und territorialer Expansion, noch bevor sie zum Motor der
kapitalistischen Wirtschaftsweise wurde, einer Wirtschaftsweise, die ihrerseits
vom Geldbedarf der sich formierenden Militär- und Nationalstaaten förmlich
erzwungen wurde.1
Anfang und Ende des modernen Völkerrechts
Die Raubkriege des 15. bis 17. Jahrhunderts, die aus dieser Entwicklung eines
Wettlaufs um Macht und Geld entsprangen, brachten auch neue Regeln des Umgangs
der Staaten miteinander hervor. Diese Kriege waren der Boden, aus dem das
moderne Völkerrecht wuchs - ein profanes, keiner allgemein anerkannten
göttlichen Autorität mehr unterworfenes Recht, das den Verkehr von Räubern
regelte, die notgedrungen miteinander auskommen mussten, weil sie einander nicht
vernichten konnten und sich so zu den Prinzipien der staatlichen Souveränität
und des Einmischungsverbots in die inneren Angelegenheiten des anderen bequemen
mussten.
Schwächere konnten jedoch - dieser Herkunft des Rechts entsprechend - in der
historischen Realität nur dann Rechtspersönlichkeit sein, wenn und solange die
Starken nicht einig waren, wessen Beute sie werden sollten. Nichtweiße Länder
blieben sowieso zumindest de facto Freiwild. Nur für die historisch sehr kurze
Zeit der Entkolonisierung im Schatten des Ost-West-Konflikts konnte sich
zumindest der Anschein eines die Vereinten Nationen umfassenden allgemeinen
Völkerrechtsstatus halten.
Mit dem Scheitern des Versuchs einer nachholenden Modernisierung im Osten und
Süden des Globus ergab sich durch den Zerfall der Sowjetunion und ihres
Machtblocks allerdings eine neue Situation: Dass die USA auf diese Weise als
alleinige Weltmacht übrigblieben, hat dem Völkerrecht die materielle Grundlage
entzogen, denn kein Land kann sich mehr der "Über-Macht" auf Grund eigener Kraft
stellen oder durch Lavieren entziehen. Ein Völkerrecht, das nicht auf einem
grundsätzlichen, materiellen Gleichgewicht seiner Subjekte, d.h. auf ihrem
gegenseitigen Unvermögen zur straflosen Vernichtung des anderen beruht, wird
haltlos. Seine so genannte "Weiterentwicklung" führt in die Auflösung seiner
Prinzipien.
Nunmehr wird auch in Europa weithin der "Unilateralismus" der amerikanischen
Hypermacht als Aushöhlung des Völkerrechts beklagt. Ganz so neu ist diese
Aushöhlung jedoch nicht. Sie hat die EU-Staaten bis jetzt bloß nicht allzu sehr
gestört, konnten sie sich doch selbst als Teil des "Unilateralismus" betrachten.
Für Russland und die sogenannte Dritte Welt war er durch die Übermacht des
"Westens" schon seit Ende der Achtzigerjahre eine gegebene Tatsache. Diese Teile
der angeblichen "Völkergemeinschaft" konnten die Entwicklung bestenfalls mit
Hilfe der UNO dadurch ein wenig kaschieren, dass sie dem westlichen Vorgehen
erst nach einigem Hin und Her aber schließlich doch immer zustimmten.
Hierzulande sprach man allerdings bis vor kurzem stets noch im Brustton der
falschen Überzeugung von "Völkerfamilie" und "Weiterentwicklung des
Völkerrechts", wenn der Westen hinter seiner Führungsmacht auf- und
einmarschierte und ganze Länder niederbombte.
Als es z.B. um die Zerschlagung Jugoslawiens ging, war es der veröffentlichten
Meinung in Österreich und Deutschland noch ganz recht, dass das völkerrechtliche
Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten "den Bach hinunter"
geschickt wurde (so damals voll Genugtuung Heinz Kienzl, SPÖ), im Kosovo-Krieg
bombardierte auch die europäische NATO ohne UNO-Mandat und gegen jedes
Völkerrecht "für die Menschenrechte".
Bei der eigenmächtigen US-Intervention in Afghanistan war die EU aber schon
leicht irritiert, als die NATO, die doch gleich nach dem 11.9. erstmals den
Bündnisfall ausgerufen hatte, "außen vor" gelassen wurde. Mit dem durch alle
UNO-Sicherheitsratdebatten hindurch kaltschnäuzig angedrohten angelsächsischen
Alleingang gegen Irak wird jetzt aber den Möchtegernen der verblichenen
Großmächte in Good Old Europe deutlich gemacht, wie sehr das klassische
Völkerrecht zum kraftlosen Gespenst geworden ist. Mit nationalistischen Tönen (à
la "Über deutsche Angelegenheiten wird in Berlin entschieden") mag man da noch
Wahlen gewinnen, danach aber kommt früher oder später der Bußgang nach
Washington.
Die Forderung nach Einschaltung des UNO-Sicherheitsrats verkommt immer mehr zu
einer Ermahnung, doch wenigstens die Etikette zu wahren. Sie wird zu einem
versagenden Mittel der Zweit- und Drittrangigen, sich zwar den Ansprüchen der
Supemacht zu fügen, aber nicht vor aller Augen als dienstbeflissene, zumindest
aber ohnmächtige Vasallen zu erscheinen. Die USA haben den Angriff auf Irak als
Ziel vorgegeben, ohne sich viel darum zu kümmern, dass auch ihre Begründungen
dem Völkerrecht Hohn sprechen. Für die anderen Regierungen der Welt geht es
jedoch nur noch darum, aus ihrer Teilnahme oder Hinnahme das noch irgendwie
Beste zu machen. Die diplomatischen Auseinandersetzungen samt der öffentlichen
Debatte darüber haben auch ausschließlich damit und nichts mehr mit den
Völkerrechtsprinzipien zu tun. Keine der Aftermächte kann und will mehr dem
Imperator in den Arm fallen, es geht bei aller Rhetorik nur um die Modalitäten
der Einbindung des "Rests der Welt" in die Aktionen der Vormacht, in Aktionen,
deren Berechtigung gegen jedes Völkerrecht auch von den Kritikern grundsätzlich
gar nicht mehr in Frage gestellt wird2. Für deklarierte Gegner der Hypermacht
ist in der Staatenwelt kein Platz mehr - das ist das neue Prinzip, dem derzeit
Geltung verschafft wird, ein Vorgang, der vielen Kommentatoren in Zeitungen und
Magazinen das römische Reich als historische Analogie für die einzigartige
Machtstellung der USA in den Sinn kommen lässt.
Die USA als Hypermacht: Sackgasse statt Aufbruch
Allerdings steht diese neue Art Imperium nicht am Anfang einer neuen, sondern
bloß am Ende einer abgelebten Entwicklung, nicht an einem Ausgangspunkt, sondern
in einer Sackgasse. Zum besseren Verständnis noch einmal ein kurzer Blick in die
Geschichte: Anders als in vormodernen Lebensweisen spielt in der Neuzeit die
Wirtschaft eine zunehmend dominierende Rolle in der Gesellschaft. Die vom
Feuerwaffenstaat erzwungene Ausdehnung der Waren- und Geldwirtschaft hat sich
als neue vorherrschende Wirtschaftsweise etabliert. Sie hat sich als
Selbstläufer entpuppt, als Automatismus, der erstmals in der Geschichte
menschliche Tätigkeit nicht für menschliche Zwecke (auch die Arbeit
Unterworfener für das Wohlleben der Herrschenden ist ein solcher) einsetzt,
sondern für den grundsätzlich abstrakten und lebensfremden Zweck der Vermehrung
investierten Geldes durch Arbeit. Sein Kapital vermehren oder es verlieren,
"Wachsen oder Weichen" heißt die Devise. Richter und Henker zugleich ist die
Konkurrenz des Marktes, das (Sich) Verkaufenkönnen oder Liegenbleiben. Daran
hängen nunmehr Wohl und Wehe immer größerer Teile der Gesellschaft, die aus der
Not schließlich eine (Arbeits)Tugend gemacht hat. Leben wird zum Nebenprodukt
der Geldvermehrung, Lebenstätigkeit zur Arbeit, gleichgültig welcher -
Hauptsache, sie wird bezahlt.
Der Sturz des "parasitären" Adels, der Reichtum nicht bloß als Investitionsgut
verwerten, sondern immer auch genießen und verprassen wollte, brachte unter der
Fahne von "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" den endgültigen Durchbruch
bürgerlichen Profit- und Verwertungsdenkens als gesellschaftliche Maxime. Ihr
hat sich auch der Staat zu unterwerfen, der zum Rahmen und Garanten der
Verwertung des von ihm repräsentierten Kapitals mutierte. Der Wachstumszwang der
kapitalistischen Wirtschaft - ursprünglich eine Folge des Kanonen- und
Festungsbaus und der damit verbundenen Raubkriege - wurde nunmehr die stärkste
Antriebskraft zur Formierung und Ausdehnung staatlicher Macht. Auf
internationaler Ebene setzte dieser Zwang sich um in Eroberungspolitik, in Kampf
mit anderen staatlichen Kapitalrepräsentanten um den besten "Platz an der
Sonne". Mit der Unterwerfung der ganzen Welt unter das Diktat der Verwertung
lief sich die Eroberung von Ländern im vorigen Jahrhundert in zwei Weltgemetzeln
tot. Übrig blieb das Wachstum des Kapitals -über die Grenzen seiner nationalen
Zugehörigkeit hinaus zu multinationalen, schließlich transnationalen "global
players".
Vor deren Geldmacht, nicht vor den Raketen der NATO musste der Osten
kapitulieren. Angeblich angetreten, um eine ganz andere, neue Gesellschaft zu
schaffen, bauten die kommunistischen Parteien entgegen der weit verbreiteten
Auffassung in Ost und West doch nur eine andere Variante des Gleichen, nämlich
der Welt der Waren und des Gelds. Sie starteten eine historische Aufholjagd, um
in der Konkurrenz mit den alten Mächten auf dem alten Boden der Verwertung als
eigenständige Staaten und Ökonomien zu bestehen. Als jedoch schließlich eine
neuerliche technische Revolution im Westen, die Computerisierung, auch durch die
niedrigsten Lohnkosten im Osten nicht mehr aufgewogenen werden konnten, war
dieser am Ende - gescheitert an den Märkten, nicht geschlagen auf dem
Schlachtfeld.
Das, was den sozialistischen Staatskapitalismus ruiniert hat, stellt sich wider
Erwarten und gegen alle Versprechungen als eine Krankheit zum Tode des
Gesamtsystems heraus. Denn seit über zwanzig Jahren steigt auch im Westen dank
der sich ausbreitenden Mikroelektronik in immer mehr Branchen die Produktivität
schneller als die Möglichkeiten, die überflüssig gewordene Arbeit durch
forciertes Wachstum wieder profitabel einzusetzen und weitere noch zu schaffen -
was aber eine unabdingbare Voraussetzung für die Verzinsung investierten
Kapitals ist. Aus dem Zusammenbruch der östlichen Konkurrenz ließ sich eine
kurze Atempause, aber kein anhaltender Aufschwung der Verwertung schmieden. Was
in den exsozialistischen Ländern noch profitabel ist, reicht bei weitem nicht
aus, um der grassierenden Spekulations- und Schuldenwirtschaft eine
realwirtschaftliche Grundlage zu verschaffen, auf der die Spekulation aufgehen
und die Kredite bezahlt werden könnten.
Schon in der Neunzigerjahren hat sich daher herausgestellt: Der Westen hat nicht
gesiegt, er hat den Osten bloß noch überlebt. Seit dem ist ein Großteil Afrikas
vom Weltmarkt fast verschwunden, Schwellenländer wie die "kleinen Tiger"
Südostasiens oder jüngst Argentinien und Brasilien sind bloß an die Schwelle des
Bankrotts gekommen, ja mit Japan findet auch eine Wirtschaftsgroßmacht, von der
noch vor wenigen Jahren erwartet wurde, sie könnte à la longue selbst die USA
aufkaufen, nicht und nicht aus Rezession und Krise, seit bald drei Jahren
zerbröseln auch die Börsen, die Schrumpfung der produktiven Wirtschaftssektoren,
der Verfall des Lohnniveaus breiter Teile der "Beschäftigten" und die
anwachsende Arbeitslosigkeit auch in den noch einigermaßen stabilen Ökonomien
lassen sich selbst mit den kreativsten Tricks und Beschönigungen nicht mehr
bagatellisieren.
Die Staatsapparate verlieren vor dem globalisierten Kapital ihre
Gestaltungsmacht und Regulationsfähigkeit, ihr noch engerer Zugriff auf die
Menschen organisiert bloß noch den sozialen Abstieg der großen Masse der
Bevölkerung, sie gehen - hier noch weniger dort schon mehr - in mafiöse
Strukturen über.3
Die USA sind zur letzten Weltmacht also in einer Situation geworden, wo sie ihre
historisch unvergleichliche Machtfülle nur noch sehr bedingt für die Interessen
ihrer Nationalwirtschaft gegen andere einsetzen können, weil die "global
players" diese Fronten immer mehr auflösen, aber auch die weitere Verwertung des
transnationalen Kapitals zu sichern ist Washington immer weniger imstande, weil
die Welt für diesen Heuschreckenschwarm zu klein geworden ist. Was bleibt, ist
die äußerste Machtentfaltung in einer Welt des Niedergangs, mit dem letztlich
illusionären Zweck, Sicherheit und Funktion des globalen Verwertungssystems
gegen dessen Zerfallserscheinungen so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. "Wir
oder das Chaos" ist die Parole, mit der die letzte Weltmacht die restliche
Staatenwelt als "Ordnungs"-Kräfte hinter sich zum "Kampf gegen den Terror"
sammelt, genauer betrachtet: zum Krieg der Perspektivlosen gegen die
Aussichtslosen.
Am Ende steht die Lust auf Amok und Gewalt
Im Alltagsleben der Menschen führt der skizzierte Zustand der Weltgesellschaft
bis dato jedoch weniger zur Suche nach einem Ausbruch aus der herrschenden Logik
als vielmehr zu einer Intensivierung alles Bisherigen im Zeichen immer
schärferer Konkurrenz: "Retten, was noch zu retten ist" heißt auch das
kurzsichtige, individuelle Lebensmotto. Die vorherrschenden Gedanken über die
Zusammenhänge der heutigen Lage hat ein englischer Satiriker treffend so
zusammengefasst: "Hang the sense of it and just keep yourself occupied! "4 Es
soll einfach irgendwie weitergehen, solange eins mit Hingabe an die
Arbeit(suche) und mit Betriebsamkeit, mit Selbstverleugnung und Demut gegenüber
den Zumutungen, mit Wegschauen und Simulieren noch Normalität produzieren und
Anstrengung, Versagen und Unbefriedigtsein im Kauf und Konsum der angebotenen
Placebos, Tranquillizer und Ersatzbefriedigungen ersäufen kann. Kollegen und
Geschäftspartner statt Freunden, Kontaktschwäche und Vereinsamung, Suff und
andere Drogen (von Arbeit bis Opium), Aggressivität und Depression als
Volkskrankheit Nummer eins - alles das sind Phänomene, die zunehmend die
Lebenswirklichkeit prägen.
In einem solchen Klima des schrittweisen Realitätsverlusts paart sich die
Paranoia einer Selbstzweckökonomie, die das Leben der Menschen nicht mehr vom
Umgang mit der Natur, sondern von gelungener Kapitalverwertung abhängig macht,
mit der schwindenden Hoffnung darauf, dass eins daraus noch ein Leben machen
kann. Die Zahl derer nimmt zu, die auf die eine oder andere Weise individuell
"ausrasten" und "überschnappen", nicht mehr "auf dem Posten bleiben", sondern
"verrückt" werden. Kollektiv grassiert zugleich die wahnhafte Umdeutung der
alles durchdringenden Konkurrenz in altväterischen nationalistischen,
rassistischen, antisemitischen oder religiös verbrämten Fundamentalismus
verschiedenster Schattierungen, wo dann nicht mehr Marktteilnehmer gegen
Marktteilnehmer oder Gang gegen Bande kämpfen, sondern wo halluziniert wird,
dass die Fleißigen und Anständigen gegen die Faulen und Intriganten, die
Zivilisation gegen die Barbarei, die Ordnung gegen das Chaos, das Gute gegen das
Böse steht. In diesem Treibhaus der Frustration wuchert die Lust auf Gewalt, das
Bedürfnis nach dem Befreiungsschlag in der einen oder anderen Form von Amok, der
von den Tätern nicht mehr als Wahnsinn wahrgenommen wird, sondern als Bestrafung
und Moral.
Bald schon wird kein Tag mehr vergehen ohne die Meldung von durchgedrehten
Leuten, die scheinbar aus dem Nichts heraus um sich zu schießen beginnen, von
eifersüchtigen Männern, die ihre (Ex-)Familien ausrotten, von entlassenen
Angestellten, die Chef und Kollegen mit in den Tod nehmen, frustrierten Bürgern,
die Politiker massakrieren, Halbwüchsigen, die in Schulen Blutbäder anrichten.
Doch nicht nur im blinden Affekt wird da gehandelt, sondern durchaus auch mit
kaltem Blut und Überlegung. Das Töten bringt den "Wettbewerb", in dem der Mörder
im Leben meist sich scheitern fühlt, in dem er nicht mehr weiter kann, auf den
eigentlichen, pervers befriedigenden Punkt: Tod und Vernichtung der anderen, wer
und wo sie auch sind, letztlich ohne anderen Grund als den der bloßen
Konkurrenz, paranoid und selbstzweckhaft, würdig seines Ursprungs aus der
Gesellschaft des Marktes und des Gelds. - "Ich bin Gott" schrieb der Amokschütze
von Washington auf der Todeskarte des Tarot.
Die Gemetzel des 11. September und jüngst auf Bali, die Selbstmordkommandos und
-attentäter in Nahost und Russland und die Massaker des damit korrespondierenden
"war on terror" in Afghanistan, in Russland und demnächst auch in Irak zerstören
die Weltmacht des Kapitals so wenig wie sie den Terror ausrotten, sie bringen
bloß den Amok, das Töten als Abreaktion ohne Aussicht auf die Erreichung eines
Zwecks, auf das Niveau einer historischen Untergangs-Strömung.
Es ist ein kollektiver, technisierter Amok mit viel Logistik, hartem Training
und vor allem Selbstbetrug. Als gesellschaftliche Erscheinung beruht er auf
einer Formierung des Denkens und Empfindens eines Großteils der Menschen und auf
der Kontrolle, Einschüchterung, Entmutigung und Unterdrückung aller derer, denen
anderes als Mitmachen zugetraut wird. Die Logik dieses Amoks wird daher in der
Gesellschaft weithin nicht mehr als Wahnsinn wahrgenommen, sondern als
staatliche Sicherheitspolitik, als religiöse Notwendigkeit, als Strafgericht.
Diese Form von Amok ist schon jenseits des Selbstlaufs von Geschäft und Macht,
er folgt einem automatisierten Kreislauf von Schuld und Sühne, von
"Gerechtigkeit".
Ein Krieg der USA gegen Irak wird und muss sich daher auch nicht rechnen, weder
kann es noch eine Kriegskonjunktur geben mangels Masse des Gegners noch rentiert
sich die militärische Eroberung eines Lands, das sich dem Kapital nicht
verschlossen hat, sondern mit dessen Entzug bestraft wurde. Auch ein US-Regime
in Irak wird das Erdöl nicht billiger verkaufen können, als es Saddam Hussein
unter dem Embargo tut.
Herr B. halluziniert, er werde mit einem neuen Golfkrieg die "zivilisierte Welt"
vor dem Terror schützen, doch das könnte im Sinne einer Stabilisierung des
"Imperiums" nur gelingen, wenn die Ordnungsmacht den Unterworfenen außer
Bombenruinen und Demütigungen noch irgend eine Aussicht auf einen Anschluss an
die bröckelnde Glitzerwelt von Arbeit-Geld-Konsum zu bieten hätte. Da diese
Aussicht nicht besteht, wird jede neue Stufe im "war on terror" vor allem neuen
Terror, neuen Krieg, Terror, Krieg und schließlich den Tag näher bringen, an dem
auch die Hypermacht das selbst forcierte Chaos nicht mehr bändigt.
Der "nationale Befreiungskampf" und der "sozialistische Aufbau" sind
gescheitert, der Kapitalprozess gerät auch in den marktwirtschaftlichen
Kernländern ins Stocken. Keine Gewalt der Welt kann daran etwas ändern. Nur mit
Gewalt, ohne Aussicht auf Arbeit und Profit lassen sich Staaten, die diesen
Namen noch verdienen, nicht befreien oder gründen, es gibt auch nichts mehr zu
erobern in der einen Welt des Kapitals. Kampf und Konkurrenz gehen zwar auch am
Weltende der Profitvermehrung weiter, doch es ist die Zeit von Ragnarök, der
Götterdämmerung, der gegenseitigen Vernichtung der Götter und Dämonen, der
grausamen Entscheidungsschlacht, die nur Verlierer kennt. Sie wird heutzutage
ausgestragen zwischen denen, die bereit sind, den Niedergang ihrer Welt mit dem
Feuerschein brennender Länder auszuleuchten, und den "Rächern der Enterbten",
die ihre Aussichtslosigkeit noch mit Mord und Selbstmord krönen.
Kurswechsel des sinkenden Schiffs?
Der Widerstand gegen diese düstere Entwicklung ist seit den Anschlägen in den
USA nicht recht vorangekommen. Auch Millionen besorgter und empörter Menschen
auf den Straßen haben wenig Macht, wenn sie die Lösung der Probleme in der
Vergangenheit suchen. Unserer Meinung nach krankt der Widerstand am blinden
Glauben allzu vieler Menschen, dass es doch noch möglich sei, auf der Grundlage
der herrschenden Ordnung Neues, Besseres zu schaffen. Viele agitieren für einen
politischen Kurswechsel zu "mehr sozialer Gerechtigkeit", "mehr Ökologie". Sie
drohen mit der Ersetzung des Kapitäns und seiner Offiziere, doch sie merken
nicht, dass sie auf der Titanic sind und das Schiff eben absäuft. Wir meinen das
durchaus auch selbstkritisch, weil auch wir sehr lange so agiert haben, dass wir
uns für politische Aus- und Abhilfen eingesetzt haben, ohne die Unhaltbarkeit
der gesellschaftlichen Konstruktion zu beachten, in deren Rahmen wir uns
bewegen. Alle "politische Arbeit" gegen den Lauf der Dinge hat keine Aussicht
auf nachhaltigen Erfolg, wenn man - ob "reformistisch", ob "revolutionär" - "den
Kampf führt" für eine "andere Politik" und damit den Boden von Staat, Nation und
Klasse nicht verlässt, genau den Boden also, der sich gerade in sozialem
Niedergang und Amok auflöst.
Wirtschaftskrisen mit allen ihren Folgeerscheinungen von Armut, Verzweiflung,
Hunger, Krankheit und frühem Tod bis zu Bandenwesen und Krieg lassen sich auf
der Grundlage der überreif gewordenen Waren- und Profitgesellschaft durch einen
Kurs- und Herrschaftswechsel nicht (mehr) beheben, die gesellschaftlichen
Katastrophen sind vielmehr das notwendige und irreparable Ergebnis der
etablierten Lebensweise, die "Kollateralschäden" der Geldvermehrung. Die
Vorstellung von einer prosperierenden "internationalen Gemeinschaft" friedlich
wirtschaftender, auf dem Weltmarkt Handel treibender Nationalökonomien war wohl
immer schon und ist heute mehr denn je eine Fata Morgana, der man nie näherkommt
und die bloß von der realen, aussichtslos gewordenen Wüstenwelt des Kapitals
ablenkt.
Der Unmut, der sich gegen die Zumutungen und Katastrophen, wenn Menschen für und
von Geld leben müssen, ansammelt und der bei den gewaltigen Demonstrationen in
den Polit- und Wirtschaftsgipfelstädten der letzten Jahre bis zu dem jüngsten
Aufmarsch in Florenz trotz oft massiver Repression sichtbar geworden ist, droht
wieder in Resignation umzuschlagen, wenn er sich für einen unmöglich gewordenen
Kurswechsel der todgeweihten Titanic verbraucht.
Es geht nicht um Geld, weder um Investitionen, die sich nicht mehr verwerten
lassen, noch um Staatsschulden, die nie mehr zu bezahlen sind, sondern es geht
um Land, Gebäude, Geräte und Maschinen, um Kenntnisse und Wissen und um
Verfügung über unsere Lebenszeit,
nicht um Arbeitsplätze (die keiner annähme, wenn er anders leben könnte), nicht
um Konsum und Wachstum, sondern darum, was ein gutes Leben ist und was wir dafür
brauchen,
nicht um die Chimäre staatlicher und wirtschaftlicher Unabhängigkeit, sondern um
die Selbstorganisation der Menschen und um den Kampf für die dazu nötigen
Ressourcen,
nicht um "Solidarität mit dem Kampf der unterdrückten Völker", sondern um die
weltweite Kooperation aller derer, die sich von der Unterdrückung durch Staat
und Markt frei machen wollen.
Nur im Zusammenhang einer solchen Haltung hat auch Politik als staatsbezogenes
Handeln noch ihren begrenzten Sinn, als gewissermaßen fremdes Mittel, das sich
selber überflüssig machen, den Weg frei machen soll für Neues.
Was heißt arbeiten, was Karriere machen heute denn anderes
als seine Lebensenergie hinzugeben für den Mensch und Natur schädigenden
Kreislauf von Arbeit und Konsum,
als sich nach jedem "Fortschritt", nach jeder "Umstrukturierung" und "Reform"
mit noch weniger Leben bescheiden zu müssen,
als ohne es recht zu merken mitzutun bei den alltäglichen Grausamkeiten dieser
Existenz, zumindest wegzuschauen und flach zu denken bei den Greueln und
Gemetzeln, ohne die es diese Gesellschaft nicht mehr geben wird.
"Ich habe keine Zeit, ich muss arbeiten" ist die allgemein akzeptierte Parole
für die Lebensangst, für den (Selbst)Mord auf Raten, auf den unsere
"Lebens"weise hinausläuft. Und wer keine Arbeit hat, muss tagaus tagein laufen,
um wieder eine zu bekommen oder versinkt nicht selten in lähmende Depression. -
"No future" ist die globale Realität, die es zu verdrängen gilt im hektischen
Getriebe, im Konsum, in der angestrengten Freizeit- und Familienidylle.
Sich Zeit nehmen fürs Hinschauen, Nachdenken, für Gespräche und Kennenlernen,
für das Klären der wichtigen Fragen, für gemeinsame Aktion, für dauerhafte
Kooperation - das kann der Beginn einer Besserung sein, ein Einstieg in die
Verweigerung des Mittuns, in den Protest, in Widerstand, in den Neubau unseres
Lebens.
(Lorenz Glatz)
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1 vgl. Robert Kurz, Die Dikatur der abstrakten Zeit, in: Robert Kurz, Ernst
Lohoff, Norbert Trenkle (Hg.): "Feierabend! Elf Attacken gegen die Arbeit",
Hamburg 1999. In diesem Aufsatz referiert und zitiert Kurz u.a. wissenschaftiche
Literatur zum Thema der Entstehung des modernen Staats; der Aufsatz ist über
www.krisis.org im Internet aufzufinden, wir schicken einen Ausdruck auch gern
gegen Kostenersatz zu.
2 Sehr treffend und offen sagt Albert Rohan, pensionierter Generalsekretär des
österreichischen Außenministeriums und in dieser Funktion hoher beamteter Hüter
der österreichischen Neutralität, das, was vermutlich die meisten europäischen
Politiker denken: "Die US-Vorgangsweise ist mit unseren völkerrechtlichen Werten
schwer vereinbar... Man muss den USA aber zubilligen, dass sie das, was getan
werden muss, auch tun, ohne Rücksicht auf UNO oder Völkerrecht. Für uns Europäer
ist da eine gewisse Hemmschwelle gegeben". (Der Standard 14.10.02)
3 Das ist keineswegs bloß eine Folge neoliberaler Dogmatik, auch die (von vielen
Globalisierungskritikern geforderte und mittlerweile z.B. in den USA, Japan,
Deutschland, Frankreich und Italien betriebene) Wiederbelebung keynsianistischer
Staatsintervention und Staatsschuldenpolitik versagt als Heilmittel.
4 in etwa: "Pfeif drauf, was das alles bedeutet, und mach einfach nur weiter!"
aus dem satirischen Sci-fi-Roman "The Hitchhiker's Guide to the Galaxy" von
Douglas Adams.
Initiative Mensch statt Profit
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www.widerspruch.at/imsp
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