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Re: [ox] leben ohne geld: heidemarie s. :: u.a.



Hallo alle,

On Sat, Jul 27, 2002 at 02:10:50AM [PHONE NUMBER REMOVED], Christoph Reuss wrote:
Nun scheint sie ja aber sehr mit diesen "Jobs" zufrieden zu sein. Es
ist also schlicht nicht an Dir, ihr zu sagen, dass sie sich eigentlich
Scheisse dabei fühlen müsste.

Letzteres habe ich weder gesagt noch gemeint, sondern dass sich das
Schwermer'sche "Modell" (inzwischen von Uli Frank zum "Experiment"
zurückgestuft) nicht als gesellschaftliches Modell eignet.

Nichts was ein Mensch alleine macht, ist als gesellschaftliches Modell
geeignet. Das kann man ihr also kaum vorwerfen.

Ich selbst kenne es aus eigener Anschauung, dass nicht die Art der
Tätigkeit das Entscheidende ist, sondern die eigene Einstellung dazu
und die Einstellung wird wesentlich durch die sozialen Beziehungen die
damit verbunden sind, geprägt. Noch der letzte "Scheissjob" kann Spass
machen, wenn es "mein Ding" ist und noch die anspruchsvollste kreative
Tätigkeit kann furchtbar ätzend werden, wenn man sie "nur des Geldes
wegen" tut. Diese Entfremdung von der eigenen Tätigkeit ist für mich
nicht nur etwas theoretisches sondern eine direkt persönlich
erfahrbare Tatsache.

Mein Punkt war, dass der Schwermer'sche Ansatz weiterhin im wesentlichen
eine "Lohntätigkeit" ist -- ob gegen Geld oder Naturalien, ist ein Detail.

Das ist mir shcon klar, dass das Dein Punkt ist. Der ist ja auch nicht
von der Hand zu weisen. Ich bin auch kein Freund von Tauschereien
glaube aber trotzdem dass das bei vielen Menschen den absolut tief
verwurzelten Glauben an das Geld lockern kann. Und das halte ich
tatsächlich für eine wichtige Sache. Da unterscheiden wir uns wohl
eigentlich, wenn ich das richtig verstanden habe. Du siehst Geld nur
als Nebending an, wärend es für mich zentrales
Herrschaftsinstrument ist.

Juristisch wohl nicht, aber gesellschaftlich ist es nicht sinnvoll,
dass eine Ausbildung "vergeudet" wird, indem Leute unter ihrer
Qualifikation arbeiten.

Zunächst mal gilt festzuhalten, dass es nichts gibt, was
"gesellschaftlich sinnvoll" ist aber individuell nicht auch für
irgendjemanden sinnvoll ist. Oder allgemeiner formuliert: Es gibt
keine Bedürfnisse, die niemand hat.

Ist die Gesellschaft niemand ?  

"Die Gesellschaft" ist tatsächlich niemand. Wenn es Ansprüche der
Gesellschaft an die Individuen gibt ist das für mich nicht
tolerierbar. Was anderes sind Ansprüche von Individuen (oder
Kooperationen von Individuen) an andere Individuen, die gibt es
natürlich und alles was man so leichthin "gesellschaftlich sinnvoll"
nennt ist letzten Endes sinnvoll für konkrete Menschen oder es ist
nicht sinnvoll.

Stichwort Systemoptimierung.

Auch die ist nur sinnvoll, wenn sie für konkrete Menschen sinnvoll
ist.

Hochqualifizierte Leute sind eh schon
zu selten, und tiefqualifizierte können nicht hochqualifizierte
Arbeiten übernehmen -- also geht dieses "Modell" nicht auf.
Wohlgemerkt: _Egal_ ob mit oder ohne Geld!

Das hinkt hinten und vorne. Welche Tätigkeiten "hoch-" und welche
"niedrigqualifiziert" sind ist ja nicht irgendwie ein Naturgesetz,
sondern wird gesellschaftlich bestimmt. Und das passiert bei uns eben
genau über Geld.

Nein.  Dass ein Physiker höher qualifiziert ist als ein ungelernter
Hilfsarbeiter, ist durchaus objektivierbar.  

Sehe ich anders. Er ist anders qualifiziert, nicht höher. Das liegt
alleine schon daran, dass Lernen immer auch Verlernen bedeutet.

Vielleicht sieht sie es ja so, dass Hoffegen genauso
wichtig ist wie Psychotherapie.

Dann sieht sie es eben falsch  (sowohl von der Angebots- als auch
von der Nachfrage-Seite her).

"Angebot und Nachfrage" sind aber eben kein "objektives" Kriterium für
die Höhe einer Qualifikation.

Frag' doch mal einen der vielen Arbeitslosen in D, der keine Arbeit findet,
"nur" weil er unterqualifiziert ist.  Der findet's wahrscheinlich nicht
lustig, dass ihm eine "gelernte Psychotherapeutin" den Fensterputz-Job
wegschnappt (und das erst noch in Schwarzarbeit).

Man kann es auch anders betrachten: Das, was der Arbeitslose mehr
vermisst als Arbeit ist Geld. Und genau das nimmt ihm Frau Schwermer
nun ganz bestimmt nicht mehr weg.

Doch, mit der Arbeit nimmt sie ihm (in dieser Gesellschaft) auch das
Geld weg, denn ohne Arbeit kriegt er ja kein Geld 

Das ist ja nun aber nicht ihr Fehler. Das wir alle im Wertsystem
rumwurschteln muessen und damit auch immer Schaden anrichten, egal wie
wir handeln ist ja gerade das Problem. Das wäre aber auch so, wenn sie
arbeiten würde. Dann nimmt sie halt anderen Psychotherapeuten die
arbeit weg, die dann wieder anderen Fensterputzern die Arbeit
wegnehmen. Das ist doch gerade der Witz an unserer
Gesellschaftsformation, dass man sich _notwendig_ in einem Modus des
Gegeneinanders bewegt. Da kann Frau Schwermer natuerlich genausowenig
raus wie ich oder Du. Der Vorwurf ist also etwas unredlich. 

Ist es sozial, _Sozial_abgaben zu unterschlagen?

Auf den Punkt gebracht schon, ja. Sozialabgaben sind ja ein
ausgesprochen unsoziales Verteilungsinstrument. Man gucke sich nur mal
die Krankenversicherung genauer an.

Da ist zwischen Prinzip und realer Implementation zu unterscheiden.

Das Prinzip ist, dass irgendeine "gesellschaftliche" Instanz darüber
entscheidet, wer wieviel zu essen hat. Das finde ich tatsächlich
unsozial. Dieses Prinzip ist Ausdruck einer Macht, die höher ist als
die Menschen und die sich diese im Zweifel unterwirft. Das wird auch
ganz direkt spürbar, wenn man sich nämlich mit dem bürokratischen
Apparat auseinanderzusetzen gezwungen ist, der dieses "Sozialsystem"
am Laufen hält. Da wird man sehr schnell merken, wie wenig man als
Mensch zählt und wieviel als Rädchen.

Die Implementation mag streckenweise asozial sein, aber die Grundidee ist
durchaus sozial.  Aber die Implementation wird nicht dadurch sozialer,
indem man Beiträge hinterzieht -- im Gegenteil, dann müssen nämlich
die Anderen umso mehr löhnen.

Die Implementation wird aber auch nicht dadurch sozialer, dass man
Beiträge zahlt. 

Warum arbeitet sie dann nicht in ihrem Beruf ?  Psychotherapeutin wäre
doch ideal geeignet für den "Kontakt mit Menschen" -- jedenfalls besser
als Fensterputzen und Rasenmähen -- und mehr nützen könnte sie so den
Leuten obendrein (falls sie ihren Beruf schnallt, was anscheinend nicht
der Fall ist).

Nun, kennst Du das nicht, dass ein "Kontakt zu Menschen" eben genau
dadurch entwertet wird, dass er über Geld stattfindet?

Du meinst dieser Kontakt wird aufgewertet, indem sie dafür Naturalien
statt Geld nimmt ?

Sie sieht es scheinbar so. Ich persönlich würde das nicht immer so
sehen - manchmal vielleicht schon. Ich nehme das aber erst mal zur
Kenntnis, dass sie das so sieht, das ist alles.

Ausserdem betont sie ja - laut Uli - inzwischen auch, dass es ihr
nicht so sehr ums Tauschen geht, sondern ums wechselseitige Geben und
Nehmen. Das sieht auf den ersten Blick wie das gleiche aus, ist es
aber nicht. Wir haben die Diskussion ja hier schon mehrfach gehabt
anhand der Frage, ob Freie Software Tausch ist. Sie ist es nicht, wie
wohl die meisten inzwischen einsehen, dennoch beruht Freie Software ja
offensichtlich auf "Geben und Nehmen". Dieses Prinzip so radikal wie
irgendmöglich im eigenen Leben umzusetzen finde ich mindestens ein
spannendes Experiment.

Aber egal was sie arbeitet:  Wo liegt der Unterschied zur Lohnarbeit ?

Da triffst Du tatsächlich einen Knackpunkt. Das ist ja auch der Kern
der ganzen Kritik an den Tauschringen. Am Tausch als System wird nicht
gerüttelt. Nur sehe ich das schon etwas differenzierter. Sobald das
Geld aus dem Spiel ist - und auch keine Ersatzwährungen eingeführt
werden - wird der Tausch immerhin schonmal aus seiner Abstraktheit
geholt und das soziale Umfeld wird konkret erfahrbar. Das ist es wohl
wovon sie so begeistert ist.

Die praktische Umsetzung wird dadurch aber erheblich erschwert.  Wer
zum Beispiel auf eine weite Reise geht, muss dann tonnenweise Zeug
mitschleppen, das er unterwegs eintauschen kann.  Geld ist doch da
viel handlicher (und auch klausicherer).  Oder soll er auf der Reise
ständig arbeiten, um sich Kost&Logis zu "verdienen"?  Auch sehr
unpraktisch -- dann bleibt ja kaum noch Zeit für Sightseeing und
_Kontakte_ knüpfen !

Ausserdem ist es unterwegs in der Fremde doch eher schwieriger, eine
Arbeit zu finden, die einem wirklich "entspricht" (Selbstentfaltung!).
Dann doch lieber daheim auf Vorrat im geeigneten Job arbeiten und dann
mit dem Zaster auf Reisen gehen...

Sie würde wohl sagen, dass ihr ihre Lebensweise eben gerade ermöglicht
mit den Leuten in Kontakt und ins Gespräch zu kommen. Was ja hinter
Deinem Ansatz steht ist, dass Menschen bei ihrer "Arbeit" eben nicht
in Kontakt kommen (Natürlich ist das Gegenteil der Fall, selbst in
unserer Gesellschaft) und das es eben ausserhalb der Arbeit eine
Sphäre gibt, wo man dann mal richtig Mensch sein kann (In Deinem
Beispiel dann im Urlaub).

Sie wohnt z.B. "bei Freunden" und erarbeitet sich die "Miete", und sie
erarbeitet/erbettelt sich auch das Essen.  Wäre eine eigene Behausung
und ein eigener Garten nicht emanzipierter?  Wie "frei" ist es denn,
für alles auf Andere angewiesen zu sein?

Der letzte Satz, der ist superwichtig. Lass uns den mal ganz genau
betrachten. Darin spiegelt sich nämlich die Kernlüge der bürgerlichen
Gesellschaft, nach der es Emanzipation bedeutet "nicht mehr auf andere
angewiesen zu sein". Menschen werden jedoch immer auf andere Menschen
angewiesen sein.

Natürlich werden Menschen immer auf andere Menschen angewiesen sein --
die Frage ist nur, wie stark und bei wie wichtigen Dingen.  Unterkunft
und Essen gehören zu den elementarsten Bedürfnissen, also wär's doch
gut, wenn gerade dabei möglichst geringe Abhängigkeit besteht.  Dies
ist aber (gemäss dem Artikel) bei Frau Schwermer nicht der Fall.

Warum wäre das gut? Was sinnvoll ist, ist dass je elementarer meine
Bedürfnisse sind, von umso mehr Leuten müssen sie erfüllbar sein. Umso
_größer_ ist also meine soziale Abhängigkeit.

"Everybody needs somebody" wie es bei den Blues-Brothers heisst.

Der Text geht weiter:  "... to love."   Dass man _dafür_ auf
somebody (else) angewiesen ist, ist ja trivial.  Aber aus guten
Gründen heisst der Text _nicht_:  "Everybody needs somebody to
live in their apartment and ask them for food" !  ;-)

Und ich sage eben, dass das im Prinzip das selbe ist.

(Generell orientiere ich meine Sozialstudien aber nicht an U$-Songs --
 damit könnte man bös' auf den Holzweg geraten -- nicht nur bei Eminem..)

Tja, das nenne ich eine Scheuklappe. An welchen Songs orientierst Du
denn Deine Sozialstudien nur an den germanischen? Wir leben in einer
globalen Kultur und das zu ignorieren führt zu garnix.

Gut, ich beginne dazu demnächst einen neuen Thread ("Boden(un)recht").

Na, da bin schon gespannt.

Vielleicht sieht sie das ganz anders? Aber im Prinzip hast Du schon
recht. Sie tauscht ihre Arbeitskraft. Nur halt nicht gegen abstraktes
Geld sondern gegen die Erfüllung konkreter Bedürfnisse. Damit wird für
sie das soziale Netz erfahrbar und fühlbar in dem wir uns alle bewegen
aber dass das Geld uns immer vom Leibe hält.

Das ginge auch mit Geld (man kann es ja direkt in seinem Umfeld ausgeben).

Nein, das geht nicht im selben Masse, weil ich nichts über die
Bedürfnisse meiner Mitmenschen erfahre ausser dem einen
vereinheitlichten Bedürfnis nach Geld, dass jedoch nicht besonders
interessant ist. Kommunikation über Bedürfnisse ist jedoch eine
Grundbedingung von Selbstentfaltung.

Ich arbeite auch nicht soviel wie ich könnte und sollte, wenn es nach
Deinen Massstäben ginge.

Zur "Soll-Menge" habe ich keine Massstäbe genannt.

Hm. Ab wann ist man dann also asozial? Wenn man weniger als eine
Stunde pro Woche arbeitet? Oder weniger als eine pro Monat? Das musst
Du schon benennen.

Gemäss dem Artikel arbeitet sie grösstenteils unterhalb ihrer Qualifikation.

Vielleicht ist sie ja eine begnadete Hoffegerin? Weisst Du´s?

Dann hat sie wohl die falsche Ausbildung gewählt.  Das hätte sie aber
schon deutlich früher merken können als erst mit 59 Jahren.  ;-)
(bzw. 53, als sie das Experiment begann)

Es soll Menschen geben, die sich ändern obwohl sie alt sind.

Denn in einem hat sie einfach Recht: Aller
Reichtum der zählt ist in meinen sozialen Beziehungen. Alles andere
ist nur Tand.

Das ist Geschmackssache -- man muss nichtmal Autist sein, um Reichtum
(auch oder nur) in der geistigen Welt und der (nicht-menschlichen)
Umwelt zu sehen.  Und was nützen soziale Beziehungen, wenn die
physischen und gesellschaftlichen Zustände mieserabel sind?
(Ein Dorf in Afrika kann auch verhungern oder an AIDS sterben,
 wenn sie untereinander fleissig soziale Beziehungen unterhalten --
 sogar (oder gerade) völlig ohne Geld!)

"Die physischen und gesellschaftlichen Zustände" sind aber doch nichts
anderes als soziale Beziehungen. Ob jemand verhungert oder nicht liegt
nicht an einem Naturgesetz sondern an der gelingenden oder scheiternden
Beziehung zu seinen Mitmenschen.

Umgekehrt wird ein Schuh draus:  Wer Schwierigkeiten hat, Beziehungen
aufzubauen (und da gibt's heute viele), der hat mit Frau Schwermer's
Ansatz im wahrsten Sinne "kein Brot", kommt hingegen in der Geldwirtschaft
recht gut durch (_dank_ "Anonymität"!).  Ihr Ansatz funktioniert nur für
Leute wie sie, die schon reich an Beziehungen sind, bzw. ein "Flair"
für den Umgang mit Menschen haben -- wie's eben eine Ex-Lehrerin und
gelernte Psychotherapeutin hat...  

Was hier Ursache und was Wirkung ist, darüber gibt es eben
unterschiedliche Ansichten (und da berühren wir wieder eine mit
Hartmut oft geführte Diskussion). Die Menschen sind ja eben gerade so
autistisch _weil_ sie hier und heute Leben. Unter diesem
Zwangs-Tausch-Autismus stehen wir alle. Aber es gibt natürlich auch
Bereiche in der Gesellschaft, wo dieser Zwang nicht so direkt wirksam
ist - und das ist eben u.a. in sogenannten "sozialen" Berufen. Deshalb
hat sie Freiräume, die vielleicht andere nicht so haben. Wobei sie
selber es ja wohl so schildert, dass sie sich viel von diesen
Freiräumen auch erst im Laufe ihres Experiments erarbeitet hat, sie
also nicht vorher reich an Beziehungen war, sondern es erst durch ihr
Experiment wurde.

Das Problem mit gesellschaftlichen Veränderungen ist immer, dass die
Menschen ihre Verhältnisse zwar selber schaffen aber auch von ihnen
geamcht werden. Eine Veränderung ist also immer nur prozesshaft zu
haben. Deswegen macht Deine Aussage ...

Also: Nicht zum Gesellschaftsmodell
verallgemeinerbar.  

nicht viel Sinn. Weil das trivial ist. Wie oben schon geschrieben,
nichts was Individuen tun, ist zum Modell verallgemeinerbar. Aber
Gesellschaft kann sich verändern nur eben über einen Prozess in dem
solche "Experimente" wie H.Schwermer sie durchführt sicher nicht der
kleinste Beitrag sind.

Immerhin, von Vorträgen und Talkshows lässt sich's auch gut leben...
das Essen dort schmeckt einfach besser als die Reste vom Gemüseladen,
und frau muss nichtmal fensterputzen dafür!  ;-]

Neidisch? Erst wirfst Du ihr vor, dass sie unter ihrer Qualifikation
arbeitet und jetzt ist es auch wieder nicht recht.

Grüße, Benni

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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