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Re(2): [ox] Freie Software und Wissenschaft



benni schreibt:
Es stimmt schon, Freie Software hat ihre
Wurzeln in der Wissenschaft, aber sie geht darüber hinaus. In welchem
Sinn?

Super Frage. So kriegen wir Bestimmung rein, omnis determinatio
es negatio hat schon Spinoza gesagt ;-)


Wissenschaft ist nichts anderes als Aufklärung pur - und hat damit die
selben Probleme wie diese, sie ist immer auch der Mythos, den sie zu
bekämpfen angetreten ist und sie droht immer in Barbarei umzuschlagen.

Ich möcht das neumodische Aufklärung-dreschen nicht so gerne mitmachen.
Ein Versuch könnte sein zu sagen: wir dürfen aber auch nicht hinter die
Aufklärung zurückfallen. Wir das geht? Daran haben sich viele Leute
die Köpfe zerbrochen, wie Gebser etc. - Wir müssen erkennen, daß
die mythische, magische, rationale Art uns die Welt zugänglich zu machen
jeweils ihre Eigenberechtigung und Funktion haben, aber auch ihre dunkle
Seite und Grenze. DAnn arbeiten wir aber nicht mit der "Abrißbirne für
eine neue Großtheorie" (Robert Kurz in der letzten Krisis)

Jemand hat mir mal gesagt: wenn Du Wissenschaft betreibst bist Du 
wie ein scharfes Messer.  Wahrheit kann töten und Du merkst es nicht
einmal.

Aber versuch es mal ohne Wahrheit. Du kommst in noch größeres Schlamassel!

Im weiteren Sinne Kritische Wissenschaft versucht genau diese Probleme
mit den Mitteln der Wissenschaft selber in Griff zu kriegen und
teilweise gelingt das durchaus. Bestes Beispiel ist ja die "Dialektik
der Aufklärung" selber.

Naja. Man könnte böse bemerken daß es sich hier um Philosophie
handelt und nicht um Wissenschaft ;-)

Aber: Kritische Theorie (ich meine damit nicht nur die Frankfurter
Schule, sondern jede Theorie mit emanzipatorischem
Erkenntnisinteresse, die ihre eigenen Entstehungsbedingungen
reflektiert) findet ihre Grenze eben dann, wenn sie nur Theorie
bleibt. 

Aber auch ihre Befreiung. Wenn sie zur "Praxis" übergehen, gehen die
meisten Theorien kaputt. Paßt mir auch nicht, ist aber so eine Art 
ständige Beobachtung, gerade was Gesellschaftstheorien anbelangt.
Ist aber nicht weiter tragisch. Muß man halt bessere Theorie machen.
Im Augenblick ist hier ein guter Platz dafür ;-)


Und eben diese Beschränkung hat Freie Software nicht (dafür andere).

Naja praktisch wird sie schon. Aber nur in einem sehr eingeschränkten
Bereich (das ärgert uns ja alle).

Dies wird für mich theoretisch wiederum greifbar im Begriff des
Spiels. Freie Software ist spielerisch. Das war es, was ich in
"Notizen zur Selbstentfaltung" versucht habe klar zu machen: 
http://co-forum.de/index.php4?Notizen%20zur%20Selbstentfaltung

Wissenschaft ist nicht spielerisch. Sicherlich gibt es auch in der
Wissenschaft spielerische Momente, aber sie lebt nicht davon. Sie lebt
von harter, nervtötender, disziplinierter Arbeit in harten,
nervtötenden, disziplinierten Institutionen unter harten,
nervtötenden, disziplinierten Bedingungen. Deswegen meine Kritik am
Wissenschaftsbetrieb. Der ist nämlich kein Zufall und historisch
kontingent, sondern direkt aus dem aufklärerischen Wesen von
Wissenschaft geboren. Wie das?

Es gibt keine Wissenschaft ohne Reproduzierbarkeit. Die Erzeugung von
Reproduzierbarkeit jedoch ist notwendig hart, nervtötend und
diszipliniert. Wer jemals in einem Labor gearbeitet hat, wird wissen,
was ich meine. Oder theoretischer formuliert: Aufklärung will das eine
System, das alles erzeugt. Deswegen muss jeder denkbare
Wissenschaftsbetrieb systematisch sein und in dem Sinne, wie er
systematisch ist, ist er nicht mehr spielerisch und eben hart,
nervtötend und disziplinierend.

Doch halt! Beruht nicht auch Freie Software auf Reproduzierbarkeit?
Natürlich tut sie das. Sogar in viel stärkerem Masse als herkömmliche
Wissenschaft. Wärend dort schon eine statistische Reproduzierbarkeit
ausreicht, ist bei Software das exakt selbe Verhalten gewünscht. Alles
andere ist ein Fehler. Der Clou ist aber, dass die digitale Kopie die
Bedingungen der Reproduzierbarkeit quasi umsonst mitliefert.
Reproduzierbarkeit wird also quasi wegrationalisiert. Von der
Wissenschaft wird tendenziell alles harte, nervtötende und
disziplinierende weggelassen und übrig bleibt das spielerische. Das
ist im übrigen ein sehr zweischneidiges Schwert. Denn eine
vielgeäusserte Kritik an unseren Gedanken ist ja oft gerade, dass
Software unsinnlich sei und deshalb antiemanzipatorisch. Das das
Systematische dem Arbeitsgegenstand eben schon eingeschrieben ist. Das
ist auch zu einem gewissen Grad richtig. Ich kann dem immer nur
entgegenhalten, dass Software und das arbeiten damit meiner eigenen
Erfahrung nach auch sinnlich sein kann.

Wichtig wird diese Frage zum Beispiel auch dann, wenn wir uns fragen,
was das eigentlich ist, was wir hier bei Oekonux machen. Ist das
Wissenschaft? Wollen wir, dass es als solche anerkannt wird? Ich würde
dem ein ebenso schallendes wie stolzes "Nein, blos nicht!"
entgegenschmettern.

Wissenschaft hat es natürlich mit Reproduzierbarkeit zu tun, aber
eben auch mit dem Verständnis beschränkter Reproduzierbarkeit.

Ich möchte als Beispiel die Pflanzenbetrachtung wählen: Erst durch
genaues Bobachten der Natur kommst du drauf, wie viele Faktoren 
zusammenwirken müssen, um ein bestimmtes Resultat hervorzubringen.
Und wenn Du versuchst es zu "plastizieren", also experimentell 
nachzuverfolgen, dann merkst Du die verschiedenen Zufalls und
Freiheitsgrade
in der Natur. Das ist dann nochmal ein staunendes Lernen. Das ist
auch Theorie, das ist auch Wissenschaft. Und zwar m.E. die zeitgemäße Form.

Die Zeit, in der die Produktion der Welt nach dem Muster einer gigantischen
Kopieranstalt eingerichtet war, ist doch am Verblassen. 

Mc Luhan hat einmal gesagt, für die große industrielle Kopiermaschine
ist es zweitrangig, ob sie Cornflakes oder Cadillacs hervorbringt.

Genauso hat die Wissenschaft die Welt nur grob erfaßt, hat viele
feine Phänomene und Unterschiede beiseite gelassen. 

Am bereich der Medizin wird das am klarsten: die Mittel der heutigen
Wissenschaft reichen kaum aus, die Krankheit eines Menschen zu erklären.

Die Wissenschaft wie es sie gibt präformiert die Welt nach dem Bild der
Kopiermaschine: aber das Bild ist feiner geworden.

Wir haben dezentrale Automation und globale Intelligenz: wir haben
tausend mal mehr denkkapazität. Und wir sind immer mehr interessiert
am Einzelfall, am Einzigartigen. Hier überschneiden sich Wissenschaft und
Kunst:
die prinzipien so anzuwenden, daß das Einzigartige zur Geltung kommt.

Erst hier vollendet sich Wissenschaft: Wo sie bis an ihre Grenzen geht.

...

Während wir hier so reden, hat sich die Kopiermaschine wie ein verrückt
gewordener
Rasenmäher in das Reich des Geistes eingemischt und versucht es zu
bewirtschaften.

Sie hebt die Trennung von Wissenschaft und Praxis auf ihre Weise auf:
geistiges Eigentum, Lizenzen. Die Reproduzierbarkeit als Gegenstand der
Bezollung. Wissenschaft als Claim für Wirtschaft. Sie vermengen sich zu 
einer Feudalaristokratie, während wir die Kopiermaschinen bedienen dürfen.

Heißt da nicht Wissenschaft als Gemeingut zu retten auch gleichzeitig
tatkräftig ihre Veränderung zu fordern?


Franz

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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