[ox] TELEPOLIS: Der Kongress diskutierte
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- Date: Tue, 4 Jun 2002 10:50:48 +0200
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Der Kongress diskutierte
Marcus Hammerschmitt 04.06.2002
Über den Out of this world II - Kongress zu Science Fiction, Politik,
Utopie
In Kim Stanley Robinsons Mars-Trilogie erstellen die Revolutionäre in
großangelegten Endlosdiskussionen die politische und ökonomische
Verfassung für einen erdunabhängigen Mars. Bei Out of this world II
ging es etwas bescheidener und viel lockerer zu.
Die Verbesserung der Welt
Bremen ist nicht wie Hamburg. Bremen ist kleingemahlen, feingemahlen.
Man kommt an und ist gleich da. In diesem Fall auf, im, am Sielwall.
Eine bunte und harte Neighbourhood mit Berbern, Dönern, Headshops und
bedenklich vielen Heilpraktikern. Am Tagungsort von [1]Out of this
world herrscht der diskrete Charme der Antibourgeoisie: Nahezu
einhundert Leute, einige davon aus Wien und Kopenhagen, treffen sich
und besprechen die Verbesserung der Welt.
Ernsthafte bis drollige Vorschläge aus der ersten Runde: Die [2]freie
Software und die Prinzipien, nach denen sie entsteht, müssten die Welt
regieren. Oder: Man koppele doch kleinteilige Einheiten von der
globalisierten Wirtschaft ab, das fördere die Befreiung im Lokalen.
Oder, damit zusammenhängend: Ein anderes, [3]lokales Geld müsse her,
das Vertrauen der locals in die selbstverwaltete Münze erzeuge von
allein unerwartete Freiheitspotenziale. Es scheint, die Menschen, die
solches im Zusammenhang mit Science Fiction sehen, diskutieren gern.
Gespräche bis tief in die Nacht, wie früher. Unter anderem mit dem
ehemaligen Offizier eines ehemaligen Ost-Geheimdiensts, der mir
erzählt, wie es sich so anfühlte in den Steinmühlen des ehemaligen
Sozialismus.
Spaziergang den Sielwall hinauf, die Weser. Am Ufer des Flusses ein
übriggebliebenes Volksfest, komplett mit Hundescheiße, leeren
Bierflaschen und übernächtigten Schaustellern. Auch Alternatives dabei:
indianisches Essen, eine Hanfbäckerei, Rastafrisuren. Kleinteilig,
bremisch. Auf grüner Anhöhe zur Altstadt hin: das [4]Kriegerdenkmal.
Das ist allerdings groß. Die Lügenlyrik der stolzen Niederlage, in
Sütterlin:
Und was wir an gültigen Sätzen gefunden
Dran bleibt aller irdische Wandel gebunden
Und unsere Töne, Gebilde, Gedichte
Erkämpfen den Lorbeer im strahlenden Lichte
Was für eine Scheiße. Inmitten der depperten Großmaulereien steht auf
einem Betonblock, der von kleinen, zerdrückten Steinlöwen getragen
wird, die eigentliche Nachricht:
10000 Männer und Jünglinge zogen aus dieser Stadt in Krieg und Tod
Aber für wen? Und vor allem: Warum? Out of this world! Please!
Science Fiction - politische Utopie
Später habe ich etwas beizutragen zu der Frage, ob die Science Fiction
beizutragen hat zur Verbesserung der Welt. Mein [5]Beitrag verneint
das. Oder vielmehr antwortet er: Nicht direkt. Die Zukunft ist kein
Leibgericht. Ich schreibe keine Kochbücher. Ich gebe ja zu, es ist ein
bisschen widersprüchlich. Die Mars-Trilogie von Kim Stanley Robinson
könnte meiner Definition nach eigentlich keine echte Science Fiction
sein, weil sie eine echte Utopie ist. Das ist aber nicht wahr. Sie
enthält sehr wohl einige Rezepte, zum Beispiel das [6]Rezept
"Geschenkökonomie" und das Rezept [7]"genossenschaftlicher Sozialismus
mit ökologischer Ausrichtung".
Wir stellen fest: Kim Stanley Robinson kann Kochbücher schreiben, die
streckenweise begeistern. Ich argumentiere trotzdem gegen eine
leichtfertige Verwechslung von Science Fiction und Utopie. (Während ich
dies schreibe, wiederum mit dem Rücken zum Kriegerdenkmal, zieht auf
der Weser ein Kutter zwei Ruderboote in Stellung, und dann wird nach
Wikingerart gerudert, was das Zeug hält. Menschen sind seltsame Wesen
und tun seltsame Dinge. Die eigentlichen Aliens sind wir selber).
Frigga Haug, Soziologin und Mitherausgeberin des
[8]Historisch-Kritischen Wörterbuchs des Marxismus findet meine
Ansichten grottenfalsch. Ich habe ja wohl den Abstand von Science
Fiction und politischer Utopie künstlich aufgeblasen und unzulässig
verallgemeinert. [9]Planet der Habenichtse von Ursula K. LeGuin zum
Beispiel (zuvor inhaltlich vorgestellt von der Soziologin Bianca
Gustafson) sei eine gelungene konkrete Utopie, weil
wirklichkeitsgetreu, unideologisch, durchdacht, begreifbar. Warum kommt
mir die Geschichte trotzdem durchsichtig konstruiert und die Denk- und
Erzählbewegung propagandistisch vor?
Rüdiger Haude trägt [10]seine Gedanken zur Herrschaftsfreiheit in
sogenannten primitiven Gesellschaften bei. Er regt an, die Science
Fiction-Autoren sollten aus dem Studium dieser Gesellschaften
utopistische Kreativität für ihre Romane schürfen.
Das Publikum ist von all dem nicht eingeschüchtert, schweigt nicht
stille, muss nicht zum Jagen getragen werden, wie so oft. Man
bezweifelt, behauptet, belegt. Die Diskussion ist lebhaft, aber völlig
frei von der sattsam bekannten Rechthaberei der Linksradikalen. Es ist
ein anderer Tonfall, ein anderer Umgang, als ich ihn kenne.
Warum überleben in der Science Fiction starke Frauen selten?
Und wie das so ist bei gelungenen Konferenzen: Eine Pause gibt es
nicht wirklich. Beim Frühstück wird viel gelacht über linke
Begriffsneurosen von einst ("demokratischer Zentralismus") und die
deutsche Kriegerdenkmalskultur von heute.
Am Tagungsort befragen [11]Alexandra Rainer und Andrea zur Nieden die
seltsame Tatsache, dass starke Frauen in der Science Fiction selten als
solche überleben: Am Ende sind sie meistens klein und schwach. Oder
tot. Die These: Nach der Offensive der Frauenbewegung in den 70ern sei
die Subkulturindustrie dazu übergegangen, starke Frauen zu zähmen,
entweder indem sie im Verlauf der Medienprodukte immer schwächer und
handhabbarer würden, oder indem sie beim Kampf gegen eine projizierte
monströse Weiblichkeit (bestes Beispiel: das Monster in "Alien") ihr
Leben verlören.
Dann ist es vorbei. Ich schultere meinen Rucksack und fahre zum
Bahnhof. Im Zug denke ich: Es war so freundlich. In Frankfurt fällt mir
ein Bahnbediensteter auf, der allen Ernstes auf seinem Dienstbuch einen
Aufkleber der Polit-Punkband [12]Slime spazierenträgt. Man könnte
sagen, ein Potenzial sei besser als kein Potenzial.
Links
[1] http://www.outofthisworld.de/
[2] http://www.oekonux.de
[3] http://www.christiania.org/~ditlev/utopia/engelsk/comcur.htm
[4] http://www-user.uni-bremen.de/~bremhist/img_0901/GEFALL~1.JPG
[5] http://www.outofthisworld.de/ootw/2002/text_mh.htm
[6] http://www.wosamma.com/mag/2.html
[7] http://www.leibi.de/takaoe/84_20.htm
[8] http://userpage.fu-berlin.de/~hkwmred/hkwm/
[9]
http://www.feministische-sf.de/einzelne_romane/fsf_planet-der-habenichts
e.html#Planet
[10] http://www.graswurzel.net/242/rotbuch.shtml
[11] http://www.outofthisworld.de/ootw/2002/text_ar.htm
[12] http://www.slime.de/
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