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[ox] Artikel zu Online-Communities



Liebe Leute,

bereits in der c't 11/01 (vom 21.5.), S. 92 ist ein interessanter
Artikel von Dr. Nicola Döring zu Online-Communities erschienen:

		       Netzwärme im Ausverkauf

	    Online-Communities zwischen Utopie und Profit

Zwei wichtige Passagen möchte ich euch hiermit zukommen lassen. Nach
den dort gegebenen Kriterien würde ich uns BTW für eine recht
ordentliche Online-Community halten :-) .


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

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...

Aber es hat sich seit dem Massenansturm aufs Internet herausgestellt,
daß die Bildung virtueller Gemeinschaften doch mit viel mehr und viel
ernsthafteren Problemen behaftet ist, als es anfangs schien:

- *Mythos Selbstorganisation*: Während Barlow noch von der neuen
   `Zivilisation des Geistes' schwärmte, klagen Surfer heute selbst
   darüber, wie unzivilisiert und geistlos es in vielen Online-Foren
   zugeht und fordern konsequentere Strafen.

- *Mythos Egalität*: Als diskriminierungsfreie Orte haben sich
   Netzgemeinschaften nicht erwiesen: Rassismus, Nationalismus und
   Sexismus äußern sich teilweise besonders ungehemmt und aggressiv.

- *Mythos Wissensbildung*: Der Erkenntnisgewinn, den Online-Diskurse
   liefern, ist begrenzt, da allzu oft Laien und Möchtegern-Experten
   im eigenen Saft schmoren. Manchmal werden sogar gefährliche
   Ideologien kultiviert, wie Sonia Worotynek anhand einer
   Mailingliste von Tagesmüttern zeigte, bei der die
   Arbeitserleichterung über den Interessen der Kinder stand.

- *Mythos Partizipation*: Die überwältigende Mehrzahl der
   Community-Mitglieder ergreift nie selbst das Wort und bleibt passiv
   - wie vor dem Fernsehschirm, so vor dem Computermonitor.

- *Mythos Demokratisierung*: Wenn sich Netznutzer überhaupt online
   engagieren, dann verfolgen sie nur in den seltensten Fällen
   demokratisch-emanzipatorische Ziele. Unpolitische oder gar
   antidemokratische Beteiligung scheint in der Praxis typischer zu
   sein [http://www.heise.de/tp/deutsch/special/pol/8001/1.html].

- *Mythos Persönlichkeitsentwicklung*: Die meisten Nutzer stellen im
   Zuge ihrer Online-Aktivitäten keine Veränderung ihrer
   Persönlichkeit im Sinne verstärkter Selbsterkenntnis fest. Von
   Internet-Sucht, also einer exzessiven Nutzung, die auf Kosten
   anderer Lebensbereiche geht und als seelische Verarmung erlebt
   wird, sind drei Prozent betroffen, sieben Prozent sind gefährdet.

Die Entmystifizierung von Cyber-Utopien sollte jedoch nicht zur
Ablehnung des Netzes führen, sondern Anlaß sein, sich um eine aktive
und reflektierte Gestaltung von und Beteiligung an Online-Communities
zu bemühen.

Maß der Gemeinschaft
--------------------

Jenseits von Revolutionspathos, Ertragsprognosen, Kulturpessimismus
und persönlichen Anekdoten versucht die sozialwissenschaftliche
Forschung, systematisch zu ergründen, ob und wo sich in Online-Foren
tatsächlich Gemeinschaften bilden. Verschiedene Ansätze haben sich
ausgeprägt:

- *Virtual Settlement*: Die /kommunikationswissenschaftliche/ Theorie
   von der virtuellen Besiedlung von Quentin Jones
   [http://www.ascusc.org/jcmc/vol3/issue3/jones.html] besagt, daß nur
   beim Nachweis einer Mindestmenge von Kommunikationsvorgängen davon
   auszugehen ist, daß sich in einem Online-Forum tatsächlich eine
   virtuelle Gemeinschaft gebildet hat. Und zwar muß es a) mehrere
   Kommunikatoren geben, von denen sich b) einige als Stammmitglieder
   längere Zeit beteiligen und c) in nennenswertem Umfang auf der
   öffentlichen Ebene des Forums Beiträge publizieren, die sich d)
   wechselseitig aufeinander beziehen. Nach diesen Kriterien läßt sich
   etwa eine Mailingliste, die nur als Informationsverteiler genutzt
   wird, von einer Mailinglisten-Gemeinschaft abgrenzen.

- *Virtual Culture*: Gemäß diesem /soziologischen/ Ansatz schlägt sich
   die Existenz einer virtuellen Gemeinschaft nicht nur darin nieder,
   daß ein fester Kern von Stammmitgliedern untereinander
   kommuniziert, sondern auch darin, daß die Kommunikation zu einem
   nennenwerten Anteil auf die Gemeinschaftsbildung selbst Bezug nimmt
   [http://www.aluluei.com]: Die Existenz von kommentierten
   Mitgliederverzeichnissen, schriftlichen Verhaltensregeln,
   Erfahrungsberichten, Mythen, Ritualen, Zitatesammlungen,
   Insider-Jargon, Klatschgeschichten oder Fotoalben beweist, daß die
   Forumsmitglieder eine eigene Kommunikationskultur etablieren und
   sich damit als Gemeinschaft von anderen Foren abheben. Umfassende
   Willkommensbotschaften, FAQs oder Einführungskurse für Neulinge
   unterstreichen in der Praxis, daß im Forum eine bestimmte Kultur
   gepflegt wird.

- *Common Identity*: Dieser Ansatz konzentriert sich als
   /psychologische/ Theorie auf das Erleben der einzelnen
   Community-Mitglieder. Je stärker sichalle Beteiligten mit dem Forum
   beziehungsweise seinen Funktionen identifizieren, umso stärker ist
   auch die dort ansässige Gemeinschaft ausgeprägt. Eine solche
   kollektive Identifikation ist unabhängig von konkreten Beziehungen
   zu anderen Gemeinschaftsmitgliedern.

   So zeigt sich etwa, daß MUD-Spieler sich aufgrund ihrer
   Begeisterung für das Mudden als Gemeinschaft empfinden und etwa von
   den Chattern abgrenzen. Das MUD vermittelt ihnen dabei sogar ein
   stärkeres Gemeinschaftgefühl als ihr Heimatland, das heißt, die
   MUD-Identität ist stärker ausgeprägt als die nationale Identität.

   Auch Religionsgemeinschaften oder wissenschaftliche Communities
   werden ja durch gemeinsame Werte und Ziele zusammengehalten, nicht
   durch alltägliches Zusammenleben und Zusammentreffen aller
   Mitglieder, das in romantischen Gemeinschaftsvorstellungen zu
   Unrecht immer wieder als notwendiges Kriterium angeführt wird.

- *Common Bond*: Eine gemeinsame ideelle Identifikation ist nur ein
   Teilaspekt des Gemeinschaftserlebens. Zugehörigkeit, Geborgenheit
   und Rückhalt werden durch die konkreten Beziehungen zu anderen
   Gemeinschaftsmitgliedern vermittelt, wie der Common-Bond-Ansatz
   betont. Beide Arten von sozialem Klebstoff sind notwendig, denn
   Gemeinschaften sind oft fraktal aufgebaut: Die Zugehörigkeit zur
   Weltgemeinschaft der Gläubigen (Common Identity) und die Einbindung
   in die lokale Kirchengemeinde (Common Bond) ergänzen sich. Und die
   Identifikation mit der AOL-, IRC- oder MUD-Community wird bestärkt
   durch die soziale Bindung an andere  Mitglieder im eigenen
   AOL-Stamm-Chat, Lieblings-Channel oder bevorzugten MUD.

   Die persönlichen Bindungen zwischen den einzelnen Mitgliedern sind
   umso wichtiger für den Gemeinschaftszusammenhalt, je weniger
   übergeordnete gemeinsame Themen bestehen. So mag man den
   Off-Topic-Channel #flirtcafe verlassen, sofern andere einem
   unsympathisch werden - flirten kann man schließlich überall.
   Dagegen wird man den On-Topic-Channel #linux.ger eher treu bleiben,
   um weiter an der Linux-Gemeinschaft zu partizipieren.

Wiederholte Messungen im selben Forum erlauben es,
Gemeinschaftsveränderungen zu verfolgen. Auch Vergleiche zwischen
verschiedenen Online-Foren sowie zwischen Online- und
Oflline-Communities sind anhand der oben beschriebenen
Gemeinschaftsindikatoren möglich.

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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