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[ox] Lorenz Glatz zum WTC-Terror und den Folgen



Terror und Vergeltung: 
Paranoia gegen Paranoia.

Frieden gibt es nur jenseits von Markt und Staat.

von Lorenz Glatz

Gleichheit

Die über 6.000 Opfer der mörderischen Anschläge auf das World Trade Center
in New York und das Pentagon in Washington haben in der westlichen Welt
eine riesige Welle von Entsetzen und Bestürzung ausgelöst. War es aber
wirklich nur die Abscheu vor der Tat und das Mitleid mit den Ermordeten
und den Hinterbliebenen? Warum gab es dann z.B. im letzten Dutzend Jahre
keine auch nur im Entferntesten vergleichbare Reaktion auf die 7.000 toten
Zivilisten beim US-Flächenbombardment auf Panama City's Armenviertel, auf
die hunderttausenden Toten des Irak-Kriegs und des dann folgenden Embargos
oder auf die von der US-Airforce zerfetzten und verstrahlten Menschen in
Jugoslawien? Ja, selbst die 800.000 massakrierten Menschen in Ruanda waren
kaum einmal Tagesgespräch. 
Was die veröffentlichte Meinung an den Toten in New York und Washington so
tief entsetzt, ist doch wohl in erster Linie die traumatische Erfahrung,
dass auch die stärkste Macht der Welt so unverwundbar ist wie weiland
Siegfried und Achill. 

Der frühbürgerliche Philosoph Thomas Hobbes hat als erster den modernen
Menschen auf dem Markt und im Staat nicht mehr als "Gemeinschaftswesen",
sondern als Konkurrenzwesen definiert. Dass in dieser Konkurrenz die
einander belauernden Menschen letztlich doch auch gleich sind, erkennt er
darin, dass auch der Schwache den Starken töten kann. Dass Konkurrenz auf
allseitigen Mord und Totschlag nicht nur zwischen Staaten, sondern auch im
Inneren der Gesellschaft hinausläuft und dabei auch der Bestgerüstete
nicht sicher ist - der Schock dieser Ahnung dringt wirklich tief. 

Gewalt

Gewalt, einschließlich Krieg und Massenmord, gehört seit Anbeginn zur
Geschichte des modernen Staats und seiner Wirtschaft. Zwar ist ein
Wirtschaftssystem, das nur Geldvermehrung als Ziel hat, vom menschlichen
Standpunkt aus völlig irrational, in der Binnenlogik des Systems aber
blieb Gewalt doch ein begrenztes Mittel zum Zweck des Raubs, der
Ausbeutung und Unterdrückung. Wenn es auch Blutrausch, Terror und wildeste
Exzesse gab - im Allgemeinen fanden Krieg und Gewalt ein Maß in ihrem
Zweck. Das galt auch und gerade für die Gewalt des Kolonialismus und des
Imperialismus. Es galt aber auch für die Gewalt der "nationalen
Be-freiung" und des "sozialistischen Aufbaus". Ihr Ziel war das "Einholen
und Überholen" der Industrieländer. Auch sie praktizierten - bei allen
Unterschieden im Detail - Waren- und Geldwirtschaft samt Lohnarbeit und
Konkurrenz, Wachstumszwang und Einbindung in den Weltmarkt.

Was aber geschieht, wenn der Zweck der Gewalt nicht mehr erreichbar ist?
Wenn Krieg und Terror den Tätern nur mehr Kosten machen und selbst der
Sieg sich nicht mehr lohnt? 

Das Schlachten hört nicht auf, wenn es zwecklos wird - es verliert mit dem
Zweck nur sein Maß und wird wortwörtlich maßlos. Die "Moral" war immer
schon der  Mantel für den Zweck, wenn dieser wegfällt, tritt sie an seine
Stelle. Bestrafung und Vergeltung werden paranoider Selbstzweck. 


Terror

Es ist kein Wunder, dass die Paranoia dort am reinsten hervortritt, wo die
Zustände am tristesten und aussichtslosesten sind. Von "Einholen und
Überholen" ist bei den Zuspätgekommenen des Ostens und des Südens nichts
mehr geblieben. Zu dieser "Peripherie" des Verfalls und des Elends gehört
inzwischen aber auch der wachsende "soziale Rand" der Metropolen. 

Wenn USA und Kompanie einen "Schurkenstaat" niederbombardieren, ist der
Verfall meist schon lang in Gang. Massenhaft und oft ganz unauffällig
deklassiert und ruiniert der (Welt)Markt Abermillionen Menschen. Keine
persönliche menschliche Bosheit hat sich da ausgetobt. Vielmehr wirkt hier
ein sachliches Verhältnis von Waren: hie die Arbeitskraft, dort die
technische Apparatur - zwei Seiten desselben Kapitals. Ein Verhältnis, das
eingegangen wird zum alleinigen Zweck von Geldvermehrung. Wenn dieser
Zweck verfehlt wird, ist das Kapital verloren. Wo der Zweck nicht mehr zu
erreichen ist, dort verschwindet auch das Kapital, die Menschen bleiben
auf der Strecke der Profitjagd.

Die menschlichen Funktionäre und Vollstrecker dieses nunmehr
globalisierten Gesetzes haben Zigmillionen Menschen samt ihren Staaten und
Nationen leidenschaftslos "gewogen und für zu leicht befunden", haben sie
als zu wenig produktiv, zahlungsunfähig, nicht verwertbar ausgemustert. 

Es geht dabei, wohl gemerkt, nicht um die Fähigkeit, die Dinge, die man zu
einem guten Leben braucht, auch selber herzustellen. Es geht um Kauf und
Geld, um Kredit und Zahlung: Wer der Konkurrenz auf dem Markt unterliegt,
(sich) nicht mehr verkaufen kann, der kann nicht kaufen und wird arm:
Ausgeschieden im "freien Wettberwerb" - menschlich bedauerlich natürlich,
man soll auch für sie spenden, doch so sind sie nun einmal, die Gesetze
dieser Marktwirtschaft, die heute über den Staaten steht und "keine
Kon-kurrenz mehr hat", wie der Chef der Wallstreet-Börse bei ihrer
Wiederöffnung so richtig sagte. 

Die Ausgeschiedenen zählen nicht mehr, sie werden in ihrem Elend
ökonomisch unsichtbar - ein Mensch nach dem anderen, ja ganze Regionen und
(zerfallende) Staaten.

Der politische und militärische Kampf um nationale Souveränität von
Staaten, die Hoffnungen von vielen Millionen Ausgestoßenen auf eine
Rückkehr auf die Arbeits- und sonstigen Märkte sind weithin aussichtslos
geworden. Die Kämpfe um "Befreiung", um "gerechten Handel", "Arbeit für
alle" und so weiter erlahmen oder arten aus in Bandenkriege um die
Plünderung der Ruinen des gestoppten Aufbaus, um den Zugang und die
Kontrolle der letzten marktfähigen Oasen in einer Wirtschaftswüste. 

Am Ende der Entwicklung schlagen Kämpfe auch um: in "moralisch"
motivierten Terror ohne staatliche Grundlage, ohne konkreten Zweck. Die
Anschläge in Washington und New York bringen diesen Terror auf den Punkt:
Kein Staat, keine Organisation bekennt sich mehr als Täter, keine
Forderung, kein Ziel mehr wird transportiert als die Vernichtung des
ungreifbaren "bösen Feinds" dort, wo er sich zu materialisieren, zu
personalisieren scheint wie in den USA, in World Trade Center, Pentagon
und Weißem Haus. Menschenleben zählen nicht, auch das eigene nicht.
Selbstmord ist für die Kämpfer die letzte, ihnen angemessene Methode. 
Ein "Kampf", der bei allem Nihilismus auf die Sympathie all jener
Zuschauer zählt, die vielleicht zwar den Extremismus der Methode ablehnen,
doch in verschiedenem Maß die Ansicht teilen, dass das Elend dieser Welt
nicht aus der Logik einer verfehlten totalitären Ordnung, sondern von
"bösen" Menschen kommt, von der "Amerikanisierung der Welt", von der
gierigen "Herrschaft der Finanzkapitalisten" oder gleich wieder  vom
"Weltjudentum".

Vergeltung

Was die "zivilisierte Welt" jetzt als Vergeltung vorbereitet, liegt auf
derselben Ebene wie der Terror, nur sind ihre Mittel um Potenzen
destruktiver. "Unsagbar böse" war der Angriff (Ex-Vizepräsident Al Gore),
ein "monumentaler Kampf gegen das Böse", "ein Kreuzzug gegen den
Terrorismus"  (US-Präsident G.W. Bush) steht bevor, um ihn "mit Stumpf und
Stiel auszurotten" (sein Außenmini-ster Powell). "Armagedon", die
Entscheidungsschlacht zwischen Gut und Böse, geistert durch die Medien - 
"Wir müssen killen", fasst W. Benett, Reagans Secretary of Education,
präzis zusammen. Das Klima in den USA gleicht dem in Österreich nach dem
Attentat von Sarajewo im Juni 1914.

Kein "zivilisierter Staat" darf da abseits stehen. Die weltweite
"Normalität", der desperate Status quo muss verteidigt werden. - Die NATO
konstatiert daher - erstmals seit Bestehen - den "kollektiven
Verteidigungsfall" und bis hinunter zum "neutralen" Österreich erkennt
man: "Es gibt das Böse in der Welt" (Bundeskanzler Schüssel) und übt man
sich in Solidarität im "globalen Kampf gegen Feinde der gesamten
Zivilisation" (Verteidigungsminister Scheibner).

Doch wen und was auch immer die US-geführte weltweite "Allianz gegen den
Terror" nun bombardieren, besetzen und "killen" wird - es wird den Terror
so wenig vernichten wie die Bombardierung von Coca-Bauern in Bolivien und
die Festnahme des panamesischen Drogen-Generals Noriega den
Suchtgifthandel unterbunden hat 

Die staatlichen Gewaltmaschinen planen Krieg, stellen die eigene
Bevölkerung unter Polizeiaufsicht und bereiten militärische und
polizeiliche Operationen vor gegen einen Feind, den sie in Staaten und in
Camps, in Häusern und Vereinen verschanzt sehen wollen, der mit Gefängnis
und Exekution auszurotten, mit militärischer Gewalt zu vernichten ist. 

Sie begreifen nicht, dass der Terror aus der Verwesung genau der Welt
- Gesellschaftsordnung wächst, auf der auch ihr "Kreuzzug" und seine
"Killer" wuchern. Solange die Leiche nicht bestattet ist, bleibt der
Terror unbesiegbar und die Vergeltung bleibt oberstes Gesetz.

Die verteidigte "Normalität" ist nämlich auch für ihre Verteidiger keine
mehr. Die Prognosen sind trist bis rabenschwarz. Auch ganz ohne Attentat
sind die Türme der Profitwirtschaft, die Börsen, schon eingebrochen,. Was
dort seit Jahren als Wert spekuliert und simuliert wurde, ist dabei, auf
dem Boden der Realität unsanft aufzuschlagen. Von der Fed und Weltbank
abwärts beteuern Experten und Politiker, dass die kommende Rezession nicht
kommt. Und doch hat keiner von ihnen eine Ahnung oder einen Vorschlag, wie
man sie verhindern könnte. 

Keine Eroberung und Besetzung ist mehr ein Beutezug, sie rechnen sich
mehr, selbst die Zerstörung eines ganzen Lands reicht nur mehr für ein
schwaches Zwischenhoch von Rüstungsaktien, für ein paar Aufträge, bezahlt
aus Steuermitteln. Wo gerade die Industriealisierung auf dem Altar des
Weltmarkts verbrannt ist, wächst keine Industrie mehr nach. 

Kein Markt, keine Rohstoffquelle muss für "Anleger" mit Gewalt geöffnet
werden wie vor 150 Jahren China, Indien und Afrika. Im Gegenteil: die Welt
steht offen, doch sie ist wie eine Auster ohne Perle - das Kapital
befindet ein Land nach dem anderen für ungeeignet, sich dort noch zu
vermehren. 

Die Gesetze der Geldvermehrung und des unendlichen Wachstums kennen nicht
nur keine Rücksicht auf die Menschen, sie sind auch blind für die Natur.
"Klimaschutz schadet der Wirtschaft" ist z.B. ein Grundprinzip, nach dem
vom Konzernchef bis zum "nationalen Befreier" ("das Erdöl den Arabern!")
jeder handelt, auch wenn es einem Geistesriesen wie Präsident Bush
vorbehalten blieb, das offen auszusprechen. Alle tun mit, auch wenn man
schon sehen, hören, riechen, tasten und schmecken kann, dass damit nicht
nur das Überleben der Marktwirtschaft, sondern das der Menschheit aufs
Spiel gesetzt wird.

Wenn kein Ausweg mehr gangbar scheint, holt hüben und drüben die "Moral"
zum Befreiungsschlag aus, und sie "werden weiter marschieren, wenn alles
in Scherben fällt" und würden vermutlich bis zum bitteren Ende
Welteroberung und Endsieg halluzinieren.


Runter vom sinkenden Schiff!

Diese Zuspitzung der Entwicklung macht zugleich deutlicher als bisher,
worauf es heute ankommt: 

Runter vom sinkenden Schiff!, Bruch mit der nunmehr historisch bis ins
Letzte ausentwickelten menschenfeindlichen Logik der Ware und des
Kapitals: Das Wachstum stößt an seine Grenzen, die Krise von Profit und
Geldvermehrung führen in Verarmung und Hoffnungslosigkeit, die Konkurrenz
schnappt über in eine Spirale von Terror und Kreuzzug.

Die Kräfte für die Verteidigung der schwindenden "Errungenschaften"
schwinden mit diesen. Wann, wenn nicht jetzt sollen wir am Ausweg bauen,
der sich aus der Krise selbst ergibt: (je)der Mensch statt dem Profit als
Zweck, freie Kooperation statt zwanghafte Konkurrenz als Methode für die
Gestaltung unseres (Zusammen)Lebens. 

Verweigerung des Schulterschlusses mit der "Vergeltung" (in Österreich -
wie üblich - an der Neutralität vorbei mit NATO und EU und - wie überall -
in der brutalen Illusion, man könnte doch noch über genügend Leichen und
Ruinen unverwundbar werden), 

Verweigerung der Parteinahme im "nationalen Befreiungskampf" (der
Nationalstaat ist nur mehr die Fata Morgana eines Auswegs, der Kampf gegen
den Imperialismus wird zur scheiternden Symptomkur mittels Terror, wenn
nicht zu verstecktem Antisemitismus), 

Parteinahme für die Opfer der doppelten Paranoia, flexible und elastische
Kooperation aller "Ausstiegswilligen" gegen den Zugriff von "law and
order"  - das alles sind Hilfsmaßnahmen, die es zu entwickeln gilt für ein
Weiterleben in der Krise jeder bisherigen "Normalität".

Eine "bessere Politik" in der alten Ordnung findet mit deren Verfall kaum
noch Träger. Der "Kampf gegen den Terror" ebnet die Unterschiede der
Parteien weiter ein. Er wird auch teuer, "wir alle müssen Opfer bringen":
in Deutschland zahlen sie für den Anfang schon mehr Steuern, in Österreich
neue Abfangjäger. 

Kollektiver Ausstieg und Kampf um Ressourcen statt individuellem Abstieg
in einsame Armut kann heißen: ganz alltägliche, praktische Kritik am
Arbeits- und Profitsystem durch Entfaltung der Kooperation gegen die
Konkurrenz auf allen Gebieten des alltäglichen Lebens: Von der Kultur über
die (Anti)Politik bis zum Essen und Wohnen, von kleinsten Teillösungen bis
zu umfassenden Projekten, von lokaler gegenseitiger Hilfe bis zu
internationalen Verbindungen ist nichts "unwichtig". Alle Sekten sind
gründlich blamiert, jeder Vorschlag ist zu prüfen, jeder Versuch, den
Griff von Markt und Staat durch Kooperation zu lockern, kann uns
weiterführen.

Wir sollten die Erfahrungen von Projekten mit unseren Mitteln publizieren,
studieren, diskutieren, Vorschläge und Kritik ermutigen, was immer
sinnvoll scheint, umsetzen und unterstützen. Wir wissen nicht, wie weit
wir damit kommen - aber es ist wohl das, was wir tun können - für uns, für
die Menschen statt für den Profit.


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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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