[ox] Entgegnung zum Contraste-Schwerpunkt
- From: Stefan Merten <smerten oekonux.de>
- Date: Mon, 10 Sep 2001 23:23:30 +0200
Liebe Leute,
in der aktuellen Contraste (September 2001) ist eine Entgegnung zu
unserem Schwerpunkt erschienen, die natürlich hier nicht fehlen darf.
Ich finde sie zwar reichlich dünn - vielleicht sollte Jörg erst mal
rauskriegen worüber er da eigentlich schwadroniert? -, aber lest
selbst. Von Annette, die sich (leider :-( ) vorerst ihrer
wissenschaftlichen Tätigkeit widmet, kommt wohl noch eine Entgegnung.
BTW: In der gleichen Ausgabe ist Heinz Weinhausens Konferenz-Beitrag
in kurzer Form wiedergegeben.
Mit Freien Grüßen
Stefan
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Man schlägt die Hand nicht, die das Essen bringt
Debatte: Einige verwunderte Gedanken zur Heiligsprechung des Computers
in "CONTRASTE"
Aufmacher: Mit zunehmender Verwunderung verfolge ich nun schon seit
Jahren, wie in den Medien - und zwar auch in denen des sog. linken
bzw. gesellschaftskritischen Spektrum, wie z.B. in "CONTRASTE" - der
Computer als Ausgangspunkt eines neuerlichen Befreiungsversuchs aus
dem Kapitalismus gefeiert wird. Dieser Enthusiasmus erreicht in der
letzten Ausgabe der "CONTRASTE" einen (vorläufigen?) Höhepunkt.
Von Jörg Sommer, Heidelberg
Besonders mit der sog. "freien Software" (vor allem "linux") glaubt
man offenbar, sich "in die Freiheit klicken" zu können (S. 9). Da ist
von einer "Gesellschaft ohne Markt und Geld" die Rede (S. 1), von
"individueller Selbstentfaltung" (S. 8), von "ökologisch sinnvollem
Wirtschaften" (S. 8). Mit Halbheiten will man/frau sich nicht
zufrieden geben: Die "Gemeinwesenökonomie" (eine Gesellschaftsutopie)
wird kritisiert, weil sie "noch mit einem Bein in der kapitalistischen
Ökonomie" stehe (S. 8). Nicht nur die Geldwirtschaft soll überwunden
werden; selbst die Tauschwirtschaft ist offenbar noch zu sehr in der
kapitalistischen Logik verhaftet. Sogar schon "für den Übergang [von
der kapitalistischen in eine neue Gesellschaftsform, J.S.] wird
gefordert, alle Innenverhältnisse konsequent nicht wertförmig zu
gestalten." (S. 8).
Meine Kritik möchte ich mit der ganz bescheidenen Frage einleiten: Was
nutzt einem die schönste freie Software, wenn man keinen Computer hat?
Wo soll der herkommen in einer geldlosen Gesellschaft? Noch nicht
einmal eintauschen soll ich ihn können? Also muß ich auf ein Geschenk
warten? Und wo kriegt der Schenker den Computer her? Und ökologisch
soll das ja auch noch sein! Wo also hin mit den Millionen ausgedienter
Geräte, wenn alle fünf Jahre eine neue Innovationswelle anrollt?
Offenbar hat es sich in den "Oekonux"-Kreisen noch nicht
herumgesprochen, daß Elektronikschrott hinsichtlich des Recyclings
besonders problematisch ist. Und dann die Frage: Wo und wie werden
Computer und deren Bestandteile (Chips usw.) produziert? Wie schön,
wenn sich die Ökofreaks der Industrienationen mit ihren Computern eine
"individuelle Selbstentfaltung" leisten können - können das auch die
Arbeiterinnen in der Elektronikindustrie, die Frauen in der dritten
Welt, die bei der Chip-Produktion schamlos ausgebeutet werden?
Und von Selbstversorgung ist ja auch die Rede: Kühlschränke,
Staubsauger, Radios, Telefone, im Notfall sogar ein Auto - das alles
können sich geschickte Bastler noch herstellen und auch warten. Beim
Computer ist das absolut unmöglich. Mit ihm hängt man/frau
unweigerlich am Tropf der Großindustrie, da ist auch mit bestem Willen
keine Selbstversorgung mehr drin. Das ist wirklich ein qualitativer
Sprung bei der "Entfaltung der Produktivkräfte".
Da wird noch darüber diskutiert, ob man die "Versuche des Kapitals,
freie Software für die Verwertung einzuspannen" vielleicht "nicht
ernst genug nehme" (S. 6). Die Diskussion läßt sich schnell beenden:
Jede/r, die/der "freie Software" verwendet ist selbstverständlich
längst "in die Verwertung durch das Kapital eingespannt" - denn er
oder sie hat ja wohl einen Computer gekauft (oder geschenkt bekommen,
s.o.). Selbst "CONTRASTE" ist schon lange vereinnahmt: Abgesehen
davon, daß zu ihrer Herstellung Computer gebraucht werden, macht sie
ja eine sehr effektive und dazu noch kostenlose Werbung für die
Branche! Und das für eine Zielgruppe, die durch die sonst üblichen
Werbemedien unterversorgt ist. Die chronische Unterfinanzierung der
"CONTRASTE" könnte schnell beseitigt werden: Es bestehen gute Chancen,
daß sie von der Computerindustrie gesponsort wird!
Zum Schluß will ich noch ein paar Thesen zur Diskussion stellen, von
denen in der "CONTRASTE" bisher - soweit ich das überblicke - noch gar
keine Rede war:
1. Unsere Gesellschaft leider nicht an Informationsmangel, sondern an
Informationsflut. Und: Was ist daran eigentlich so demokratisch
oder emanzipatorisch, wenn jede/r ihren/seinen Informationsmüll in
die Gegend kippt?
2. Mit dem Computer geht es schneller, billiger, weiter - alles
qualitative Kriterien, die eng mit dem Wachstumswahn verbunden
sind. Dagegen: Entschleunigung der Gesellschaft; ökologisches
Wirtschaften ist teurer, nicht billiger; Regionalisierung ist
angesagt.
3. Auch die Kommunikation wird mit dem Computer schneller, billiger,
weiter. Qualitativ verarmt sie, denn ich kann meinen
Kommunikationspartner nicht sehen, riechen, hören, anfassen, seine
Handschrift nicht wahrnehmen. Manche kontaktgestörte Menschen
finden das ja vielleicht ganz gut, und es gibt Autisten, die nur
mit dem Computer kommunizieren oder gar nicht. Für die ist der
Computer sicher ein Segen.
4. Mit dem Computer hat der Warenfetischismus einen neuen Höhepunkt
erreicht. Mehr noch als das Geld steckt diese Maschine voller
Verheißungen - sie verspricht Macht, Ansehen, Geborgenheit, Sex,
Unabhängigkeit und bannt alle möglichen Ängste.
5. Der Computer ist das ideale Instrument, um immer wieder neue
Bedürfnisse und Begehrlichkeiten zu entfachen - mithin der
entscheidende Motor für nahezu unendliches Wirtschaftswachstum. Das
Weiterbestehen der kapitalistischen Wirtschaftsform ist damit auf
unabsehbare Zeit gesichert.
6. Der Computer ist eines der wichtigsten Instrumente zur Vernichtung
von Arbeitsplätzen und dient so der weiteren
Produktivitätssteigerung der kapitalistischen Wirtschaft. Man
jubelt über neue Arbeitsplätze, die mit der Computerisierung
geschaffen werden und übersieht dabei geflissentlich die in der
Regel viel größere Zahl von Arbeitsplätzen, die durch die gleiche
Maßnahme verloren gehen.
7. Auch das Märchen von der "Entlastung von Routinearbeit" und dem
"Freiwerden für kreative und kommunikative Tätigkeiten" durch den
Computer spukt immer noch in den Köpfen vieler Computerfans herum.
Wer sich in der Arbeitswelt einmal genauer umsieht, wird eines
Besseren belehrt: Die Arbeit wird nur intensiviert; alles, was an
Kreativitäts- und Kommunikationsmöglichkeiten entsteht, wird
wegrationalisiert.
8. Sollte die "freie Softwarebewegung" überhand nehmen, und zu viel
Konsumvolumen abschöpfen, ist es der Computerindustrie ein
Leichtes, ihre Geräte künftig mit Sperren auszustatten, die nur
noch die von ihr verkaufte Software akzeptieren. Aus der Traum!
Wir alle werden mehr oder weniger in die Computerisierung
hineingezwungen, und es kann auch Gründe geben, dich freiwillig einen
Computer zuzulegen (ich habe auch einen!). Aber es ist eine Sache,
dieses Gerät (notgedrungen oder auch freiwillig für bestimmte
Aufgaben) zu benutzen - und eine andere, ihn heilig zu sprechen als
Instrument zur Befreiung vom Kapitalismus.
Ich bin froh über die wiederauflebende Kapitalismuskritik und ich
finde es überaus wichtig, immer wieder neu über alternative
Gesellschaftsutopien nachzudenken. Dabei räume ich den Themen
"Selbstversorgung", "individuelle, aber auch kollektive
Selbstentfaltung", "geldfreie Wirtschaft", "Selbstorganisation" und
ästhetischer Ausdruck neuer Lebensformen" einen hohen Stellenwert ein.
Nur sehe ich nicht, wie das alles mit dem Computer auch nur einen
Schritt vorangebracht werden könnte.
Sehr bedauerlich, daß "Die Zeit" auf diesem Gebiet "CONTRASTE" längst
links überholt hat. Vielleicht könnte ja in der "CONTRASTE" noch ein
anderer Diskussionszusammenhang entstehen, in dem dieses Thema auch
einmal grundsätzlich kritisch angegangen wird - anstatt über der
"freien Software" einfach zu vergessen, daß sie ohne Hardware keinen
Sinn macht. Ich würde mich jedenfalls über Reaktionen auf meine
Gedanken freuen - seien es nun Beiträge in der "CONTRASTE" oder auch
Briefe an mich - dann aber bitte mit der guten alten gelben Post!
Meine Adresse: Jörg Sommer, Köpfelweg 68, D-69118 Heidelberg.
Literaturempfehlung:
Schiller, Dan: Digital Capitalism. MIT Press, Cambridge, Massachusetts
2000
Weizenbaum, Joseph: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der
Vernunft. Frankfurt: Suhrkamp, 9. Aufl. 1994
Weizenbaum, Joseph: Wer erfindet die Computermythen? - Der Fortschritt
in den großen Irrtum. Breisgau u.a.: Herder 1994
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