[ox] André Gorz zu Rifkins Buch "Access ..." et al.
- From: UlrichLeicht t-online.de (Ulrich Leicht)
- Date: Sun, 8 Jul 2001 09:57:53 +0200
UlrichLeicht t-online.de
Hallo Listige,
anbei zur Kenntnis ein kritischer Artikel von André Gorz zu Rifkins Buch
"Access ..." und den spannenden Fragen von "Wissensökonomie"- "Wissenskapital",
"Humankapital" usw.
Gruß
Uli
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[Freitag: Die Ost-West-Wochenzeitung]
http://www.freitag.de
06.07.2001
André Gorz
Vom totalitären Vorhaben des Kapitals
FREITAG-DEBATTE: EIGENTUM [*] Notizen zu Jeremy Rifkins "The Age of Access"
Der Kapitalismus hat sich gewandelt. Er gründet immer weniger, schreibt Jeremy
Rifkin, auf Produktion, Vermarktung und Besitz von materiellen Gütern und
greifbarem Eigentum und immer mehr auf der Vermarktung von Zeit, Erfahrungen,
Ideen, Kultur. Ein epochaler Paradigmenwechsel hat sich vollzogen. Eine "neue
Ökonomie" ist entstanden, in der, so Rifkin, hauptsächlich Konzepte, Design,
Wissen verkauft werden und deren materielle Vergegenständlichung vom
ökonomischen Standpunkt aus immer nebensächlicher wird.
Die vielen Beispiele, mit denen Rifkin diesen Paradigmenwechsel belegt, sind
beeindruckend. Doch sie erklären kaum, wie und warum es dazu kam - und worum
es jetzt geht. Dass "die Spitzentechnologien die radikale Umstrukturierung der
globalisierten Ökonomie erlaubt haben", ist klar. Aber welche Zwecke verfolgt
der "neue" Kapitalismus mit dieser Umstrukturierung? Um sie zu verstehen, ist
Rifkins Kapitel 3 "Die schwerelose Ökonomie" besonders wichtig. Immer mehr
Unternehmen, schreibt er, ziehen es heute vor, ihr fixes Kapital zu pachten und
zu nutzen, statt es zu besitzen. (...)
Natürlich besteht das ausgelagerte fixe Kapital weiter fort. Es ist aber nicht
länger Firmenkapital. Es gehört den "Partnerbetrieben", die die Firma durch
ständigen Druck dazu zwingt, ihren ArbeiterInnen Höchstleistungen zu
Niedrigstlöhnen abzuringen. Eine neue, quasi feudale Arbeitsteilung entsteht
dadurch. Die Firma, die selbst nichts Greifbares besitzt und erzeugt, erreicht
sehr hohe Gewinne (z. B. vier Milliarden Dollar jährlich allein auf den in den
USA verkauften Nike-Schuhen), während der Profit auf das gepachtete fixe
Kapital natürlich niedrig ist. Die Aktien der Firma erfreuen sich eines sehr
hohen Börsenkurses, während die "Partnerbetriebe" auf der Börse meistens
ignoriert werden. Arbeit - das heißt abstrakte, unmittelbare Arbeit (Nike z.B.
beschäftigt 450.000 Arbeiterlnnen in Süd- und Ostasien zu Hungerlöhnen) - und
fixes Sachkapital werden zu immer unwichtigeren Produktivkräften abgewertet,
Intelligenz und Wissenskapital hingegen aufgewertet. Das greifbare Sachkapital
der Industrie stellt in den USA kaum noch ein Drittel ihres Börsenwertes dar.
Eine von Rifkin zitierte schwedische Studie kommt zum Schluss, dass der Anteil
des "intellektuellen Kapitals" der meisten Unternehmen einen 5- bis 16-mal
höheren Börsenwert erreicht als das Sach- und Finanzkapital.
Die Firmen haben somit das Kunststück vollbracht, ihr "intellektuelles Kapital"
immer vollständiger vom Sach- und Finanzkapital abzukoppeln und schließlich in
der "neuen Ökonomie" nur noch als solches zur Börse zu tragen. Dafür dürfte es
meines Erachtens noch einen tieferen Grund geben. Vom betriebswirtschaftlichen
Standpunkt aus ist der "Wert" des "intellektuellen Kapitals" nicht messbar.
Seine materielle Substanzlosigkeit eignet sich ganz besonders dazu, als "von
jeglichem Körper befreite Geldseele des Kapitals" (Robert Kurz) zu gelten, als
Versprechung grenzenloser zukünftiger Märkte für zukünftige Waren von nicht
messbarem "Wert", und folglich auch als Versprechung von grenzenlosen
zukünftigen Kursgewinnen. Die gigantische Finanzblase, die sich seit Beginn der
neunziger Jahre aus fiktiven Wertanstiegen des Aktienkapitals nährt, wird damit
weiter aufgebläht und der Glauben verbreitet, dass die Börse alle
wirtschaftlichen Probleme lösen und alle Menschen reich machen kann. (...)
Eigentliches "Wissenskapital" und eigentliche "Wissensökonomie" unterscheiden
sich vom Leasing und vom Franchising dadurch, dass Wissen unmittelbar produktiv
wirkt: sowohl in Maschinen oder Software gespeichertes Wissen als auch
lebendiges Wissen, das sich in der Leistungsfähigkeit komplexer Arbeit
ausdrückt. "Vom Standpunkt des unmittelbaren Produktionsprozesses aus" kann die
Entwicklung von Wissen als "Produktion von capital fixe betrachtet werden" und
lebendiges Wissen als Humankapital (K. Marx, Grundrisse, S. 599).
Zum Unterschied von Kunst und künstlerischem Können ist Wissen wesensgemäß
immer ein Ergebnis gesamtgesellschaftlicher Zusammenarbeit und universalen
Austausches und Verkehrs. Es gilt als Gemeingut der Menschheit und verlangt
als solches allen zugänglich zu sein, um je nach Bedarf in besonderen Formen
eingesetzt und weiterentwickelt zu werden. Seine Inhaber können es weg- und
weitergeben, teilen und tauschen, ohne es dadurch zu verlieren oder zu
schmälern. Ganz im Gegenteil, je mehr Menschen am Austausch und am Weitergeben
von Wissen teilnehmen, umso größer wird das Wissen, zu dem jede und jeder
Zugang haben kann.
Gemäß diesen Prinzipien funktionieren auch die virtuellen Gemeinschaften, die
im Internet sogenannte freie Software - Systeme mit offenem Quellcode -
betreiben. Die Programmiersprache, in der die Software-Programme ursprünglich
konzipiert wurden (hauptsächlich der Quellcode GNU), ist allen bekannt und die
Software-Programme (von Linux) können folglich von den Teilnehmern geändert,
verbessert und weiterentwickelt werden. Je zahlreicher die Teilnehmer, umso
größer wird der Gebrauchswert des Systems für alle. Es entsteht eine
"anarcho-kommunistische Ökonomie des Gebens", wie sie Richard Barbrooke nennt.
Sie weist darauf hin, dass eine auf Schöpfung, Austausch und kooperativem
Einsatz von Wissen gegründete "Wissensgesellschaft" sich von der Logik von
Waren-, Geld- und Kapitalbeziehungen befreien müsste und in radikalem
Gegensatz zur kapitalistischen Gesellschaft steht.
Aber gerade eine derartige Entwicklung der Wissensökonomie gilt es, in
kapitalistischen Gesellschaften zu verhindern. Die kapitalistische Verwertung
von Wissen verlangt, dass es als privates Firmeneigentum allgemein unzugänglich
gemacht wird. Firmeneigene Software wird durch Patente geschützt, die
Programmiersprache ist geheimgehalten, der Zugang zum gespeicherten Wissen ist
zahlungspflichtig, und die Verwendungsmöglichkeiten der Software sind
vorbestimmt und absichtlich eingeschränkt. Infolge der geheimgehaltenen
Programmiersprache können die Benutzer des Internets die patentierte Software
weder ergänzen noch eventuelle Irrtümer korrigieren. Sie sind völlig abhängige
Konsumenten eines fremden, vorverdauten Wissens. Die Software-Firma bietet
ihnen ständig Verbesserungen, Ergänzungen und zusätzliche Dienstleistungen
zum Kauf an. Sie bezieht aus ihrem verschlüsselten Wissen eine Rente, baut sich
womöglich (wie z.B. Microsoft) eine Monopolstellung auf, indem sie kleinere,
komplementäre Dienstleistungen bietende Unternehmen sowie potentielle
Konkurrenten aufkauft und existierenden Konkurrenten den Zugang zum Markt zu
verbauen sucht. Letzteres tut sie einerseits, indem sie den Markt mit ihrem
unüberbietbaren Marketing dominiert (Microsoft gibt 40 Prozent seines Umsatzes
für Werbung aus und erzielt Gewinnmargen von mehr als 30 Prozent), und
andererseits, indem sie ihre Software-Disketten den Benutzern schenkt. Ihr
Geld verdient sie dann mit dem Verkauf von zusätzlichen Dienstleistungen und
mit den Werbungsinseraten für alle möglichen Waren und Dienste, die sie in
ihre Programme einschleust.
Die Vergeldlichung und Vermarktung von Wissen hat aber nicht nur kommerzielle
Zwecke. Die kapitalistische Verwertung von Wissen setzt voraus, dass es, wie
alle anderen Produktivkräfte und Arbeitsmittel, vom Kapital beherrscht wird und
es ihm erlaubt, ein Kommando über die lebendige Arbeit weiter auszuüben. Wissen
wird zu diesem Zweck zerstückelt, reduziert, individualisiert und in einer
Weise vermittelt, die die Autonomiefähigkeit der Menschen beschränkt. Durch
die Privatisierung des Bildungs- und Ausbildungswesens, die sich im Internet
vollziehende Vermarktung und tendenzielle Monopolisierung von allen möglichen
Lehrkursen sollen die menschlichen Subjekte in ihrer Lernfähigkeit, ihrem
Denken, ihrer Imagination, ihren Wertvorstellungen und in ihrer kommunikativen
Aktivität beherrscht und zu Kunden der privaten Bildungsindustrie gemacht
werden. Die Menschen sollen ihr Wissen, ihre Kompetenzen als warenförmige
Bildungsgüter wahrnehmen und folglich von den Lehrkräften, die sie für ihre
(Aus-)Bildung bezahlen, möglichst nützliches und schnell verwertbares Wissen
einfordern. Die Beziehung zwischen Kunde und Verkäufer soll auf diese Weise -
wie dies bereits in Großbritannien geschieht - das Bildungswesen sowie auch
die Politik beherrschen und bereits bei Heranwachsenden die Selbstverwertung
und Selbstvermarktung zum entscheidenden Lebensziel machen.
Das geradezu totalitäre Vorhaben des Kapitals, sich der Menschen bis in ihre
Denkfähigkeit hinen zu bemächtigen, und der Widerstand, den letztere gegen
diese Instrumentalisierung ihrer selbst leisten, sind eine neue, zugleich
diffuse und radikale Form des Klassenkampfs. Sie entwickelt sich dort, wo
Wissen erzeugt, geteilt, gelehrt, bewertet, privatisiert oder vorenthalten
wird. Dort, wo das Kapital es dadurch beherrscht, dass es mit Wissen den
Menschen zugleich auch Unwissen und ein Bewusstsein von Unzulänglichkeit
vermittelt: in den Betrieben, im Bildungs- und Ausbildungswesen.
Diese Front wird von Rifkin gar nicht erwähnt. Seine kritische Aufmerksamkeit
gilt der viel breiteren Front der Alltagskultur. In Anlehnung an die Klassiker
der Kritischen Theorie beschreibt er aber eingehend, wie der herrschende
"Hyperkapitalismus" alle Dimensionen der menschlichen Existenz, alle
Erfahrungen, Erlebnisse und Beziehungen in kaufbare Waren verwandelt, die man
von Dienstleistern und der Unterhaltungsindustrie erhalten kann und die die
Lebenswelt mit Verwertungszwängen überzieht. Die von Arbeit freigesetzte Zeit
schafft nicht - entgegen der herkömmlichen Meinung - "Raum für die Entwicklung
der Einzelnen daher auch der Gesellschaft", sie wird vielmehr vom Kapital
kolonisiert und den Menschen von der Freizeitindustrie als Kulturware und
Unterhaltung verkauft. Die Freizeit- und Kulturindustrie beschlagnahmt den
öffentlichen Raum, verwandelt kulturelles Gemeingut in standardisierte,
triviale Kulturwaren. Herbert Marcuse nannte dies "repressive Entsublimierung".
Nicht-Arbeitszeit ist folglich nicht mehr Zeit für Muße, Besinnung, Genuss und
freie Selbsttätigkeit. Sie steht selbst unter Zeit- und Verwertungsdruck,
insofern es gilt, vom Geld, das man der Freizeitindustrie für sie gezahlt hat,
so gut und schnell wie möglich zu profitieren. Noch nie, bemerkt Rifkin, war
die unmittelbare Arbeitszeit so kurz und noch nie standen die Menschen
dennoch unter so starkem und permanentem Zeitdruck.
Gerade weil die Nicht-Arbeitszeit einen wachsenden, bereits überwiegenden Teil
der Lebenszeit umfasst, kann das Kapital seine Herrschaft nur dadurch
aufrechterhalten, dass es den lnhalt der Nicht-Arbeitszeit bestimmt. Es muss
die Menschen davon abhalten, sich in ihrer freigesetzten Zeit dem
Verwertungszwang zu entziehen und Formen alternativer Gesellschaftlichkeit
jenseits der Geld- und Warenbeziehungen zu entwickeln. Freizeit- und
Unterhaltungsindustrie, Werbung und Marketing haben nicht eine bloße
kommerzielle Funktion. Sie bestimmen Meinungen, Einstellungen,
Verhaltensweisen, Selbstbilder, Lüste, Bedürfnisse, Geschmack; ihre Funktion
ist ästhetisch-kulturell, sie erzeugen geradezu die Individualitäten, die
den Verwertungszwang, den Konkurrenzkampf, die Neigung zum Konsum, zur
Selbstvermarktung und zur modischen Selbstinszenierung verkörpern. Sie sind
strategische Machtinstrumente.
Wie sehr den Geldmächten daran liegt, die Menschen bis in ihre geheimsten
Phantasien in den Griff zu bekommen, geht daraus hervor, dass die Firmen der
Unterhaltungsindustrie ein Kartell bilden, das sich, mit der Unterstützung des
restlichen Big Business, alle Frequenzen des elektromagnetischen Spektrums
aufteilt, sie aufkauft und die ganze Menschheit zum exklusiven Konsum
US-amerikanischer Fernsehprogramme und Filme zu zwingen sucht. "Es geht hier",
wie Rifkin den Medienhistoriker Ben Bagdikan zitiert "um den Besitz der Macht,
nahezu jeden Mann, jede Frau und jedes Kind...mit kontrollierten Bildern und
Worten zu umzingeln, jede neue Generation von Amerikanern zu sozialisieren, die
politische Tagesordnung des Landes zu verändern. Und mit dieser Macht geht die
Fähigkeit einher, einen Einfluss auszuüben, der größer ist als der von Schulen,
Religionen, Eltern und sogar des Staates."
Rifkin befasst sich kaum mit dem Widerstand, den diese totalitäre Kontrolle
hervorruft: mit den zahlreichen sozialen und kulturellen Bewegungen, der Suche
nach alternativen Lebensstilen, dem Kampf um Selbstbestimmung in und außerhalb
der Arbeit, den neuen Alltagssolidaritäten und "Welt-Bürgerbewegungen", die
früher oder später in politische Machtkämpfe und Bündnisse münden müssten, in
Aktionen, die die herrschende Gesellschaft auf allen Gebieten infrage stellen.
Rifkin findet schließlich den Ansatz für eine Radikalisierung seiner Kritik bei
dem kanadischen Gesellschaftstheoretiker Crawford MacPherson. Dieser weist
darauf hin, dass beim gegenwärtigen Stand der Produktivkräfte das wichtigste
Recht nicht mehr das Recht auf Privateigentum ist, sondern das Recht eines
jeden, nicht vom Genuss von Ressourcen ausgeschlossen zu sein, die die ganze
Gesellschaft zusammengetragen hat. Diese Ressourcen sind ein Gemeingut, zu dem
alle das Zugangsrecht haben. Sie umfassen Wissen, Bildung, Umwelt, Saat- und
Erbgut, an denen kein privates Eigentum zulässig ist. Der Staat, fügt Rifkin
hinzu, hat die Aufgabe, jedem den Zugang zu den territorialen und virtuellen
Netzwerken zu garantieren, in welchen die Menschen sich verständigen und ihren
wirtschaftlichen und kulturellen Austausch betreiben.
Rifkin fragt sich allerdings, ob in einer global vernetzten Wirtschaft die
Staaten dazu noch die Macht haben. Er lässt die Frage offen. Wo es um Macht
geht, kann nur politisches Handeln weiterhelfen. Dessen Subjekte sind die
Staaten schon längst nicht mehr. Um sich den "Gesetzen" des Marktes, der WTO
und des globalisierten Finanzkapitals zu widersetzen, müssen sie sich in
transnationale Akteure verwandeln. Allein neue internationale Institutionen
können sowohl nationales als auch globales Gemeingut geltend machen und es der
Logik von Waren- und Geldbeziehungen entziehen. Diesen Wandel zu erzwingen,
ist das Vorhaben global vernetzter sozialer Bewegungen.
Ungekürzte Fassung in: Widerspruch 40, Zürich 2001. Wir danken für die
Nachdruckgenehmigung
André Gorz ist französischer Sozialtheoretiker, Philosoph und Autor vieler
kritischer Überlegungen zum Ende der Arbeitsgesellschaft. Zuletzt erschien
Arbeit zwischen Misere und Utopie (1997).
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