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[ox] André Gorz zu Rifkins Buch "Access ..." et al.



UlrichLeicht t-online.de

Hallo Listige,

anbei zur Kenntnis ein kritischer Artikel von André Gorz zu Rifkins Buch 
"Access ..." und den spannenden Fragen von "Wissensökonomie"- "Wissenskapital", 
"Humankapital" usw.

Gruß
Uli 
   
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[Freitag: Die Ost-West-Wochenzeitung]   
http://www.freitag.de

06.07.2001
 

André Gorz
Vom totalitären Vorhaben des Kapitals
 
FREITAG-DEBATTE: EIGENTUM [*] Notizen zu Jeremy Rifkins "The Age of Access"

Der Kapitalismus hat sich gewandelt. Er gründet immer weniger, schreibt Jeremy 
Rifkin, auf Produktion, Vermarktung und Besitz von materiellen Gütern und 
greifbarem Eigentum und immer mehr auf der Vermarktung von Zeit, Erfahrungen, 
Ideen, Kultur. Ein epochaler Paradigmenwechsel hat sich vollzogen. Eine "neue 
Ökonomie" ist entstanden, in der, so Rifkin, hauptsächlich Konzepte, Design, 
Wissen verkauft werden und deren materielle Vergegenständlichung vom 
ökonomischen Standpunkt aus immer nebensächlicher wird.

Die vielen Beispiele, mit denen Rifkin diesen Paradigmenwechsel belegt, sind 
beeindruckend. Doch sie erklären kaum, wie und warum es dazu kam - und worum 
es jetzt geht. Dass "die Spitzentechnologien die radikale Umstrukturierung der 
globalisierten Ökonomie erlaubt haben", ist klar. Aber welche Zwecke verfolgt 
der "neue" Kapitalismus mit dieser Umstrukturierung? Um sie zu verstehen, ist 
Rifkins Kapitel 3 "Die schwerelose Ökonomie" besonders wichtig. Immer mehr 
Unternehmen, schreibt er, ziehen es heute vor, ihr fixes Kapital zu pachten und 
zu nutzen, statt es zu besitzen. (...)

Natürlich besteht das ausgelagerte fixe Kapital weiter fort. Es ist aber nicht 
länger Firmenkapital. Es gehört den "Partnerbetrieben", die die Firma durch 
ständigen Druck dazu zwingt, ihren ArbeiterInnen Höchstleistungen zu 
Niedrigstlöhnen abzuringen. Eine neue, quasi feudale Arbeitsteilung entsteht 
dadurch. Die Firma, die selbst nichts Greifbares besitzt und erzeugt, erreicht 
sehr hohe Gewinne (z. B. vier Milliarden Dollar jährlich allein auf den in den 
USA verkauften Nike-Schuhen), während der Profit auf das gepachtete fixe 
Kapital natürlich niedrig ist. Die Aktien der Firma erfreuen sich eines sehr 
hohen Börsenkurses, während die "Partnerbetriebe" auf der Börse meistens 
ignoriert werden. Arbeit - das heißt abstrakte, unmittelbare Arbeit (Nike z.B. 
beschäftigt 450.000 Arbeiterlnnen in Süd- und Ostasien zu Hungerlöhnen) - und 
fixes Sachkapital werden zu immer unwichtigeren Produktivkräften abgewertet, 
Intelligenz und Wissenskapital hingegen aufgewertet. Das greifbare Sachkapital 
der Industrie stellt in den USA kaum noch ein Drittel ihres Börsenwertes dar. 
Eine von Rifkin zitierte schwedische Studie kommt zum Schluss, dass der Anteil 
des "intellektuellen Kapitals" der meisten Unternehmen einen 5- bis 16-mal 
höheren Börsenwert erreicht als das Sach- und Finanzkapital.

Die Firmen haben somit das Kunststück vollbracht, ihr "intellektuelles Kapital" 
immer vollständiger vom Sach- und Finanzkapital abzukoppeln und schließlich in 
der "neuen Ökonomie" nur noch als solches zur Börse zu tragen. Dafür dürfte es 
meines Erachtens noch einen tieferen Grund geben. Vom betriebswirtschaftlichen 
Standpunkt aus ist der "Wert" des "intellektuellen Kapitals" nicht messbar. 
Seine materielle Substanzlosigkeit eignet sich ganz besonders dazu, als "von 
jeglichem Körper befreite Geldseele des Kapitals" (Robert Kurz) zu gelten, als 
Versprechung grenzenloser zukünftiger Märkte für zukünftige Waren von nicht 
messbarem "Wert", und folglich auch als Versprechung von grenzenlosen 
zukünftigen Kursgewinnen. Die gigantische Finanzblase, die sich seit Beginn der 
neunziger Jahre aus fiktiven Wertanstiegen des Aktienkapitals nährt, wird damit 
weiter aufgebläht und der Glauben verbreitet, dass die Börse alle 
wirtschaftlichen Probleme lösen und alle Menschen reich machen kann. (...)

Eigentliches "Wissenskapital" und eigentliche "Wissensökonomie" unterscheiden 
sich vom Leasing und vom Franchising dadurch, dass Wissen unmittelbar produktiv 
wirkt: sowohl in Maschinen oder Software gespeichertes Wissen als auch 
lebendiges Wissen, das sich in der Leistungsfähigkeit komplexer Arbeit 
ausdrückt. "Vom Standpunkt des unmittelbaren Produktionsprozesses aus" kann die 
Entwicklung von Wissen als "Produktion von capital fixe betrachtet werden" und 
lebendiges Wissen als Humankapital (K. Marx, Grundrisse, S. 599).

Zum Unterschied von Kunst und künstlerischem Können ist Wissen wesensgemäß 
immer ein Ergebnis gesamtgesellschaftlicher Zusammenarbeit und universalen 
Austausches und Verkehrs. Es gilt als Gemeingut der Menschheit und verlangt 
als solches allen zugänglich zu sein, um je nach Bedarf in besonderen Formen 
eingesetzt und weiterentwickelt zu werden. Seine Inhaber können es weg- und 
weitergeben, teilen und tauschen, ohne es dadurch zu verlieren oder zu 
schmälern. Ganz im Gegenteil, je mehr Menschen am Austausch und am Weitergeben 
von Wissen teilnehmen, umso größer wird das Wissen, zu dem jede und jeder 
Zugang haben kann.

Gemäß diesen Prinzipien funktionieren auch die virtuellen Gemeinschaften, die 
im Internet sogenannte freie Software - Systeme mit offenem Quellcode - 
betreiben. Die Programmiersprache, in der die Software-Programme ursprünglich 
konzipiert wurden (hauptsächlich der Quellcode GNU), ist allen bekannt und die 
Software-Programme (von Linux) können folglich von den Teilnehmern geändert, 
verbessert und weiterentwickelt werden. Je zahlreicher die Teilnehmer, umso 
größer wird der Gebrauchswert des Systems für alle. Es entsteht eine 
"anarcho-kommunistische Ökonomie des Gebens", wie sie Richard Barbrooke nennt. 
Sie weist darauf hin, dass eine auf Schöpfung, Austausch und kooperativem 
Einsatz von Wissen gegründete "Wissensgesellschaft" sich von der Logik von 
Waren-, Geld- und Kapitalbeziehungen befreien müsste und in radikalem 
Gegensatz zur kapitalistischen Gesellschaft steht.

Aber gerade eine derartige Entwicklung der Wissensökonomie gilt es, in 
kapitalistischen Gesellschaften zu verhindern. Die kapitalistische Verwertung 
von Wissen verlangt, dass es als privates Firmeneigentum allgemein unzugänglich 
gemacht wird. Firmeneigene Software wird durch Patente geschützt, die 
Programmiersprache ist geheimgehalten, der Zugang zum gespeicherten Wissen ist 
zahlungspflichtig, und die Verwendungsmöglichkeiten der Software sind 
vorbestimmt und absichtlich eingeschränkt. Infolge der geheimgehaltenen 
Programmiersprache können die Benutzer des Internets die patentierte Software 
weder ergänzen noch eventuelle Irrtümer korrigieren. Sie sind völlig abhängige 
Konsumenten eines fremden, vorverdauten Wissens. Die Software-Firma bietet 
ihnen ständig Verbesserungen, Ergänzungen und zusätzliche Dienstleistungen 
zum Kauf an. Sie bezieht aus ihrem verschlüsselten Wissen eine Rente, baut sich 
womöglich (wie z.B. Microsoft) eine Monopolstellung auf, indem sie kleinere, 
komplementäre Dienstleistungen bietende Unternehmen sowie potentielle 
Konkurrenten aufkauft und existierenden Konkurrenten den Zugang zum Markt zu 
verbauen sucht. Letzteres tut sie einerseits, indem sie den Markt mit ihrem 
unüberbietbaren Marketing dominiert (Microsoft gibt 40 Prozent seines Umsatzes 
für Werbung aus und erzielt Gewinnmargen von mehr als 30 Prozent), und 
andererseits, indem sie ihre Software-Disketten den Benutzern schenkt. Ihr 
Geld verdient sie dann mit dem Verkauf von zusätzlichen Dienstleistungen und 
mit den Werbungsinseraten für alle möglichen Waren und Dienste, die sie in 
ihre Programme einschleust.

Die Vergeldlichung und Vermarktung von Wissen hat aber nicht nur kommerzielle 
Zwecke. Die kapitalistische Verwertung von Wissen setzt voraus, dass es, wie 
alle anderen Produktivkräfte und Arbeitsmittel, vom Kapital beherrscht wird und 
es ihm erlaubt, ein Kommando über die lebendige Arbeit weiter auszuüben. Wissen 
wird zu diesem Zweck zerstückelt, reduziert, individualisiert und in einer 
Weise vermittelt, die die Autonomiefähigkeit der Menschen beschränkt. Durch 
die Privatisierung des Bildungs- und Ausbildungswesens, die sich im Internet 
vollziehende Vermarktung und tendenzielle Monopolisierung von allen möglichen 
Lehrkursen sollen die menschlichen Subjekte in ihrer Lernfähigkeit, ihrem 
Denken, ihrer Imagination, ihren Wertvorstellungen und in ihrer kommunikativen 
Aktivität beherrscht und zu Kunden der privaten Bildungsindustrie gemacht 
werden. Die Menschen sollen ihr Wissen, ihre Kompetenzen als warenförmige 
Bildungsgüter wahrnehmen und folglich von den Lehrkräften, die sie für ihre 
(Aus-)Bildung bezahlen, möglichst nützliches und schnell verwertbares Wissen 
einfordern. Die Beziehung zwischen Kunde und Verkäufer soll auf diese Weise - 
wie dies bereits in Großbritannien geschieht - das Bildungswesen sowie auch 
die Politik beherrschen und bereits bei Heranwachsenden die Selbstverwertung 
und Selbstvermarktung zum entscheidenden Lebensziel machen.

Das geradezu totalitäre Vorhaben des Kapitals, sich der Menschen bis in ihre 
Denkfähigkeit hinen zu bemächtigen, und der Widerstand, den letztere gegen 
diese Instrumentalisierung ihrer selbst leisten, sind eine neue, zugleich 
diffuse und radikale Form des Klassenkampfs. Sie entwickelt sich dort, wo 
Wissen erzeugt, geteilt, gelehrt, bewertet, privatisiert oder vorenthalten 
wird. Dort, wo das Kapital es dadurch beherrscht, dass es mit Wissen den 
Menschen zugleich auch Unwissen und ein Bewusstsein von Unzulänglichkeit 
vermittelt: in den Betrieben, im Bildungs- und Ausbildungswesen.

Diese Front wird von Rifkin gar nicht erwähnt. Seine kritische Aufmerksamkeit 
gilt der viel breiteren Front der Alltagskultur. In Anlehnung an die Klassiker 
der Kritischen Theorie beschreibt er aber eingehend, wie der herrschende 
"Hyperkapitalismus" alle Dimensionen der menschlichen Existenz, alle 
Erfahrungen, Erlebnisse und Beziehungen in kaufbare Waren verwandelt, die man 
von Dienstleistern und der Unterhaltungsindustrie erhalten kann und die die 
Lebenswelt mit Verwertungszwängen überzieht. Die von Arbeit freigesetzte Zeit 
schafft nicht - entgegen der herkömmlichen Meinung - "Raum für die Entwicklung 
der Einzelnen daher auch der Gesellschaft", sie wird vielmehr vom Kapital 
kolonisiert und den Menschen von der Freizeitindustrie als Kulturware und 
Unterhaltung verkauft. Die Freizeit- und Kulturindustrie beschlagnahmt den 
öffentlichen Raum, verwandelt kulturelles Gemeingut in standardisierte, 
triviale Kulturwaren. Herbert Marcuse nannte dies "repressive Entsublimierung". 
Nicht-Arbeitszeit ist folglich nicht mehr Zeit für Muße, Besinnung, Genuss und 
freie Selbsttätigkeit. Sie steht selbst unter Zeit- und Verwertungsdruck, 
insofern es gilt, vom Geld, das man der Freizeitindustrie für sie gezahlt hat, 
so gut und schnell wie möglich zu profitieren. Noch nie, bemerkt Rifkin, war 
die unmittelbare Arbeitszeit so kurz und noch nie standen die Menschen 
dennoch unter so starkem und permanentem Zeitdruck.

Gerade weil die Nicht-Arbeitszeit einen wachsenden, bereits überwiegenden Teil 
der Lebenszeit umfasst, kann das Kapital seine Herrschaft nur dadurch 
aufrechterhalten, dass es den lnhalt der Nicht-Arbeitszeit bestimmt. Es muss 
die Menschen davon abhalten, sich in ihrer freigesetzten Zeit dem 
Verwertungszwang zu entziehen und Formen alternativer Gesellschaftlichkeit 
jenseits der Geld- und Warenbeziehungen zu entwickeln. Freizeit- und 
Unterhaltungsindustrie, Werbung und Marketing haben nicht eine bloße 
kommerzielle Funktion. Sie bestimmen Meinungen, Einstellungen, 
Verhaltensweisen, Selbstbilder, Lüste, Bedürfnisse, Geschmack; ihre Funktion 
ist ästhetisch-kulturell, sie erzeugen geradezu die Individualitäten, die 
den Verwertungszwang, den Konkurrenzkampf, die Neigung zum Konsum, zur 
Selbstvermarktung und zur modischen Selbstinszenierung verkörpern. Sie sind 
strategische Machtinstrumente.

Wie sehr den Geldmächten daran liegt, die Menschen bis in ihre geheimsten 
Phantasien in den Griff zu bekommen, geht daraus hervor, dass die Firmen der 
Unterhaltungsindustrie ein Kartell bilden, das sich, mit der Unterstützung des 
restlichen Big Business, alle Frequenzen des elektromagnetischen Spektrums 
aufteilt, sie aufkauft und die ganze Menschheit zum exklusiven Konsum 
US-amerikanischer Fernsehprogramme und Filme zu zwingen sucht. "Es geht hier", 
wie Rifkin den Medienhistoriker Ben Bagdikan zitiert "um den Besitz der Macht, 
nahezu jeden Mann, jede Frau und jedes Kind...mit kontrollierten Bildern und 
Worten zu umzingeln, jede neue Generation von Amerikanern zu sozialisieren, die 
politische Tagesordnung des Landes zu verändern. Und mit dieser Macht geht die 
Fähigkeit einher, einen Einfluss auszuüben, der größer ist als der von Schulen, 
Religionen, Eltern und sogar des Staates."

Rifkin befasst sich kaum mit dem Widerstand, den diese totalitäre Kontrolle 
hervorruft: mit den zahlreichen sozialen und kulturellen Bewegungen, der Suche 
nach alternativen Lebensstilen, dem Kampf um Selbstbestimmung in und außerhalb 
der Arbeit, den neuen Alltagssolidaritäten und "Welt-Bürgerbewegungen", die 
früher oder später in politische Machtkämpfe und Bündnisse münden müssten, in 
Aktionen, die die herrschende Gesellschaft auf allen Gebieten infrage stellen.

Rifkin findet schließlich den Ansatz für eine Radikalisierung seiner Kritik bei 
dem kanadischen Gesellschaftstheoretiker Crawford MacPherson. Dieser weist 
darauf hin, dass beim gegenwärtigen Stand der Produktivkräfte das wichtigste 
Recht nicht mehr das Recht auf Privateigentum ist, sondern das Recht eines 
jeden, nicht vom Genuss von Ressourcen ausgeschlossen zu sein, die die ganze 
Gesellschaft zusammengetragen hat. Diese Ressourcen sind ein Gemeingut, zu dem 
alle das Zugangsrecht haben. Sie umfassen Wissen, Bildung, Umwelt, Saat- und 
Erbgut, an denen kein privates Eigentum zulässig ist. Der Staat, fügt Rifkin 
hinzu, hat die Aufgabe, jedem den Zugang zu den territorialen und virtuellen 
Netzwerken zu garantieren, in welchen die Menschen sich verständigen und ihren 
wirtschaftlichen und kulturellen Austausch betreiben.

Rifkin fragt sich allerdings, ob in einer global vernetzten Wirtschaft die 
Staaten dazu noch die Macht haben. Er lässt die Frage offen. Wo es um Macht 
geht, kann nur politisches Handeln weiterhelfen. Dessen Subjekte sind die 
Staaten schon längst nicht mehr. Um sich den "Gesetzen" des Marktes, der WTO 
und des globalisierten Finanzkapitals zu widersetzen, müssen sie sich in 
transnationale Akteure verwandeln. Allein neue internationale Institutionen 
können sowohl nationales als auch globales Gemeingut geltend machen und es der 
Logik von Waren- und Geldbeziehungen entziehen. Diesen Wandel zu erzwingen, 
ist das Vorhaben global vernetzter sozialer Bewegungen.

Ungekürzte Fassung in: Widerspruch 40, Zürich 2001. Wir danken für die 
Nachdruckgenehmigung

André Gorz ist französischer Sozialtheoretiker, Philosoph und Autor vieler 
kritischer Überlegungen zum Ende der Arbeitsgesellschaft. Zuletzt erschien 
Arbeit zwischen Misere und Utopie (1997).
   






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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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