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[ox] Noch ein Artikel zur Konferenz



Hi Liste!

Zusammen mit seinem Konferenzbeitrag hat mir Helmut Dunkhase auch
einen Artikel geschickt, der in "Anstoß", Zeitung der DKP Berlin,
erschienen ist. Poste ich einfach mal hierher.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

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Freie Software - Modell für gesellschaftliche Veränderung?

1. Oekonux-Konferenz 28.-30. April 2001 Dortmund

Oekonux - das ist die Zusammenziehung der Wörter `Ökonomie' und
`Linux'. Linux ist ein Betriebssystem, das Anfang der 90er Jahre unter
bemerkenswerten Umständen entstanden ist: in sich selbst
organisierender kollektiver Entwicklungsarbeit rund um den Globus
verorteter Menschen, das Internet als verbindendes Medium nutzend. Es
wurde der Beweis erbracht, dass ein hochkomplexes Produkt, von dem man
bisher annahm, dass es zu seiner Erzeugung eines zentralistisch
ausgerichteten Plans (wie beim Bau einer Kathedrale) bedarf, in
interaktiver Projektarbeit, ohne einen obersten Kontrolleur, erstellt
werden kann. (E.S. Raymond fand in seinem klassisch gewordenen Essay
dafür die Metapher von Kathedrale und Basar.) Der Erfolg von Linux war
ein wichtiger Impuls für die Free-Software-Bewegung, die auf das Jahr
1984 zurückgeht. Bis dahin hatte Software keine eigenständige
Bedeutung und gehörte zum allgemein zugänglichen Wissen wie andere
wissenschaftliche Erkenntnisse. Als nun erstmals ein Betriebssystem,
UNIX, nicht mehr frei zugänglich, weil kommerziell betrieben, war,
rief R. Stallman vom MIT (Massachusetts Institute of Technology) das
GNU ins Leben. Hinter `GNU' verbirgt sich sich die (unvollständige)
Rekursion `GNU is not UNIX'. Seine Geschäftsgrundlage ist die GPL
(General Public Licence), auch, in bewusster Ausnutzung des
Doppelsinns, `Copyleft' (statt `Copyright') genannt. Sie gewährleistet
das Recht auf freie Benutzung, Modifikation und Distribution unter der
Bedingung, dass der Quelltext jederzeit frei verfügbar und die
GPL-Lizenz nicht geändert, d.h. insbesondere nicht in kommerziell
verwertbare Software überführt werden kann.

Damit ist schon der Hintergrund erhellt für die wichtigsten
Stichwörter, um die es bei der Konferenz ging: Selbstorganisation
(auch der Konferenz selbst!), `Wem gehört das Wissen und wie ist es zu
organisieren?', `Wie kommt man von der freien Software zur freien, und
das heißt im wesentlichen von Verwertungszwängen freien, Gesellschaft
(ob GPL-Gesellschaft oder Kommunismus genannt, ist dabei
zweitrangig)?'

Wer waren diese rund 180 Leute, von denen viele, mitten im Rausch um
die `Neue Ökonomie' und in einer Zeit, in der alle mit Börsenspielen
beschäftigt zu sein scheinen, gerade in den ihr zugrunde liegenden
neuen Informations- und Kommunikationstechnologien einen Grund sehen
sich vom Kapitalismus zu verabschieden? Computerbegeisterte, die
meisten auch beruflich mit Informatik befasst; Mitglieder des MEK
(Mobiles Einsatzkommando Software), die als Arbeitsgemeinschaft in der
ver.di Dortmund organisiert sind (und neben der
Rosa-Luxemburg-Stiftung zu den Sponsoren der Konferenz gehörten);
Mathematiker; einige Sozialwissenschaftler; wenig Ökonomen, aber
etliche mit politkonomischer Bildung nahmen den dreitägigen
Veranstaltungsmarathon auf.

In den Veranstaltungen, die sich mit den allgemeinen politischen
Implikationen der informationellen Revolution beschäftigten, wurden v.
a. drei Aspekte behandelt.

Ausgehend von der Marxschen Analyse der großen Industrie wurden sowohl
die durch den Computer hervorgerufenen Veränderungen im Arbeitsmittel
(nach Marx ging die Umwälzung in den Produktionsverhältnissen vom
Arbeitsmittel aus) als auch die Rückwirkungen auf den Menschen als
Hauptproduktivkraft diskutiert. Es spricht für Marx? Scharfsinn,
dass er im Arbeitsmittel Maschinerie die eigenständige Bedeutung des
Transmissionsmechanismus (MEW 23, S.393, aus heutiger Sicht treffender
als algorithmische Maschine1) erkannte zu einer Zeit, als dieser
augenscheinlich noch Bestandteil der Werkzeugmaschine war. Von hier
gingen die entscheidenden Veränderungen im Produktivkraftsystem aus,
die nach Produktionsverhältnissen verlangen (Stichworte: flexible
Fertigung, Teamarbeit, neue Selbstständigkeit), die unter
kapitalistischen Verhältnissen zur Ausbeutung der letzten Ressource,
des Menschen selber, seiner Selbstentfaltungsmöglichkeit, führt. Neue
Krisenpotentiale, die sich der Kapitalismus damit einfängt wurden
diskutiert anhand des Wissens (als Produktivkraft), dessen global
vernetzte unbeschränkte Akkumulationsmöglichkeiten im Widerspruch zur
proprietären, exklusiven Nutzung des Wissens in der
Wertvergesellschaftung steht und anhand von Verwertungsproblemen
digitaler Waren. Interessant fand ich den wohl von dem philippinischen
Autor Verzola in die politische Ökonomie des Informationskapitalismus
eingeführten Begriff der Informationsrente. Darunter wird in Analogie
zu der von Marx analysierten Grundrente die Ausnutzung einer
besonderen Situation zur Realisierung eines besonderen Profits
verstanden. So, wenn Microsoft durch seine Monopolstellung aus seiner
Infrastruktur (Programme, die unter Windows laufen) Extraprofite,
nicht durch Wertschöpfung, sondern durch Wertabschöpfung anderswo
erarbeiteten Mehrwerts, macht.

Die Frage `Wie heraus aus der Verwertungsgesellschaft?' wurde nach
zwei Tendenzen hin beantwortet. Zum einen die mehr oder weniger
deutliche (teilweise auch von der Krisis-Gruppe beeinflusste)
Vorstellung, sich durch freiwillige, unbezahlte Arbeit neben der
Erwerbstätigkeit oder im Nischendasein Bereiche außerhalb des
Verwertungszusammenhangs zu schaffen und auf dem Wege der Ausweitung
und Subversion (z.B. durch die massenhafte Verbreitung von
GP-Lizenzen) den Kapitalismus zu unterlaufen bzw. überflüssig zu
machen. Kritisch wurde dazu bemerkt, dass Freie Software keineswegs
unabhängig vom Verwertungszusammenhang sei, weil sie in der Freizeit
von Lohnarbeit stattfindet und ja die in den Verwertungszyklus
integrierte Hardware zur Voraussetzung hat. Bedenkenswert waren auch
die Einwände, dass Software engineering heute auf dem Stand des
Handwerks und deswegen noch vom eigenen häuslichen Schreibtisch aus
betrieben werden kann und man bei Übergang zur industriellen
Arbeitsweise doch wieder teure Entwicklungskits benötige oder dass
Linux zur Disziplinierung des Marktführers Microsoft benötigt werde2
und somit durchaus im strategischen Interesse der Computerindustrie
liegen könnte.

Zum andern wurden zwar durchaus die neuen Möglichkeiten gesehen, die
Computer und Internet bieten um eine, sagen wir, kommunistische
Produktionsweise in den Griff zu bekommen, aber gerade auch vor dem
Hintergrund der ungeklärten Frage des Übergangs von der Software- zur
verwertungsfreien stofflichen Produktion (Rohstoffverbrauch und
stofflicher Output steigen weiterhin gigantisch an) auf so altmodische
Dinge wie Gewerkschaften und Klassenkampf verwiesen.

Mit dem Wissen wurde sich nicht nur unter dem Aspekt des Erhalts der
`Wissensallmende'3 als allgemein zugänglichem Gemeingut beschäftigt
(wobei die Ankündigung des MIT in den nächsten zehn Jahren sämtliche
Lehrinhalte im Internet anzubieten (s. Kasten) große Beachtung fand),
sondern auch mit neuen Anordnungen des Wissens, die durch seine
digitale Akkumulation im Internet möglich und notwendig werden.
Während es schon möglich ist von Yokohama aus durch ein
Elektronenmikroskop in San Diego zu gucken, fehlen etwa im Bereich des
kulturellen Wissens weitgehend Zugriffe auf Synchrondarstellungen, wie
z. B. der Vergleich der Baustile Anfang des 15. Jahrhunderts in den
Kulturen der Welt oder auf dynamisierte Darstellungen wie z.B. die
Entwicklung eines Motivs bei Monet. Fragestellungen wie z.B. die nach
den Grenzen Polens machen nicht nur wegen ihres zeitlichen
(historischen) Aspekts, sondern auch wegen der unterschiedlichen
Sichten von den Nachbarländern aus einsichtig,, dass intelligente
Wissenssysteme nur dezentralisierte sein können. In diesem
Zusammenhang wurde auch das konkrete Projekt einer Freien Enzyklopädie
vorgestellt. Diese Bestrebungen stehen der in den USA herrschenden
Tendenz entgegen die Semantik auf einzelne Wörter zu reduzieren und
lediglich den funktionalen Blick auf die Welt (Hier liegt das Öl, da
das Erz) zu werfen. Dann hat die Menschheit tatsächlich keine
Geschichte mehr.

Es versteht sich von selbst, dass ich an einem Teil der
Veranstaltungen teilnehmen konnte. Gerne hätte ich z.B. auch über
`OSCar: ein Auto bauen im Internet' oder über die
`Verschlüsselungsparty' berichtet. Da alle Veranstaltungen
einschließlich Diskussionen aufgezeichnet wurden und die Referenten
angehalten wurden ihre Beiträge schriftlich zu formulieren, kann jeder
Interessierte demnächst alles nachlesen: www.oekonux-konferenz.de

Wie weiter mit Oekonux? Diese Frage im abschließenden
Round-Table-Gespräch konnte nur noch angerissen werden. Sie aufzulösen
in die Alternative `Diskussionsforum oder Bewegung' enthält unter
strikter Einhaltung der Prinzipien der Selbstorganisation, wie sie von
einigen Teilnehmern vertreten wurden, im Grunde schon einen
Selbstwiderspruch. Eine Schar sich selbst organisierender Individuen
entwickelt sich so, wie sie sich eben entwickelt. Das Handeln nach
z.B. einer Mehrheitsentscheidung wäre für die Minderheit eine Fremd-
und keine Selbstorganisiertheit mehr und müsste die Konsequenz einer
Neugruppierung haben. Aber auch hier zeigt sich, dass nichts so heiß
gegessen wie gekocht wird: Was wäre die Konferenz, die in der Tat die
Möglichkeiten der Organisation seiner selbst demonstrierte4, ohne die
beiden unermüdlichen Protagonisten Stefan Meretz und Stefan Merten?
Ich habe mir jedenfalls diese `Fremdorganisiertheit' gerne gefallen
lassen und danke ihnen dafür.

Helmut Dunkhase

1 Ein Algorithmus ist eine Verarbeitungsvorschrift für einen Prozess,
die so präzise formuliert ist, dass sie ohne weiteres Zutun zum Ziel
führt. Die Abfolge eines Fertigungsprozesses kann heute auf
Algorithmen abgebildet werden, die der Computer verarbeiten kann.

2 Bei allzu großer Übermacht eines Monopols ist ein Offenhalten von
Optionen in der Kooperation nicht mehr gewährleistet.

3 Modewort. Allmende: Ländereien, die den Mitgliedern einer Gemeinde
zur gemeinsamen Nutzung zustehen.

4 Das Medium dafür war eine Mailingliste, in der die Referenten ihre
inhaltlichen Vorstellungen einbrachten, auf Grund sich ergebender
inhaltlicher Bezüge Workshopgruppen bildeten, Termine absprachen,
usw..


________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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