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Re: [ox] Wiedermal: Wert und Ehre



Hi Stefan und Hans-Gert,

ihr macht euch Sorgen, die wir wahrscheinlich alle gerne hätten: Wie
findet Ressourcenregulation statt, wenn uns das keiner mehr abnimmt
(wie jetzt über abstrakte, äußerliche Mechanismen wie Geld etc.).
Aber spannend, weil daran einiges auch für heute deutlich werden
kann.

Hans-Gert Graebe schrieb:
das mit Kalle Dallheimer habe ich in der Tat falsch verstanden. Aber
so herum ist es vielleicht sogar noch interessanter für unseren
Meta-Diskurs. Schließlich ist die Frage, ihn einzuladen oder auch
nicht (jenseits der Frage, ob er dann auch wirklich kommt) ein für uns
zunächst interner Zielkonflikt zwischen den Fragen 'was ist uns seine
Teilnahme _wert_?' und 'können/wollen wir uns das leisten?'. Letzteres
ist, in erster Näherung, eine monetäre Restriktion (das Geld, das für
ihn ausgegeben würde, steht nicht für andere Zwecke zur Verfügung),
aber wohl nicht nur. Die Frage ist ja auch, ob was Gleich_wert_iges zu
geringerem 'Preis', also vielleicht jemensch aus der dt. OpenSource-
Szene, zu 'haben' wäre. Klassische Aufwand/Nutzen-Abwägung, die sich,
um nicht jedes Mal gleich wieder alles vom Urschleim beginnend zu
diskutieren, in einem gewissen Koordinatensystem und meist auch in
gewissen operationalisierten Formen abspielt. Dieses Koordinatensystem
habe ich, mit Verlaub und m.E. in Übereinstimmung mit den
einschlägigen Begriffsbildungen der Ethik als 'Werte' bezeichnet.

Der Punkt ist nur: das operationalisierte Koordinatensystem heute
ist ein externes und abstraktes. Wir haben auf der Org-Liste von
Oekonux erst hin und her gerechnet, ob die Knete reicht. Wir haben
überlegt, wer noch in Frage kommt. Das waren entsubjektivierte,
abstrakte, äußerliche Kriterien, die wir zu verhandeln hatten. Denn
eigentlich ging es uns um die Person, um den Menschen Kalle
Dalheimer, der nach Einschätzung von einigen substanziell Schlaues
aus der Entwicklersicht hätte beitragen können.

Rekurs auf Ethik hat hier also _überhaupt nichts_ mit Beliebigkeit zu
tun. Im Gegenteil, mein Punkt ist, dass bei einer - auch von mir als
wünschenswert betrachteten - Auflösung der absolut einseitigen Sicht
auf die Dinge durch die Tausch/Gebrauchswert-Brille von Onkel Dagobert
das dahinter stehende soziale Verhältnis - eben die Gegenüberstellung
von Aufwand und Nutzen - entmystifiziert wird, aber damit nicht
verschwindet. Wir können uns m.E. auch in einer Welt ohne Geld nicht
'alles leisten'.

Nein, aber wir würden es mit Sicherheit anders diskutieren. Wir
würden Reiseweg und Belastung für Kalle, Transportmöglichkeiten,
vielleicht auch Umweltbelastungen, Lern-Interesse von Kalle, was
weiss ich etc. überlegen. Das würde, wie Du sagst, bestimmt nicht
"im Urschleim" beginnen, sondern hätte auch seine
"verselbständigten" Formen - etwa (und da kann ich jetzt nur
spinnen), die Verständigung darüber, Flugreisen zu begrenzen, weil
die umweltfreundlicheren Transportmittel noch nicht fertig sind. Das
können also überindividuelle Verabredungen sein, in deren Licht wir
auch "Aufwand und Nutzen" abwägen würden. Doch jede Entscheidung
wäre nicht äußerlich-abstrakt diktiert (Geldmenge), sondern jeweils
konkret angesichts der Bedingungen erwogen.

Für mich heisst das: Die "Entlastungsfunktion", die Geld faktisch
hat (sofern man es hat), darf nicht als Funktion suspendiert werden,
sondern muss durch einen anderen, konkret-personal vermittelten
kommunikativen Zusammenhang übernommen werden. Und da sehe ich
eigentlich keine großen Probleme, wenn ich mir vor Augen halte, dass
genau das im Kleinen in der Freien Software ja ziemlich gut
funktioniert.

Und werden immer fragen müssen: 'Können/wollen wir
uns das leisten' und in Zukunft vielleicht auch eher, mit Blick auf
Kalle Dallheimer und andere Optionen und die Prinzipien freier
Kooperation: 'Können/wollen wir ihm das zumuten' (lange Reise etc.).

Ja, genau. Wobei "leisten" nicht monetär definiert ist, sondern
unsere, also "je meine" Lebensbedingungen betrifft.

Da sind wir übrigens schon bei C. Spehrs 'fairen Preisen', zu welchen
freie Kooperationsbeziehungen eingegangen werden, jenseits evtl.
monetärer Formen. Ich glaube, auch heute schon. Gerade auch von Leuten
im Umfeld dieser Liste.

Ja, das sehe ich auch so. Wobei "fairer Preis" ein denkbar
unglücklicher Begriff ist, denn er ist eigentlich nicht-monetär
gemeint.

Also, wenn ich Stefan Mn. richtig verstanden habe, plädierte er
dafür, die beiden "Logiken", die ich hier "abstrakt-äußerlich"
(ökonomischer Wert, Geld) und "konkret-personal" (unsere (je meine)
Lebensbedingungen, sprich Ressourcen) genannt habe, auch begrifflich
auseinanderzuhalten. Also nicht nivellierend einfach von "Wert"
schlechthin zu reden. Es handelt sich geradezu um "feindliche"
Logiken.

Genau die Frage nach dieser 'Preisbildung' ist in Spehrs Texten
übrigens unterbelichtet, wie am Samstag bei der Diskussion mit ihm
hier in Leipzig noch einmal deutlich wurde.

Wen's interessiert: Ein kleiner Bericht vom Disput mit ihm liegt unter
http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe/projekte/moderne/Seminar/24-3-bericht.html
im Netz.

Danke, las sich interessant. In der Diskussion, schreibst Du, gab es
die "Richter-Kritik" (vgl.
http://home.t-online.de/home/bertram.koehler/bemerkun.htm), wonach
"die menschliche Gemeinschaft in ihrer Komplexität aus einer
Vielzahl einzelner Kooperationen besteht, welche zudem noch vielmals
ineinander verschachtelt und voneinander abhängig sind. [...] Diese
Wechselwirkungen zwischen Kooperationen schlagen auf das Individuum
unbarmherzig als Zwänge oder Interventionen durch."

Darin steckt IMO eine berechtigte Kritik und eine merkwürdige
Auffassung von Gesellschaft (bezeichnenderweise ist nur von
"Gemeinschaft" die Rede), die Kritiker und Kritisierter teilen.
Berechtigt ist die Kritik, dass Spehr keinen Begriff der
gesellschaftlichen Kooperation hat. Bei ihm geht's nur um
unmittelbare Kooperationen, und irgendwie soll das große Ganze dann
auch so funktionieren - sozusagen als Summe der unmittelbaren
Kooperationen. Diese Fehldeutung greift Richter auf und hält Spehr
vor, dass gerade das so "komplex" sei, und deswegen wie ein Zwang
für das Individuum wirke.

Das halte ich für eine Naturalisierung der heutigen Verhältnisse
unter genau den Bedingungen der abstrakten Vermittlung (die wirklich
"komplex" ist) durch den Wert. Ein fehlender Wertbegriff macht hier
blind: Der Zwang wird der "Verschachtelheit", der
"Wechselseitigkeit" und also "Komplexität" - kurz der Struktur -
zugeschrieben. Das halte ich für klassisch, aber falsch.

Das Problem ist weder "Komplexität" (das ist für mich eher ein
Synonym für Reichtum und Vielfalt!), noch "Verschachtelheit" (das
muss sein, ich will mich nicht um jeden Scheiss kümmern müssen),
noch "Wechselseitigkeit" (was denn sonst) - also nicht "Struktur" an
sich, denn die wird es _immer_ in menschlicher Gesellschaft geben -,
sondern die Art der "Strukturmechanismen", die Art der Vermittlung
von Individuum und Gesellschaft. Und das sage ich locker vom Hocker:
Die Struktur, in der sich nur der durchsetzt, der sich auf Kosten
anderer durchsetzt (Charakteristikum der marktförmigen Vermittlung
über den Wert), muss aufgehoben werden durch eine Struktur, in der
sich nur der durchsetzt, dessen Durchsetzung im Interesse aller
liegt, wo also die Entfaltung des Einzelnen die Voraussetzung für
die Entfaltung aller ist. Wie ansatzweise in der Freien Software.
Ansatzweise und widersprüchlich, klar.

Ciao,
Stefan

-- 
  Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen
  HA II, Abteilung Datenverarbeitung
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