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Re(2): [ox] Joghurtbecher und Fernoperationen



liste oekonux.de (smerten oekonux.de )schreibt:

Wie wäre es, wenn du nicht so oft Worte benutzt, die andere garantiert
nicht verstehen? Mit schillernden Konstruktionen wie "globales Dorf" -
d.h. wir setzen mal schnell einen maximalen Widerspruch zusammen - ist
m.E. nichts gewonnen außer Verwirrung.

Das "globale Dorf" ist m.E. alles andere als ein maximaler Widerspruch,
es ist lediglich die Kombination von netzvermittelter Kooperation
mit lokaler materieller Produktion.  

In diesem Sinn ist es aber eine noch hervorzubringende Siedlungs-
und Lebensweise. Ich habe das Gefühl in Ansätzen in manchen 
Teilen von San Francisco kennengelernt, in z.B. Castro oder Noe Valley,
wo einerseits eine wirklich rege lokale Nachbarschaftsbeziehung
bestand, gleichzeitig diese Kultur durch Teleworking und Internet
noch angeregt wurde und viele Leute vor Ort waren, die auf 
sehr viele intellektuelle Ressourcen zurückgreifen konnten.
War freilich auch subkulturell bedingt, es sind halt viele Leute
mit denselben Wertvorstellungen zusammengekommen. Das ist
aber auch ein wichtiges Element des globalen Dorfes, daß die
Wertvorstellungen sozusagen das Lebensthema wirklich zu fundieren
vermögen, weil wir bewußt dorthin gehen, wo sich das Lokale in 
unserem Sinn gestalten läßt. Also die virtuellen Communities
wollen reales Leben werden.

Da behaupte ich einfach einen paradoxen Zusammenhang: je mehr
es uns gelingt, in diesen Feedbackzyklus von Wissensaustausch
und Interesse am Lokalen reinzugeraten, umso mehr steigen 
Lebensqualität und Handlungsfähigkeit. Das ist der Zusammenhang 
mit Oekonux: eine wirkliche Motivation gemeinsamer geistiger
Entwicklungsarbeit durch die gemeinsame Problematik, aber
auch die Freistellung von Entwicklungspotential durch materielle
Absicherung.

Das teile ich nicht. Gerade die räumliche Frage ist heute nahezu
irrelevant - die Reise des Joghurtbechers als Beispiel. Und wenn du
die Fernoperationen nimmst, die von Ärzten übers Internet mit Hilfe
von Operationsrobotern vorgenommen werden, dann frage ich mich sehr
ernsthaft, wie du die räumliche Frage im Sinne von "Wir müssen
zusammenrücken" auch nur irgendwo wachsen siehst.

Das scheint mir keine harte Nuß. Der berühmte Joghurtbecher ist
ja nicht nur deswegen ein Musterbeispiel kapitalistischer Absurdität,
weil er unnötigerweise den Wertschwankungen in der Produktion nachreist -
er gibt auch von einer enormen Fehlallokation von Ressourcen ins
Verkehrssystem kund, die woanders fehlen. Die räumliche Frage
ist irrelevant gemacht, aber um welchen Preis! Man könnte es auch
so ausdrücken: die faux frais der kapitalistischen Akkumulation sind ins 
Gigantische gestiegen, und den größten Teil frißt die Verkehrs-
infrastruktur. Dau gehören nicht nur Straßen, sondern auch 
 Parkplätze, Tiefgaragen, Transitzeiten, Autounfaelle usw. -
lauter Dinge, die im Bruttosozialprodukt als Reichtum aufscheinen.

Von der Absurdität materieller Transporte und dem dafür notwendigen
Aufwand scharf zu unterscheiden ist m.E. die Möglichkeit, Daten
statt Menschen pendeln zu lassen.

Ich habe das mit den Fernoperationen mal so ausgedrückt: aha,
jetzt kann also die spezialisierte Krankenhausmedizin in jedes
Dorf. Das ist natürlich übertrieben, will aber sagen: die Mobilität
der telematischen Dienstleistungen erlaubt es uns, von einem
Ort aus wesentlich mehr in Anspruch nehmen zu können als
je zuvor in der Geschichte. Also wieder die Paradoxie, daß die
Gestaltungsmöglichkeiten für diesen einen Ort, an dem wir unsere
Lebensbeziehungen bewußt zentralisieren, gerade durch die
telematischen Dienste steigen.

Du fragst natürlich zurecht: warum sollten wir das tun? 
Ich will nicht mißverstanden werden als Apologet der 
erzwungenen Immobilität.  Aber folgender Aussage kann
ich mich anschließen und könnte noch viel dazusagen
über den Zusammenhang von Raum und Körperlichkeit.

"Der Mensch ist nicht mobil. Das Wort bedeutet 
 nämlich: nicht an einen festen Standort
  gebunden. Der Mensch ist seßhaft.
  Schon seit der Jungsteinzeit, in der
  der Ackerbau  erfunden wurde.
  Er muß sich verorten können. 
  Darum mußte früher ?mobil gemacht"
  werden. Heute wird Mobilität zum Alltag. Wird zum
   Lebensschicksal der auf den  Arbeitsmarkt strömenden 
 Jugendlichen, die wie Joghurtbecher durch das ganze Land
 geschleust werden, gesteuert von anonymen Gesetzen
  des Marktes, von Produktion und Konsum.
  
 Die Folgen sind: Zerrüttung sozialer Bindungen
  wie Familie, Nachbarschaft, Freundes-
  und Kollegenkreis. Und der Zwang, eigene soziale 
 Netzwerke aufzubauen. Für manche mag das Befreiung
  und Chance sein. Anderen droht die soziale Isolation.
  Atavistische Bedürfnisse nach Gemeinschaft
  ersetzt heute die Szene, die ? multimedial vermittelt ?
 überall die gleichen Lebensstile pflegt, Getränke, Mode, 
 Musik. Raves gibt es von Berlin bis Wladiwostok, Coca Cola 
 und McDonald?s sind längst im letzten mexikanischen Dorf
 angekommen. So tasten sich die Kids in der weiten Welt
  von Vertrautem zu Vertrautem;
  Ältere fahren Wohnmobil und nehmen so das Gewohnte 
 mit in die Fremde. Doch die Entwurzelung ist nicht zu übertünchen. 
 Die Welt ist keine Heimat, sie riecht nicht vertraut.  

 Andere versuchen, die Probleme der Mobilität
 technisch in den Griff zu bekommen: per
Handy und Internet. Jederzeit erreichbar,
 ist das nicht fast wie gar nicht weg? Doch
Handy-Beziehungen sind Schimären, haben keinen Ort. 
Am Telefon verbringt man keine
Zeit miteinander, die Körperlichkeit geht verloren. "

aus:
http://www.berliner-journalisten-schule.de/depesche/aufmach.htm

PS:
Und daß Du mir nicht einwendest, ich wollte jetzt auch den
Urlaub am Meer madig machen! Ganz im Geigentiel!!
Zu den Bananen hat Petra das Nötige gesagt, zum 
Tourismus wäre eine Menge zu verlauten. Zum Verkehr
komm ich gleich nochmal.


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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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