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[ox] Re: Artikel "Im Unruhestand" von Gundolf Freyermuth



Liebe Oekonuxler!

BTW: Die c't-Redaktion meinte übrigens, sich von dem Artikel mit "Der
Beitrag gibt die Meinung des Verfassers, nicht der Redaktion wieder."
Wollen sich wohl nicht als revolutionäres Kampfblatt outen ;-) .

1 minutes ago Stefan Merten wrote:
Kommentare kommen gesondert.

Wie angedroht ;-) .

Zitiert aus "Im Unruhestand" von Gundolf Freyermuth

Zunächst warum ich den Artikel besonders spannend fand: Was Gundolf
hier leistet, ist m.E. den Ansatz zu einer Beschreibung der *sozialen*
Veränderungen, die - verkürzt gesprochen - das Internet mit sich
bringen. Für unser Thema ist das zwar sicher allgemein interessant,
aber er bezieht sich hier sehr konkret auf Arbeit - um die es ja bei
uns auch zentral geht.

Was mir vor allem am (hier weggelassenen) Fortgang des Artikels
überhaupt nicht gefallen hat, ist, wie er versucht, die tollen
Erkenntnisse, die er hat, in ein neoliberales Konzept einzubetten.
Deswegen bin ich vorsichtig gegenüber seiner Position als Ganzes.
Eigentlich schade, daß er das Potential seiner Gedanken nicht erkennt
und affirmativ Zitate bringt wie

James
Russell Wiggins, seit 1922 im Berufsleben und heute mit 95 Jahren
Redakteur einer Wochenzeitung in Maine, beklagt die Massenverrentung
als Verschwendung von Talent und Ressourcen: »Wie kann eine
Gesellschaft solchen Müßiggang unterstützen?«

das leider voll einem Industrie-Arbeitsethos folgt.

Insbesondere bin ich nicht sicher, ob er mit seinem neoliberalen
Hintergrund in Aussagen wie

Noch
jeder zweite 60- bis 65jährige Amerikaner steht im Berufsleben, ebenso
jeder Dritte 65- bis 70jährige, jeder sechste der 70- bis 79jährigen.
Und das nicht primär aus sozialer Not: Der Anteil an gutausgebildeten
und vergleichsweise wohlhabenden Personen unter den älteren
Arbeitnehmern ist überdurchschnittlich hoch.

nicht reale finanzielle Not verharmlost. Kann ich nicht beurteilen.

In der Tat glaube ich aber, daß hier tatsächlich gleichzeitig beide
Seiten des Niedergangs der Lohnarbeit gleichzeitig sichtbar werden:

* Die negative Seite mit prekarisierter Lohnarbeit zur bloßen
  Existenzsicherung

* Die positive Seite, in der produktive Tätigkeit eben wieder wegen
  ihrer Inhalte als sinnvoll aufgefaßt werden kann und nicht der
  Lohnpeitsche bedarf.

  Noch dazu Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt als Lohnarbeit
  ausgeführt werden kann!

  Dieser Punkt ist es, wo ich den starken Bezug zu unserem Thema sehe.

Wegen der Belege, die er für diesen zweiten Punkt findet, das
längliche Zitat aus dem Artikel. Ich will noch ein paar Zitate
rausgreifen, die mir besonders interessant scheinen:

Helen Dennis, Altersforscherin an der University of California,
interpretiert diese wachsende Minderheit von radikalen
Ruhestandsgegnern und Pensionierungsverweigerern als soziale
Avantgarde: »Was wir heute als außergewöhnlich ansehen, wird immer
normaler werden.«

Jüngste Umfragen ergaben, daß
die heute 35- bis 54jährigen Amerikaner -- die Angehörigen der
geburtenstarken Jahrgänge -- mehr noch als die aktuellen Alten
entschlossen sind, sich nicht in die Untätigkeit abschieben zu lassen.
Zwischen 66 und 80 Prozent der jeweils Befragten gaben an, sie wollten
über das 65. Lebensjahr hinaus ihren Beruf ausüben. Diese Aussagen
zeugen von einer dramatischen Veränderung in der Einstellung zur
Arbeit, die sich binnen nur eines einzigen Jahrzehnts vollzogen hat -
Ende der achtziger Jahre ersehnte praktisch noch jeder Befragte, mit
55 »aufzuhören«.

Das könnte ein Indiz dafür sein, daß es sich tatsächlich mehr um eine
begrüßte Entwicklung und nicht ein Abwenden von materieller Not
handelt.

Eine Flut von verwunderten Artikeln, wissenschaftlichen Untersuchungen
und programmatischen Büchern analysiert inzwischen diesen Willen, bis
ins hohe Alter aktiv am Erwerbsleben teilzunehmen. Unübersehbar ist
dabei der zeitliche Zusammenhang des Wandels mit der dritten
industriellen Revolution, die in den USA so weit fortgeschritten ist
wie nirgendwo sonst. Er legt es nahe, in der Digitalisierung einen,
wenn nicht den Auslöser der plötzlichen Abkehr von den sozialen
Verhaltensweisen zu sehen, die sich -- im Gegensatz zu früheren
Phasen der Menschheitsgeschichte -- während der vergangenen rund 200
Jahre herausbildeten. Es dürfte die erneute Veränderung der Arbeit
selbst sein, das heraufziehende Ende ihrer industriellen
Organisationsform und fremdbestimmten Gewalt, die auch die Einstellung
zu ihr verändert.

Das wäre genau meine These!

Im Falle der industriellen Revolution prägte der Sozialtypus des
Lohnarbeiters die Epoche - ein als Einzelperson unbedeutendes,
fremdbestimmtes Glied im mechanischen Produktionsprozeß, dem das
Ergebnis seiner Arbeit und damit diese selbst fremd bleiben mußte.
Lange bevor Arbeiter zahlenmäßig die Mehrheit gewannen, schreibt
Drucker, wurden sie zur ideologisch zentralen Klasse. Denn ihr
Schicksal verkörperte gewissermaßen, was die Industrialisierung der
gesamten Menschheit antat.

Mir kommt da die Assoziation des inflationären Auftauchens von
Web-Adressen in ordinärer Werbung - obwohl in Deutschland nach wie vor
nicht so rasend viele Menschen Internet-Zugang haben.

Mit der Digitalisierung verliert die Industriearbeiterschaft nun diese
domininierende Rolle; im statistischen wie ideologischen Sinne. Ins
imaginäre Zentrum unserer Zeit rückt eine neue Schicht von Arbeitern.
Drucker nennt sie knowledge worker, Wissensarbeiter. Ihre Tätigkeiten
haben mit industrieller Handlangerei nichts mehr zu tun. Die
Wissensarbeiter als zentrale Schicht der Digitalisierung
--Programmierer, IT-Techniker, Webdesigner, High-Tech-Dienstleister
et al. - sind nicht Befehlsempfänger, sondern hochqualifizierte,
weitgehend autonom entscheidende Mitarbeiter. Ihre Ausbildung und ihr
Einsatz ähneln dem von traditionell akademischen und selbständigen
Berufen wie Ärzten oder Anwälten und in vielerlei Hinsicht auch dem
von Musikern, Malern und anderen Künstlern.

Ganz wichtig! Das schließt an unseren Thread zum Programmieren an sich
an.

Wie Anfang des 19.
Jahrhunderts der Industriearbeiter beginnen diese Wissensarbeiter als
historisch aufstrebende Schicht unsere Epoche weit über das Maß ihrer
reinen Zahl hinaus zu prägen. Ihr Weltbild färbt gewissermaßen auf den
Rest der arbeitenden Menschheit ab.

Bürokratische Befehls- und Gehorsamsstrukturen, wie sie in den großen
industriellen Apparaten dominierten, werden in der Wissensökonomie
durch Mobilität und eigenständiges, kreatives Handeln abgelöst.

Eben!

Der
Geldberuf kann unter diesen Bedingungen werden, was er in der
industriellen Epoche außerhalb von privilegierten Nischen kaum war:
Quelle von Befriedigung und Lebenssinn.

Hier würde ich "Geldberuf" umdrehen und sagen, daß der
Spätkapitalismus gesellschaftlich nützliche Tätigkeiten hervorbringt,
die für die Tätigen eben einen inneren Sinn haben.


						Mit li(e)bertären Grüßen

						Stefan


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http://www.oekonux.de/



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