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Message 02495 [Homepage] [Navigation]
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[chox] Larry Sanger: Über die neue Politik des Wissens




   Die Masse macht"s eben nicht: Die Wikipedia-Ideologie von der
   Schwarmintelligenz gleicht einer Lebenslüge / Von Larry Sanger



       Entscheiden zu können über das Hintergrundwissen einer
       Gesellschaft - darüber, was "wir alle wissen" - verleiht eine
       gewisse Macht, die Respekt gebietet. Diese Macht kann
       gesetzgeberische Planungen, die Leidenschaften der Massen und
       die Bildung ganzer Generationen beeinflussen. Wie genau diese
       Macht ausgeübt wird und wer sie ausübt - das wollen wir hier
       "die Politik des Wissens" nennen.



       Die Politik des Wissens hat sich im Laufe der Zeit enorm
       gewandelt. Im Mittelalter wurde uns unser Wissen von der Kirche
       vermittelt; nach der Erfindung der Druckerpresse und nach der
       Reformation bestimmten staatliche Zensoren und amtliche
       Genehmigungen für Verleger über unser Wissen; mit Beginn der
       Liberalisierung im 19. und 20. Jahrhundert waren es die Verleger
       selbst; später kamen die Radio- und Fernsehsender dazu - in
       allen Fällen aber war es eine kleine Elite von Experten, die
       über unser Wissen entschieden hat.



       Nun stehen wir vor einer neuen Politik des Wissens - durch den
       Aufstieg des Internets und insbesondere durch die Interaktion im
       Netz: in der Welt der Blogs, bei Wikipedia, Digg oder YouTube.
       Diese neue Politik des Wissens hat sich insbesondere auf Grund
       der Summe der öffentlichen Meinung etabliert. Die gesammelten
       Inhalte und Bewertungen, die sich aus unseren individuellen
       Bemühungen ergeben, verleihen uns eine Art kollektiver
       Autorität, die wir vor zehn Jahren noch nicht hatten.



       Aus der Sicht begeisterter Anhänger von Web 2.0 stellt Wikipedia
       die Demokratisierung des Wissens auf globaler Ebene dar - etwas,
       was zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte möglich ist.
       Wikipedia hält jeden für gleichermaßen befugt zu erklären, was
       über ein beliebiges Thema bekannt ist. Diese neue Politik des
       Wissens ist aus tiefster, leidenschaftlicher Überzeugung egalitär.



       Eine hübsche Geschichte - doch sie sagt nicht alles.



       Viele mögen es begrüßen, wenn unser Wissen heute weniger von
       Spezialisten dominiert wird, doch hat dies auch seine
       Schattenseiten: Unser Zugriff auf und unsere Achtung vor
       zuverlässigen Informationen leiden darunter. Mit der Ablehnung
       von Spezialistentum geht eine weit verbreitete Ablehnung allen
       Fachwissens einher - und der Rolle, die Menschen in der
       Gesellschaft zukommt, welche das Wissen über bestimmte Dinge zu
       ihrem Lebensinhalt machen.



       Masse und Macht



       Was erwarten wir vor allem, wenn wir uns als verantwortliche,
       unabhängig denkende Menschen in einer Enzyklopädie informieren
       wollen? Ich glaube, in erster Linie wünschen die meisten sich
       gut verständliche, genau ausgedrückte und fachlich fundierte
       Meinungen über ein bestimmtes Gebiet von allgemeinem Interesse.
       Ist es Experten nicht zuzutrauen, etablierte Ansichten genauso
       gut darzustellen wie die Meinungen von kleinen
       Spezialistenzirkeln oder Anschauungen aus dem Volk? Stellen wir
       die Frage einmal anders: Warum nicht einfach der breiten
       Öffentlichkeit diese Kompetenz zugestehen, so wie es Wikipedia tut?



       Doch zunächst eine andere Frage: Wozu überhaupt die
       Öffentlichkeit in enzyklopädische Projekte einbinden? Zwar
       dürfte die Gesamtheit der "Experten" wohl fähig sein, über
       Gebiete und Ansichten zu schreiben, die die Allgemeinheit
       interessieren. Doch haben sie dazu auch Zeit und Lust? Es gibt
       zwar Menschen mit Fachwissen über die Populärkultur, doch weit
       mehr Menschen in der Bevölkerung verstehen es ganz gut,
       Informationen über "populäre" Themen verständlich
       zusammenzufassen. Desgleichen gibt es manche Experten für
       Theorien, die weitab vom Mainstream liegen, doch auch hier ist
       die Zahl derer wesentlich höher, die zwar keine Fachleute sind,
       aber über solche Theorien ihrerseits ganz brauchbare Erklärungen
       für die Allgemeinheit verfassen können.



       Allein auf Grund ihrer schieren Masse kann die Allgemeinheit
       allen möglichen Themen, die für gewöhnlich als "Expertenwissen"
       gelten, wesentlich mehr Breite verleihen. Ferner sorgen all die
       Augen, die auf offensichtliche Fehler gerichtet sind, dafür,
       dass diese Fehler schneller und zuverlässiger behoben werden.
       Schließlich reduziert die Einbeziehung der Allgemeinheit in ein
       Enzyklopädie-Projekt wohl auch das Inseldasein vieler
       Spezialgebiete.



       Masse und Weisheit



       Wenden wir uns nun der anderen Gruppe zu: Weshalb ist es
       wichtig, für das Einbeziehen von Experten zu sorgen?



       Experten verfügen über einen außergewöhnlichen Umfang an Wissen
       auf bestimmten Gebieten. Dank dieses Wissens können sie oft
       wesentlich effektiver als Nicht-Spezialisten zusammenfassen, was
       zu einem Thema bekannt ist. Häufig wissen sie auch Dinge, die
       unter Nicht-Spezialisten praktisch unbekannt sind. Und sie haben
       Zugang zu Ressourcen, durch die sie ihr Wissensspektrum noch
       erweitern können.



       Aus diesen Gründen halte ich es für sinnvoll, die
       Hauptverantwortung dafür, was in enzyklopädischen Projekten über
       unser "Wissen" ausgesagt wird, in erster Linie Experten zu
       überlassen; doch sollten sie diese Verantwortung mit den
       allgemein Interessierten teilen.



       Die Verteidiger von Wikipedia können zahlreiche Argumente dafür
       ins Feld führen, weshalb die Einbeziehung von Fachleuten
       überflüssig ist. Sie haben sich ganz dem Dilettantismus
       verschrieben; damit meine ich ihre Ansicht, niemandem sollte
       allein auf Grund seines Fachwissens eine Sonderrolle oder
       besondere Zuständigkeit in einem Content-Creation-System
       zugestanden werden.



       Die Wikipedianer verteidigen ihre Einstellung unter anderem
       damit, die "Weisheit der Massen" mache den Kniefall vor Experten
       überflüssig. Die Gerechtigkeit erfordere nun einmal, Menschen
       nur nach dem zu beurteilen, was sie tun. Doch diese Argumente
       sind nicht stichhaltig. Es macht einen Unterschied, ob ich sage,
       Wikipedia ist ein verblüffendes und nützliches System, oder ob
       ich bestreite, die Online-Enzyklopädie könnte durch die
       Einbindung von Experten noch besser sein.



       An dieser Stelle könnte mein Kontrahent "The Wisdom of Crowds",
       ein sehr interessantes und beliebtes Buch von James Surowiecki,
       aus der Tasche ziehen, um damit zu belegen, dass Wikipedia keine
       Überprüfung seiner Inhalte durch Experten nötig habe. Aber
       selbst nach Surowieckis Kriterien besteht kein Grund zu der
       Annahme, Wikipedia sei ein Schaufenster für die "Weisheit der
       Massen".



       In der Einführung des Buches beschreibt Surowiecki eine
       Agrarausstellung 1906 in England, bei der alle möglichen Leute
       versuchten, das Gewicht eines Ochsen zu erraten. Es waren viele
       Nichtsachverständige in der Menge, weshalb man eigentlich meinen
       könnte, das durchschnittliche Rateergebnis sei ziemlich falsch
       gewesen. Doch tatsächlich lag das geschätzte Gewicht nur
       geringfügig unter dem wirklichen. Dies veranschaulicht laut
       Surowiecki ein häufig wiederkehrendes Phänomen: Gewöhnliche
       Menschen in großer Zahl, die unabhängig voneinander handeln,
       können in der Summe ein Verhalten an den Tag legen, das "weiser"
       oder präziser ist als das des größten Experten unter ihnen.



       Natürlich ist Surowiecki kein Narr. Er behauptet nicht, dass
       Daten, die von "Menschenmengen" produziert werden, unabhängig
       von den Umständen alle zuverlässig und richtig sind.
       Vorausgesetzt wird unter anderem, dass jeder in der Menge seine
       Entscheidungen unabhängig trifft. Gerade das ist aber die Art,
       wie Wikipedia nicht funktioniert.



       Surowiecki schreibt: "Eine intelligente Gruppe, speziell, wenn
       sie mit kognitiven Schwierigkeiten konfrontiert ist, fordert
       ihre Mitglieder nicht dazu auf, ihre Position zu ändern, damit
       die Gruppe zu einer Entscheidung gelangen kann, mit der jeder
       von ihnen zufrieden ist."



       Genau das aber geschieht bei Wikipedia. Um überhaupt
       zusammenarbeiten zu können, sind hier Konsens und Kompromisse
       unabdingbar. Die bekannten Beispiele, mit denen die Stärken
       gemeinsamen Gruppenratens demonstriert werden sollen - sagen
       wir, eine Schulklasse liegt insgesamt mit ihrer
       durchschnittlichen Schätzung der Zahl von Gummibärchen in einem
       Krug näher an der wirklichen Zahl als jeder Einzelne von ihnen -
       sind übrigens völlig unbrauchbar für die Untermauerung der
       Meinung, Experten und fachkundige Bearbeiter seien überflüssig
       bei der Veröffentlichung von Texten oder bei der Schaffung von
       Inhalten. Was die Zahl der Gummibärchen angeht, gibt es
       objektive Tatsachen, und die Experten liegen mit ihrer Aussage
       entweder richtig oder falsch. Doch welche Fakten versuchen
       Wikipedianer zu beschreiben? Die Fakten, die sie zusammentragen
       wollen, sind in den Büchern und Artikeln enthalten, die sie so
       eifrig zitieren. Und wer schreibt diese Bücher und Artikel? Eben
       größtenteils Experten.



       Wikipedianer haben in gewisser Weise die Moral auf ihrer Seite,
       wenn sie ihre Vorliebe für den Dilettantismus begründen: Es sei
       nur fair, erklären sie manchmal, Menschen nach ihren
       tatsächlichen Verdiensten zu beurteilen und nicht nach dem, wer
       sie sind. Persönliche Verdienste seien das einzige gerechte
       Kriterium, unterschiedliche Ebenen von Bearbeitungsbefugnis bei
       offenen Projekten zu rechtfertigen. Ein System, das sich allein
       an persönlichen Verdiensten orientiert - eine echte Meritokratie
       also - wird jemandes Autorität stets nur auf Grund dessen
       anerkennen, was er nachweislich für das Projekt zu leisten vermag.



       Interessant ist aber, dass Wikipedianer sich dieses Argument in
       Wirklichkeit nicht zu Nutze machen können. So lange sie sich dem
       Dilettantismus verpflichtet fühlen, können sie überhaupt keine
       unterschiedlichen Ebenen der Bearbeitungskompetenz akzeptieren,
       egal, mit welcher Begründung. Beim Dilettantismus gilt ja, wie
       ich schon sagte, die Auffassung, niemand dürfe allein aufgrund
       seines Fachwissens eine bevorzugte Rolle in einem
       Content-Creation-System spielen. Doch wenn jemand nachweislich
       exzellente Arbeit leistet, lässt sich im Zusammenhang damit
       meist sehr schnell eine gewisse Spezialisierung ausmachen.
       Dilettantismus in der von mir definierten Form ist also
       inkompatibel mit einem System der Meritokratie. Meritokraten
       sind aus Notwendigkeit meist Anhänger der Spezialisierung.



       Masse im Dilemma



       Hier haben wir ein kleines Dilemma. Wikipedia verschmäht es
       nämlich, die Beratung durch Experten als notwendig anzuerkennen.
       Wie will es trotzdem die Zuverlässigkeit seiner Inhalte
       gewährleisten? Entweder kann dies durch Hinweis auf äußere oder
       auf innere Instanzen der Verifizierung erreicht werden. Wählt
       Wikipedia eine äußere Instanz, so macht es Zugeständnisse an die
       Autorität von Experten. Beabsichtigt Wikipedia dagegen, sich
       ganz auf sich selbst, das heißt auf seine innere Kompetenz, zu
       verlassen, zum Beispiel durch Umfragen unter seinen Autoren oder
       durch die bloße Zahl der Bearbeitungen, so begibt es sich in
       eine unhaltbare Situation.



       Wikipedianer versuchen, mein Dilemma bei den Hörnern zu packen,
       indem sie die Glaubwürdigkeit von Wikipedias Inhalten durch eine
       Kombination aus externen und internen Mitteln zu belegen suchen.
       Sie betonen, dass Fußnoten ausreichen, um den Inhalt eines
       Artikels zu bestätigen. Wird eine Tatsache durch eine Fußnote
       belegt, so ist sie allem Anschein nach glaubwürdig. Dies darf
       wohl als externe Methode der Faktenprüfung gelten; da aber das
       Hinzufügen und die Bearbeitung von Fußnoten von gewöhnlichen
       Wikipedianern vorgenommen wird und nicht von irgendwelchen
       ("abgehobenen") Spezialisten, wird dies als interne Methode der
       Überprüfung angesehen. Wo bleibt da das Dilemma?



       Wenn Wikipedianer tatsächlich davon ausgehen, die
       Glaubwürdigkeit von Artikeln werde durch das Zitieren von Texten
       verbessert, die Experten geschrieben haben, würden die Artikel
       dann nicht noch mehr an Qualität gewinnen, wenn Leuten wie den
       zitierten Experten ein bescheidenes Maß an Mitarbeit an dem
       Projekt eingeräumt würde? Andererseits: Wenn die Tatsache, dass
       die zitierten Referenzen von Experten geschrieben wurden,
       relativ belanglos ist, darf man sich fragen, welchen Sinn diese
       Referenzen dann überhaupt haben. Anscheinend spielen sie eine
       ziemlich mysteriöse Rolle, ähnlich einem Talisman.



       Das Dilemma, in dem sich Wikipedia befindet, ist also folgendes:
       Wenn es seine Glaubwürdigkeit durch Hinweise auf fachkundige
       Meinung festigen will, dann gibt es keinen Grund, der dagegen
       spricht, Experten in irgendeiner beratenden Funktion zur
       Mitarbeit einzuladen. Für Wikipedianer ist das allerdings
       inakzeptabel. Und wieso?



       Masse und Wahrheit



       Wikipedia ist zutiefst egalitär. Eines seiner Leitmaximen ist
       der epistemologische (auf das Wissen bezogene) Egalitarismus.
       Der philosophische Hauptgrund für diese Art des Egalitarismus
       ist zweifelsohne der gleiche wie für den Egalitarismus im
       allgemeinen, nämlich das heute weit verbreitete und alles
       überspannende Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Doch in unserer
       modernen spezialistenfreundlichen Gesellschaft kann Fachwissen
       viel Autorität verleihen, die Nicht-Fachleuten vorenthalten
       bleibt. Die vielleicht wichtigste und grundlegendste Macht von
       Experten liegt darin zu erklären, was bekannt ist. Nach dem
       Verständnis eines fundamentalen Egalitarismus sollte diese Macht
       allen gleichermaßen zuteil werden.



       Ich bin ein Befürworter der Meritokratie: Experten verdienen es,
       wie ich meine, eine herausgehobene Rolle zu spielen bei der
       Erklärung dessen, was bekannt ist, denn sie haben ihr Leben dem
       Wissen gewidmet. Experten haben ausgesprochen gründliche
       Kenntnisse in ihren Fachgebieten. Indem wir Experten mehr
       Aufmerksamkeit schenken, gelingt es uns eher, die Wahrheit zu
       erfahren. Ignorieren wir sie, verspielen wir diese Chance. Man
       kann ohne Übertreibung sagen, dass der Egalitarismus des Wissens
       - besonders so, wie er von Wikipedia dargestellt wird - die
       Wahrheit der Gleichheit unterordnet.



       Das Fazit der Debatte ist: Die starke Hinwendung zur
       Spezialisierung in der heutigen Zeit liegt ständig im Clinch mit
       unserer heutigen Verpflichtung zur absoluten Gleichbehandlung
       der Menschen. Doch so viel mir die Gleichheit bedeutet, wenn ich
       mich zwischen ihr und der Wahrheit entscheiden muss, stehe ich
       auf der Seite der Wahrheit.



       Larry Sanger ist einer der Gründer der Online-Enzyklopädie
       Wikipedia. Seinen Essay schrieb er für das Online-Forum "Edge",
       um damit seinen Schritt zu untermauern, die konkurrierende
       Online-Enzyklopädie "Citizendium" und das "Citizens" Compendium"
       zu gründen.



       Deutsch von Christoph Kappes


Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.166, Samstag, den 21. Juli 2007 , Seite 14
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