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Die Masse macht"s eben nicht: Die Wikipedia-Ideologie von der
Schwarmintelligenz gleicht einer Lebenslüge / Von Larry Sanger
Entscheiden zu können über das Hintergrundwissen einer
Gesellschaft - darüber, was "wir alle wissen" - verleiht eine
gewisse Macht, die Respekt gebietet. Diese Macht kann
gesetzgeberische Planungen, die Leidenschaften der Massen und
die Bildung ganzer Generationen beeinflussen. Wie genau diese
Macht ausgeübt wird und wer sie ausübt - das wollen wir hier
"die Politik des Wissens" nennen.
Die Politik des Wissens hat sich im Laufe der Zeit enorm
gewandelt. Im Mittelalter wurde uns unser Wissen von der Kirche
vermittelt; nach der Erfindung der Druckerpresse und nach der
Reformation bestimmten staatliche Zensoren und amtliche
Genehmigungen für Verleger über unser Wissen; mit Beginn der
Liberalisierung im 19. und 20. Jahrhundert waren es die Verleger
selbst; später kamen die Radio- und Fernsehsender dazu - in
allen Fällen aber war es eine kleine Elite von Experten, die
über unser Wissen entschieden hat.
Nun stehen wir vor einer neuen Politik des Wissens - durch den
Aufstieg des Internets und insbesondere durch die Interaktion im
Netz: in der Welt der Blogs, bei Wikipedia, Digg oder YouTube.
Diese neue Politik des Wissens hat sich insbesondere auf Grund
der Summe der öffentlichen Meinung etabliert. Die gesammelten
Inhalte und Bewertungen, die sich aus unseren individuellen
Bemühungen ergeben, verleihen uns eine Art kollektiver
Autorität, die wir vor zehn Jahren noch nicht hatten.
Aus der Sicht begeisterter Anhänger von Web 2.0 stellt Wikipedia
die Demokratisierung des Wissens auf globaler Ebene dar - etwas,
was zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte möglich ist.
Wikipedia hält jeden für gleichermaßen befugt zu erklären, was
über ein beliebiges Thema bekannt ist. Diese neue Politik des
Wissens ist aus tiefster, leidenschaftlicher Überzeugung egalitär.
Eine hübsche Geschichte - doch sie sagt nicht alles.
Viele mögen es begrüßen, wenn unser Wissen heute weniger von
Spezialisten dominiert wird, doch hat dies auch seine
Schattenseiten: Unser Zugriff auf und unsere Achtung vor
zuverlässigen Informationen leiden darunter. Mit der Ablehnung
von Spezialistentum geht eine weit verbreitete Ablehnung allen
Fachwissens einher - und der Rolle, die Menschen in der
Gesellschaft zukommt, welche das Wissen über bestimmte Dinge zu
ihrem Lebensinhalt machen.
Masse und Macht
Was erwarten wir vor allem, wenn wir uns als verantwortliche,
unabhängig denkende Menschen in einer Enzyklopädie informieren
wollen? Ich glaube, in erster Linie wünschen die meisten sich
gut verständliche, genau ausgedrückte und fachlich fundierte
Meinungen über ein bestimmtes Gebiet von allgemeinem Interesse.
Ist es Experten nicht zuzutrauen, etablierte Ansichten genauso
gut darzustellen wie die Meinungen von kleinen
Spezialistenzirkeln oder Anschauungen aus dem Volk? Stellen wir
die Frage einmal anders: Warum nicht einfach der breiten
Öffentlichkeit diese Kompetenz zugestehen, so wie es Wikipedia tut?
Doch zunächst eine andere Frage: Wozu überhaupt die
Öffentlichkeit in enzyklopädische Projekte einbinden? Zwar
dürfte die Gesamtheit der "Experten" wohl fähig sein, über
Gebiete und Ansichten zu schreiben, die die Allgemeinheit
interessieren. Doch haben sie dazu auch Zeit und Lust? Es gibt
zwar Menschen mit Fachwissen über die Populärkultur, doch weit
mehr Menschen in der Bevölkerung verstehen es ganz gut,
Informationen über "populäre" Themen verständlich
zusammenzufassen. Desgleichen gibt es manche Experten für
Theorien, die weitab vom Mainstream liegen, doch auch hier ist
die Zahl derer wesentlich höher, die zwar keine Fachleute sind,
aber über solche Theorien ihrerseits ganz brauchbare Erklärungen
für die Allgemeinheit verfassen können.
Allein auf Grund ihrer schieren Masse kann die Allgemeinheit
allen möglichen Themen, die für gewöhnlich als "Expertenwissen"
gelten, wesentlich mehr Breite verleihen. Ferner sorgen all die
Augen, die auf offensichtliche Fehler gerichtet sind, dafür,
dass diese Fehler schneller und zuverlässiger behoben werden.
Schließlich reduziert die Einbeziehung der Allgemeinheit in ein
Enzyklopädie-Projekt wohl auch das Inseldasein vieler
Spezialgebiete.
Masse und Weisheit
Wenden wir uns nun der anderen Gruppe zu: Weshalb ist es
wichtig, für das Einbeziehen von Experten zu sorgen?
Experten verfügen über einen außergewöhnlichen Umfang an Wissen
auf bestimmten Gebieten. Dank dieses Wissens können sie oft
wesentlich effektiver als Nicht-Spezialisten zusammenfassen, was
zu einem Thema bekannt ist. Häufig wissen sie auch Dinge, die
unter Nicht-Spezialisten praktisch unbekannt sind. Und sie haben
Zugang zu Ressourcen, durch die sie ihr Wissensspektrum noch
erweitern können.
Aus diesen Gründen halte ich es für sinnvoll, die
Hauptverantwortung dafür, was in enzyklopädischen Projekten über
unser "Wissen" ausgesagt wird, in erster Linie Experten zu
überlassen; doch sollten sie diese Verantwortung mit den
allgemein Interessierten teilen.
Die Verteidiger von Wikipedia können zahlreiche Argumente dafür
ins Feld führen, weshalb die Einbeziehung von Fachleuten
überflüssig ist. Sie haben sich ganz dem Dilettantismus
verschrieben; damit meine ich ihre Ansicht, niemandem sollte
allein auf Grund seines Fachwissens eine Sonderrolle oder
besondere Zuständigkeit in einem Content-Creation-System
zugestanden werden.
Die Wikipedianer verteidigen ihre Einstellung unter anderem
damit, die "Weisheit der Massen" mache den Kniefall vor Experten
überflüssig. Die Gerechtigkeit erfordere nun einmal, Menschen
nur nach dem zu beurteilen, was sie tun. Doch diese Argumente
sind nicht stichhaltig. Es macht einen Unterschied, ob ich sage,
Wikipedia ist ein verblüffendes und nützliches System, oder ob
ich bestreite, die Online-Enzyklopädie könnte durch die
Einbindung von Experten noch besser sein.
An dieser Stelle könnte mein Kontrahent "The Wisdom of Crowds",
ein sehr interessantes und beliebtes Buch von James Surowiecki,
aus der Tasche ziehen, um damit zu belegen, dass Wikipedia keine
Überprüfung seiner Inhalte durch Experten nötig habe. Aber
selbst nach Surowieckis Kriterien besteht kein Grund zu der
Annahme, Wikipedia sei ein Schaufenster für die "Weisheit der
Massen".
In der Einführung des Buches beschreibt Surowiecki eine
Agrarausstellung 1906 in England, bei der alle möglichen Leute
versuchten, das Gewicht eines Ochsen zu erraten. Es waren viele
Nichtsachverständige in der Menge, weshalb man eigentlich meinen
könnte, das durchschnittliche Rateergebnis sei ziemlich falsch
gewesen. Doch tatsächlich lag das geschätzte Gewicht nur
geringfügig unter dem wirklichen. Dies veranschaulicht laut
Surowiecki ein häufig wiederkehrendes Phänomen: Gewöhnliche
Menschen in großer Zahl, die unabhängig voneinander handeln,
können in der Summe ein Verhalten an den Tag legen, das "weiser"
oder präziser ist als das des größten Experten unter ihnen.
Natürlich ist Surowiecki kein Narr. Er behauptet nicht, dass
Daten, die von "Menschenmengen" produziert werden, unabhängig
von den Umständen alle zuverlässig und richtig sind.
Vorausgesetzt wird unter anderem, dass jeder in der Menge seine
Entscheidungen unabhängig trifft. Gerade das ist aber die Art,
wie Wikipedia nicht funktioniert.
Surowiecki schreibt: "Eine intelligente Gruppe, speziell, wenn
sie mit kognitiven Schwierigkeiten konfrontiert ist, fordert
ihre Mitglieder nicht dazu auf, ihre Position zu ändern, damit
die Gruppe zu einer Entscheidung gelangen kann, mit der jeder
von ihnen zufrieden ist."
Genau das aber geschieht bei Wikipedia. Um überhaupt
zusammenarbeiten zu können, sind hier Konsens und Kompromisse
unabdingbar. Die bekannten Beispiele, mit denen die Stärken
gemeinsamen Gruppenratens demonstriert werden sollen - sagen
wir, eine Schulklasse liegt insgesamt mit ihrer
durchschnittlichen Schätzung der Zahl von Gummibärchen in einem
Krug näher an der wirklichen Zahl als jeder Einzelne von ihnen -
sind übrigens völlig unbrauchbar für die Untermauerung der
Meinung, Experten und fachkundige Bearbeiter seien überflüssig
bei der Veröffentlichung von Texten oder bei der Schaffung von
Inhalten. Was die Zahl der Gummibärchen angeht, gibt es
objektive Tatsachen, und die Experten liegen mit ihrer Aussage
entweder richtig oder falsch. Doch welche Fakten versuchen
Wikipedianer zu beschreiben? Die Fakten, die sie zusammentragen
wollen, sind in den Büchern und Artikeln enthalten, die sie so
eifrig zitieren. Und wer schreibt diese Bücher und Artikel? Eben
größtenteils Experten.
Wikipedianer haben in gewisser Weise die Moral auf ihrer Seite,
wenn sie ihre Vorliebe für den Dilettantismus begründen: Es sei
nur fair, erklären sie manchmal, Menschen nach ihren
tatsächlichen Verdiensten zu beurteilen und nicht nach dem, wer
sie sind. Persönliche Verdienste seien das einzige gerechte
Kriterium, unterschiedliche Ebenen von Bearbeitungsbefugnis bei
offenen Projekten zu rechtfertigen. Ein System, das sich allein
an persönlichen Verdiensten orientiert - eine echte Meritokratie
also - wird jemandes Autorität stets nur auf Grund dessen
anerkennen, was er nachweislich für das Projekt zu leisten vermag.
Interessant ist aber, dass Wikipedianer sich dieses Argument in
Wirklichkeit nicht zu Nutze machen können. So lange sie sich dem
Dilettantismus verpflichtet fühlen, können sie überhaupt keine
unterschiedlichen Ebenen der Bearbeitungskompetenz akzeptieren,
egal, mit welcher Begründung. Beim Dilettantismus gilt ja, wie
ich schon sagte, die Auffassung, niemand dürfe allein aufgrund
seines Fachwissens eine bevorzugte Rolle in einem
Content-Creation-System spielen. Doch wenn jemand nachweislich
exzellente Arbeit leistet, lässt sich im Zusammenhang damit
meist sehr schnell eine gewisse Spezialisierung ausmachen.
Dilettantismus in der von mir definierten Form ist also
inkompatibel mit einem System der Meritokratie. Meritokraten
sind aus Notwendigkeit meist Anhänger der Spezialisierung.
Masse im Dilemma
Hier haben wir ein kleines Dilemma. Wikipedia verschmäht es
nämlich, die Beratung durch Experten als notwendig anzuerkennen.
Wie will es trotzdem die Zuverlässigkeit seiner Inhalte
gewährleisten? Entweder kann dies durch Hinweis auf äußere oder
auf innere Instanzen der Verifizierung erreicht werden. Wählt
Wikipedia eine äußere Instanz, so macht es Zugeständnisse an die
Autorität von Experten. Beabsichtigt Wikipedia dagegen, sich
ganz auf sich selbst, das heißt auf seine innere Kompetenz, zu
verlassen, zum Beispiel durch Umfragen unter seinen Autoren oder
durch die bloße Zahl der Bearbeitungen, so begibt es sich in
eine unhaltbare Situation.
Wikipedianer versuchen, mein Dilemma bei den Hörnern zu packen,
indem sie die Glaubwürdigkeit von Wikipedias Inhalten durch eine
Kombination aus externen und internen Mitteln zu belegen suchen.
Sie betonen, dass Fußnoten ausreichen, um den Inhalt eines
Artikels zu bestätigen. Wird eine Tatsache durch eine Fußnote
belegt, so ist sie allem Anschein nach glaubwürdig. Dies darf
wohl als externe Methode der Faktenprüfung gelten; da aber das
Hinzufügen und die Bearbeitung von Fußnoten von gewöhnlichen
Wikipedianern vorgenommen wird und nicht von irgendwelchen
("abgehobenen") Spezialisten, wird dies als interne Methode der
Überprüfung angesehen. Wo bleibt da das Dilemma?
Wenn Wikipedianer tatsächlich davon ausgehen, die
Glaubwürdigkeit von Artikeln werde durch das Zitieren von Texten
verbessert, die Experten geschrieben haben, würden die Artikel
dann nicht noch mehr an Qualität gewinnen, wenn Leuten wie den
zitierten Experten ein bescheidenes Maß an Mitarbeit an dem
Projekt eingeräumt würde? Andererseits: Wenn die Tatsache, dass
die zitierten Referenzen von Experten geschrieben wurden,
relativ belanglos ist, darf man sich fragen, welchen Sinn diese
Referenzen dann überhaupt haben. Anscheinend spielen sie eine
ziemlich mysteriöse Rolle, ähnlich einem Talisman.
Das Dilemma, in dem sich Wikipedia befindet, ist also folgendes:
Wenn es seine Glaubwürdigkeit durch Hinweise auf fachkundige
Meinung festigen will, dann gibt es keinen Grund, der dagegen
spricht, Experten in irgendeiner beratenden Funktion zur
Mitarbeit einzuladen. Für Wikipedianer ist das allerdings
inakzeptabel. Und wieso?
Masse und Wahrheit
Wikipedia ist zutiefst egalitär. Eines seiner Leitmaximen ist
der epistemologische (auf das Wissen bezogene) Egalitarismus.
Der philosophische Hauptgrund für diese Art des Egalitarismus
ist zweifelsohne der gleiche wie für den Egalitarismus im
allgemeinen, nämlich das heute weit verbreitete und alles
überspannende Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Doch in unserer
modernen spezialistenfreundlichen Gesellschaft kann Fachwissen
viel Autorität verleihen, die Nicht-Fachleuten vorenthalten
bleibt. Die vielleicht wichtigste und grundlegendste Macht von
Experten liegt darin zu erklären, was bekannt ist. Nach dem
Verständnis eines fundamentalen Egalitarismus sollte diese Macht
allen gleichermaßen zuteil werden.
Ich bin ein Befürworter der Meritokratie: Experten verdienen es,
wie ich meine, eine herausgehobene Rolle zu spielen bei der
Erklärung dessen, was bekannt ist, denn sie haben ihr Leben dem
Wissen gewidmet. Experten haben ausgesprochen gründliche
Kenntnisse in ihren Fachgebieten. Indem wir Experten mehr
Aufmerksamkeit schenken, gelingt es uns eher, die Wahrheit zu
erfahren. Ignorieren wir sie, verspielen wir diese Chance. Man
kann ohne Übertreibung sagen, dass der Egalitarismus des Wissens
- besonders so, wie er von Wikipedia dargestellt wird - die
Wahrheit der Gleichheit unterordnet.
Das Fazit der Debatte ist: Die starke Hinwendung zur
Spezialisierung in der heutigen Zeit liegt ständig im Clinch mit
unserer heutigen Verpflichtung zur absoluten Gleichbehandlung
der Menschen. Doch so viel mir die Gleichheit bedeutet, wenn ich
mich zwischen ihr und der Wahrheit entscheiden muss, stehe ich
auf der Seite der Wahrheit.
Larry Sanger ist einer der Gründer der Online-Enzyklopädie
Wikipedia. Seinen Essay schrieb er für das Online-Forum "Edge",
um damit seinen Schritt zu untermauern, die konkurrierende
Online-Enzyklopädie "Citizendium" und das "Citizens" Compendium"
zu gründen.
Deutsch von Christoph Kappes
Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.166, Samstag, den 21. Juli 2007 , Seite 14
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Web-Site: http://www.oekonux.de/
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