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Für eine Konferenz über "Das neue Antlitz des amerikanischen Kapitalismus", veranstaltet zu Ehren der Herausgeber des New York Review of Books, ist eine englische Universitätsstadt, in diesem Fall Oxford, auf den ersten Blick nicht der nächstliegende Tagungsort. Doch bei genauerer Betrachtung drängt England sich geradezu auf: Erstens ist der New York Review nicht nur, wie Teilnehmer Timothy Garton-Ash bemerkt, das "einzige Literaturmagazin, in dem seit seiner Gründung Europäer mit Europäern debattieren". Und zweitens, so der Princeton-Wirtschaftsprofessor und New York Times-Kolumnist Paul Krugman, bildet Großbritannien die Brücke zwischen Amerika und Europa, liegt also "auf halbem Wege zwischen den USA und einer annehmbaren Lebensweise". Dieser ironische bis bissige Tonfall bestimmte das Oxforder Treffen einiger der prominentesten Wirtschaftswissenschaftler, Soziologen und Historiker des englischen Sprachraumes. Im Saal der Oxford Union, des studentischen Debattierklubs, ging es vor allem um die Fragen: Respektiert der flexible Arbeitsmarkt der New American Economy die Würde der Arbeitnehmer? Und existieren im globalisierten Weltmarkt noch bedeutende kapitalistische Systeme, die sich vom amerikanischen Modell in wichtigen Punkten unterscheiden? Paul Krugman, einer der schärfsten amerikanischen Kritiker George W. Bushs, malte gemeinsam mit seiner Frau, der Wirtschaftswissenschaftlerin Robin Wells, ein düsteres Bild der US-Wirtschaft. Das Wachstum in den Vereinigten Staaten verdanke sich in erster Linie der "Walmartisierung" des amerikanischen Dienstleistungssektors, also einer Ausweitung des Niedriglohnbereichs im Einzelhandel. Seit den frühen achtziger Jahren, mithin seit der Wahl Ronald Reagans zum Präsidenten, sei die Einkommensschere immer weiter auseinander geklafft, und die Regierungen hätten diesen Trend unterstützt. Heute besitzt ein Prozent der amerikanischen Bevölkerung 30 Prozent des Wohlstandes. Krugman und Wells kamen zu dem Schluss, die Art, wie die Regierung unter Bush Junior eine "gerechtere Umverteilung verhindert, Gewerkschaften entgegengearbeitet und demokratische Prozesse ausgehebelt" habe, erinnere an nichts so sehr wie das System des spanischen Falangismus unter Franco. Dabei fiel zugunsten der bewusst provokanten These unter den Tisch, dass es sich in Amerika gerade nicht um eine Staatswirtschaft, sondern im Gegenteil eher um einen verwirtschaftlichten Staat handelt. Mehr Rheinland als Chicago Nachdem der indische Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen bei seiner Beschreibung der aufstrebenden Wirtschaftsmächte Indien und China als "alternative kapitalistische Systeme" enttäuschend allgemein geblieben war, wurde Timothy Garton-Ash wieder erfreulich konkret: Der Oxfordprofessor für Europastudien plädierte dafür, den bisherigen kapitalistischen Varianten - der "liberalen" Marktwirtschaft anglo-amerikanischer Prägung, der "koordinierten" des westlichen Mitteleuropa und der "mediterranen" der westlichen Mittelmeer-Anrainerstaaten - eine vierte hinzuzufügen: den Kapitalismus im postkommunistischen östlichen Mitteleuropa, namentlich in Polen. Ein polnischer Freund habe zu ihm gesagt: "Wenn wir versuchen, bis Chicago zu kommen, schaffen wir es vielleicht wenigstens bis ins Rheinland." Gemeint waren das Chicago des Laissez-faire-Ökonomen Milton Friedman und das Rheinland der sozialen Marktwirtschaft. In Polen bilde ein Großteil der Eliten des kommunistischen Systems auch heute wieder die gesellschaftliche Spitze, so Garton-Ash. Neben einer "Amerikanisierung" des Selbstbildes der Polen, die sich seit dem Zusammenbruch des Kommunismus zunehmend über Geld und Beruf definierten, macht er eine zunehmend amerikaskeptische Haltung in Polen aus. Donald Rumsfeld habe leichtfertig das "Neue Europa" als amerikafreundlich eingestuft. Es zeige sich, dass der "rheinische Weg" vielen Polen näher liege als Chicago - sei es das Chicago Friedmans oder das Al Capones, dem der derzeitige osteuropäische Kapitalismus eher ähnele. Der britische Historiker Tony Judt vom Remarque-Institut der New York University widmete sich einigen anderen neokonservativen Mythen. Er warnte unter anderem davor, den Zusammenbruch des Wohlfahrtstaates als unausweichlich zu betrachten. Die amerikanischen "Cheerleader des Kapitalismus", die diesen Zusammenbruch triumphierend voraussagten, täten nichts anderes, als "zutiefst politische Entscheidungen als wirtschaftliche Notwendigkeit zu bemänteln", so Judt. Globalisierung beschreibe lediglich die Zerrüttung der staatlichen Fähigkeit, eine wirtschaftliche Absicherung zu bieten. Sie sei aber keineswegs ein Ersatz dafür. Der in Amerika weit verbreiteten Vorstellung, wir bewegten uns auf eine permanent postideologische Weltordnung des globalen Marktes zu, begegnete der Historiker mit einer erstaunlichen geschichtlichen Parallele: Auch im transnationalen Wirtschaftsraum des österreich-ungarischen Kaiserreiches habe niemand geglaubt, es werde jemals wieder zu Konflikten zwischen den damaligen Mitgliedsnationen kommen. Damals wie heute setzte man ökonomischen Erfolg fälschlich mit politischer Notwendigkeit gleich. "Es wird vergessen", so Judt, "dass politische Entscheidungen vor allem innerhalb von Staaten fallen, nicht zwischen ihnen." Der Soziologe Richard Sennett (London School of Economics und New York University) gab schließlich einen Einblick in die "Niederungen der New Economy" - die Arbeitsbedingungen des administrativen Mittelbaus bei Finanzdienstleistern, IT-Firmen und in der Unterhaltungsindustrie. Eine Studie Sennetts und seiner Mitarbeiter hat ergeben, dass jene Selbstdefinition über die Arbeit, die Timothy Garton-Ash in Polen als neues Phänomen ausgemacht hat, in Amerika durch die weitgehende Unplanbarkeit des professionellen Werdeganges zunehmend erschwert wird. Junge Arbeitnehmer seien ehrgeiziger als noch vor 30 Jahren, lebten zugleich aber mit "einem starken Gefühl des beruflichen Dahintreibens". Da große Firmen heute oft die Fähigkeit zur Problemlösung über die zur Problemfindung stellten, seien "fragmentierte, ungeordnete" Karrieren mit lauter "Sackgassen" dort zur Regel geworden. Der große Fehler bestehe darin, die oberflächliche Dynamik dieser verstörenden Entwicklung, bei der die Arbeitsplätze und -aufgaben häufig wechselten, zum Vorbild einer hochindividualisierten Wohlfahrtspolitik zu machen, nach dem Motto: Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht. So blieb in Oxford der Eindruck geschlossener linksliberaler Kritik an den derzeitigen Tendenzen in der amerikanischen Wirtschaft. Bei soviel Einmütigkeit hätte man fast vergessen können, dass es sich dabei um Stimmen einer Minderheit handelte. "Das einzige, was hier gefehlt hat", fand daher Mitveranstalter Theo Sommer von der Zeit-Stiftung, "war so ein richtig beinharter Kapitalist."ALEXANDER MENDEN Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr.106, Mittwoch, den 09. Mai 2007 , Seite 13 _______________________ Web-Site: http://www.oekonux.de/ Organization: http://www.oekonux.de/projekt/ Contact: projekt oekonux.de
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