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[chox] ... über die Parteigrenzen hinweg



Außenansicht

Das unerwünschte Gewissen

Wie es dem Bundespräsidenten und den Abgeordneten ergeht, wenn sie frei entscheiden wollen

Von Hildegard Hamm-Brücher

Seit Jahrzehnten gibt es in der Bundesrepublik eine Diskrepanz zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit. Gefährdungen sind auch heute allerorten zu beobachten. Denn trotz erfreulicher Hoffnungsschimmer am wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Horizont darf nicht länger übersehen werden, dass zusehends Schatten über unserem Gemeinwesen liegen, dass der Grundkonsens bröckelt. Zwar hat die große Koalition eine satte Mehrheit. Die Folge ist jedoch, dass die parlamentarischen Macht- und Entscheidungskämpfe nicht mehr - wie sonst üblich - zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien stattfinden, sondern innerhalb des Regierungsbündnisses. Damit paralysieren oder minimieren sie die notwendigen Kräfte der Erneuerung dort; wir erleben es bei der Gesundheitsreform im Großen und bei tagespolitischen Kontroversen im Kleinen permanent. Im Gefolge kann die große Koalition nur kleine und kleinste Brötchen (oder gar keine mehr) backen.

Eine der Folgen ist, dass der Grundkonsens zwischen Volk und Volksvertretung abnimmt, desgleichen der zwischen Parteien (deren Mitgliederzahlen schwinden) und den aktiven Kräften der Zivilgesellschaft. Die Verdrossenheit an Politik, Politikern, Parteien, ja, an der Demokratie, nimmt zu. Wahlbeteiligungen nehmen signifikant ab, radikale Parteien haben Zulauf. Laut jüngsten Untersuchungen bejaht in den neuen Bundesländern nur noch etwa ein Drittel der Bevölkerung die Demokratie als Staatsform, und auch in den Ländern der alten Bundesrepublik ist die Zustimmung von mehr als 90 Prozent auf etwa 70 Prozent geschrumpft. Diese Fakten müssen Anlass sein, auf die Reformagenda ein ganz anderes Thema zu setzen: die Verbesserung der Akzeptanz parlamentarischer Verfahrens- und Verhaltensformen.

Die Notwendigkeit hierfür möchte ich an drei aktuellen Beispielen konkretisieren: Beim ersten Beispiel geht es um den schwelenden Konflikt über das Amtsverständnis des Bundespräsidenten und die mehr oder weniger unverblümten Versuche namhafter Koalitionspolitiker, ihn ans Gängelband zu nehmen. Dies versuchen ausgerechnet Angehörige jener Parteien, die Horst Köhler vor drei Jahren wegen seines Rufs als hochqualifizierter und korrekter Beamter auf den Schild hoben. Diesem Ruf wird er nun erfreulich gerecht. Er erweist sich als durchgehend gewissenhaft - sowohl in seinem grundsätzlichen Amtsverständnis als auch dann, wenn es konkret wird: zum Beispiel bei der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der oft überhastet beschlossenen und schlampig zusammengeschriebenen Gesetze, bei seinen nimmermüden Ermutigungen zu den angekündigten Reformen, bei seinem entwicklungspolitischen Engagement mit Schwerpunkt Afrika. Dies alles ist wichtig für die Demokratie, weil vertrauensbildend und frei von aller Parteilichkeit. Man kann nur hoffen, dass dieser Bundespräsident an seinem bisherigen Amtsverständnis keine Abstriche machen wird.

Das Grundgesetz bestimmt, dass der Bundespräsident von der Bundesversammlung gewählt wird; eine Wahl durch das Volk wurde 1949 verworfen, nachdem in Weimar zuerst Hindenburg und dann Hitler auf diese Weise ins Amt kamen. Aber nun wäre es eine Überlegung wert, zumindest die Wiederwahl eines Bundespräsidenten durch Volksentscheid zu ermöglichen. So wäre dieser nicht gezwungen, bei allem, was er unternimmt und unterlässt, darauf zu achten, wie er damit bei den Parteipolitikern ankommt. Und vor allem wäre zum ersten Male eine echte Mitwirkung der Bürger auf Bundesebene möglich.

Zweitens wäre den Parteien zu empfehlen, in Sachen Verfassungstreue zuerst einmal vor der eigenen Tür zu kehren. Zum Beispiel, was die unzulängliche Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative betrifft, sowie die Beachtung des Verfassungsgebots im Artikel 38 des Grundgesetzes, wonach Abgeordnete "Vertreter des ganzen Volkes" sein sollen, an "Aufträge und Weisungen nicht gebunden" und nur ihrem Gewissen verantwortlich sind. Das Gebot wird in der Realität nicht nur nicht beachtet. Sondern es wird ausdrücklich dagegen verstoßen. Im tatsächlichen Parlamentsleben ist der nur seinem Gewissen verantwortliche Abgeordnete unerwünscht und missliebig - wir haben es bei den Abstimmungen über die Gesundheitsreform erlebt. SPD-Fraktionschef Peter Struck verfügte ausdrücklich Fraktionszwang; Abgeordneten, die sich nicht fügen wollten, wurde mit der Verbannung aus dem Gesundheitsausschuss gedroht. Ein Aufstand des Gewissens tut not!

Mein drittes Beispiel handelt von demokratie- und gesellschaftspolitischen Versäumnissen, die die Fortentwicklung stabiler demokratischer Lebensformen behindern oder gar verhindern. Ich nenne die seit Jahrzehnten versäumten Bildungsreformen, die seit eh und je vernachlässigte Integrationspolitik sowie den ursächlich damit zusammenhängenden Rechtsextremismus und Rassismus. Dergleichen lässt sich weder durch Verbote noch durch verbale Bekehrungsversuche eindämmen, sondern durch bildungs- und demokratiepolitische Angebote. Wenn man bedenkt, dass alles, worüber heute in der Bildungspolitik gerungen wird, als handle es sich um weiß Gott welche Neuerungen - dass all dies bereits vor 40 Jahren Konsens in Fachgremien und unter vorausschauenden Bildungspolitikern aus allen Parteien war! Sei es Vorschulerziehung, seien es Ganztagsschulen zur Verbesserung der Chancengerechtigkeit, sei es die "Produktion" von mehr statt weniger Akademikern und die Bedeutung lebenslanger Weiterbildung - alles war bereits beschlossene Sache. So gut wie nichts davon wurde systematisch umgesetzt. Bis heute ist zwar viel von "Eliten" die Rede, aber viel zu wenig von den Bildungs- und Ausbildungsdefiziten von Jugendlichen aus bildungsfernen Elternhäusern. Das Getto Hauptschule ist zur Brutstätte für oft gewalttätigen Rechtsextremismus und Rassismus geworden, und wer in diesem Getto heranwächst, der ist für das Projekt einer integrationsbereiten und -fähigen Gesellschaft verloren. Deshalb muss Bildungspolitik ein integraler Bestandteil von Demokratiepolitik sein.

Als Zeitzeugin der deutschen Geschichte, als jemand, die Weimar, die NS-Zeit und deren Folgen bis in die Gegenwart erlebt hat, bin ich gewiss, dass für den Bestand und die Zukunft unserer Demokratie ein Grundkonsens zwischen Buchstaben und Geist der Verfassung sowie der Verfassungswirklichkeit unerlässlich ist. Dies ist nicht naturgegeben. Es muss im demokratischen Alltag immer von neuem erworben werden. Hildegard Hamm-Brücher, 85, trat 1948 der FDP bei. Nach 50 Jahren in Parlamenten und Regierungen verließ sie 2002 die Partei, die sie 1994 noch als Bundespräsidentin nominiert hatte.Foto: ddp

Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.31, Mittwoch, den 07. Februar 2007 , Seite 2
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