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[chox] A uf dem W eg in eine inhumane Gesellschaft




Die Abstiegsangst hat die Mittelschicht gepackt - mit gefährlichen Folgen für 
das soziale Klima / Von Wilhelm Heitmeyer und Sandra Hüpping

Erfahrungen der Ausgrenzung in der Gesellschaft nehmen seit Jahren zu, mit 
negativen Folgen für das soziale Klima, vor allem aber mit schlimmen 
Konsequenzen für sozial schwache Gruppen, Ausländer oder Obdachlose. Dies 
zeigt die Bielefelder Langzeitstudie, die seit Jahren den Zusammenhang 
zwischen sozioökonomischen Faktoren und individuellen Ängsten der 
Desintegration untersucht, ausgehend von der Überzeugung, dass man 
langfristige Prozesse beobachten muss, nicht "einmalige" Momentaufnahmen. 
Dies gilt insbesondere für Zeiten sowohl schnellen als auch rabiaten Wandels. 
Momentaufnahmen - wie die jetzt plötzlich aufflackernde Debatte 
um "Unterschicht" - spielen trügerische Gewissheiten vor. Wie zeigen sich die 
Ergebnisse im Einzelnen?

Das Ende der bundesdeutschen Erfolgsgeschichte lässt sich vielfach belegen, am 
deutlichsten durch die Entwicklung der monatlichen Nettoeinkommen der 
privaten Haushalte. Zwischen 1993 und 2004 hat sich das Nettovermögen des 
reichsten Viertels in Westdeutschland um knapp 28 Prozent erhöht. Im ärmsten 
Viertel zeigt sich hingegen im selben Zeitraum ein dramatischer Rückgang von 
50 Prozent. In Ostdeutschland hat das Einkommen im reichsten Viertel um fast 
86 Prozent zugenommen, allerdings auf niedrigerem Niveau als im Westen, 
während das Einkommen im ärmsten Viertel um knapp 21 Prozent abnahm. Der 
aktuelle Datenreport des Statistischen Bundesamtes bescheinigt diesem Trend 
ein stabil hohes Niveau.

Weniger Freunde . . .

Bedenkt man, dass über das Einkommen nicht nur eine materielle, sondern auch 
die kulturelle Teilhabe bestimmt wird, ist es um den gesellschaftlichen 
Integrationsgrad schlecht bestellt. Wachsende Arbeitslosigkeit, die Zunahme 
atypischer Beschäftigungsverhältnisse und der gewaltige Umbau des 
sozialstaatlichen Apparats scheinen eine gefährliche Trendwende einzuleiten, 
die, so zeigen unsere Daten, sich auch in den Wahrnehmungen niederschlagen.

Waren bereits im Jahre 2002 etwa 77 Prozent der Befragten der Ansicht, dass 
immer mehr Menschen an den Rand gedrängt werden, hat sich die Zahl der 
Zustimmenden für das Jahr 2005 nochmals auf 86 Prozent erhöht. Nur rund 17 
Prozent der Befragten waren der Ansicht, dass es in dieser Gesellschaft noch 
einen großen Zusammenhalt gäbe.

Analog dazu schätzen die Menschen die Entwicklung ihrer eigenen Position in 
dieser Gesellschaft zusehends negativ ein. Der Anteil der Befragten, die 
befürchten, dass sich ihre eigene wirtschaftliche Situation in den kommenden 
Jahren verschlechtern wird, ist von 24 Prozent der Befragten im Jahr 2002 auf 
38 Prozent angestiegen. Ähnlich verläuft die Angst vor Arbeitslosigkeit. Von 
2002 auf 2005 ist der Anteil derjenigen, die große oder sehr große Angst vor 
Arbeitslosigkeit verspüren, um acht auf 29 Prozent gestiegen.

Forciert werden diese Ängste wohl durch die Einführung von Hartz IV. So 
berichten mehr als 51 Prozent der Befragten im Jahr 2005, dass sie seitdem 
mehr Angst vor einem sozialen Abstieg haben. Parallel dazu wächst das Gefühl 
der Ohnmacht. Sind es 2002 rund 57 Prozent der Befragten, die der Ansicht 
sind, keinen Einfluss darauf zu haben, was die Regierung tut, steigt der 
Anteil 2005 um fast zehn Prozent auf mehr als 66 Prozent, was zugleich einen 
starken Vertrauensverlust in das politische System markiert. Und selbst im 
sozialen Nahbereich fühlen sich die Menschen weniger aufgehoben. So vertreten 
seit 2002 konstant etwa 40 Prozent die Ansicht, dass es immer schwieriger 
werde, echte Freunde zu finden.

Die Ergebnisse zeigen also ein Konglomerat aus Angst, Unsicherheit und 
Machtlosigkeit, das von wachsender Orientierungslosigkeit begleitet wird. Für 
viele scheint eine gesellschaftliche Ordnung verloren, der Handlungsspielraum 
unübersichtlicher, die Sehnsucht nach vergangenen Zeiten erhöht. In nur drei 
Jahren hat sich der Anteil der Befragten, die der Ansicht sind, dass "früher 
alles besser war, weil man wusste, was man zu tun hatte", um 17 Prozent auf 
knapp 63 Prozent erhöht.

. . . weniger Einfluss . . .

Das Gefühl von Desintegration bezieht sich damit nicht nur auf materielle 
Aspekte. Es lässt sich in mehreren gesellschaftlichen Teilbereichen aufspüren 
und signalisiert, dass die überlebenswichtigen Anerkennungschancen knapper 
geworden sind. Aber wie verhalten sie sich zu anderen sozialen und 
ökonomischen Indikatoren?

In unserer Langzeitstudie ermitteln wir die soziale Lage über die Indikatoren 
Bildung, Einkommen und Berufsstatus. Die erste Gruppe umfasst ein Fünftel der 
Personen in oberer Soziallage. Drei Fünftel stellen die Gruppe der sozialen 
Mitte dar. Das letzte Fünftel der Personen befindet sich in unterer 
Soziallage.

Die Ergebnisse zeigen, dass Desintegrationsängste in der Bevölkerung weit 
gestreut sind und sich keinesfalls nur auf Personen der unteren Lage 
beschränken: Sie werden im Laufe der Jahre auch zunehmend von Befragten aus 
der sozialen Mitte geäußert. Objektive Indikatoren spiegeln damit nur 
teilweise die Ängste und Wahrnehmungen wieder. Ein wachsender Teil der 
Bevölkerung stuft die eigene Position am Arbeitsmarkt als prekär ein. Mehr 
als die Hälfte der Erwerbstätigen in unteren sozialen Lagen, aber auch 40 
Prozent der Befragten in mittleren Soziallagen und sogar ein Viertel in 
gehobener Position äußern große oder sehr große Angst vor Arbeitslosigkeit. 
Obwohl Personen aus der unteren sozialen Lage deutlich öfter von 
Arbeitslosigkeit betroffen sind, kann die Erfahrung allein nicht maßgeblich 
für ihre Ängste sein. Die Sorgen speisen sich vielmehr aus den 
vielschichtigen gesellschaftlichen Negativentwicklungen, die nicht zuletzt 
mit der massiven Umstrukturierung sozialstaatlicher Sicherungssysteme in 
Zusammenhang stehen.

Mehr als 65 Prozent der Personen aus unterer, knapp 50 Prozent der Personen 
aus mittlerer und mehr als ein Drittel der Personen in gehobener Lage 
konstatieren eine erhöhte Angst vor dem sozialen Abstieg seit der Einführung 
von Hartz IV. Bezogen auf die weiteren Desintegrationsängste zeigt sich, dass 
eine höhere soziale Position zwar eine Pufferwirkung bedeutet, gänzlich 
abgeschirmt bleibt aber auch sie nicht mehr. Gerade in den mittleren sozialen 
Lagen zeichnen sich zunehmende Ausgrenzungsängste ab. Das 
typische "Aufstiegsprojekt" lässt sich vielfach nicht mehr verwirklichen, und 
gleichzeitig gibt es viel schnell zu verlieren. Entsprechend fallen die 
Zukunftserwartungen aus: Mehr als die Hälfte der Personen aus unterer 
Soziallage, aber auch 43 Prozent aus mittlerer sowie knapp ein Drittel aus 
gehobener Soziallage äußern negative Zukunftserwartungen.

Die Frage nach den politischen Teilhabechancen offenbart ein noch düstereres 
Bild: Knapp 78 Prozent der Personen aus der unteren Lage und mehr als 63 
Prozent der Personen aus den mittleren Soziallagen halten sich für politisch 
einflusslos. Aus der gehobenen Lage äußern 45 Prozent diese Ansicht.

Am deutlichsten aber werden die Folgen gesellschaftlichen Wandels am Ausmaß 
der Orientierungslosigkeit. Knapp 74 Prozent der Befragten aus unterer 
Soziallage und 62 Prozent der Befragten aus mittlerer Soziallage 
finden "alles so in Unordnung geraten, dass man nicht mehr weiß, wo man 
eigentlich steht". Insbesondere die soziale Mitte gerät also ebenfalls 
zunehmend unter Druck.

Damit stellt die objektive sozioökonomische Position - lange Zeit ein Hinweis 
für gesellschaftliche Teilhabe - allenfalls ein grobes Maß für die 
Wahrnehmung der eignen Desintegration dar. Denn die Orientierungslosigkeit, 
so zeigen statistische Analysen, speist sich nicht nur aus der 
wirtschaftlichen und sozialen Lage, sondern insbesondere aus den negativen 
Wahrnehmungen und Einschätzungen, die nicht länger nur in den unteren Lagen 
vorkommen. In diesen Ängsten spiegeln sich auch die Reaktionen auf wachsende 
Anforderungen, abnehmende Handlungssicherheiten sowie zunehmende 
Erfahrungsverluste.

Die aktuelle Debatte um die "Unterschicht" und ihre besondere Ausprägung in 
Ostdeutschland ist nicht in der Lage, die seit längerem existierenden 
Verschiebungen und ihre Ursachen angemessen aufzunehmen. Sie müsste sich 
vielmehr darauf konzentrieren, dass ein globalisierter und härter gewordener 
Kapitalismus keine soziale Integration erzeugt und nationalstaatliche Politik 
offensichtlich einen Kontrollverlust hinnehmen muss, also entweder nicht 
bereit oder nicht in der Lage ist, dagegen zu steuern.

. . . mehr Feinde

Die beschriebenen, tiefsitzenden Desintegrationsängste besonders im Osten 
werden daher von enorm gestiegener Orientierungslosigkeit flankiert. Viele 
Menschen wissen nicht mehr, nach welchen Regeln in dieser Gesellschaft 
gespielt wird: Das fängt bei der schlichten Frage an, nach welcher Logik 
Unternehmen hohe Gewinne einstreichen, aber zugleich angeben, Tausende 
Mitarbeiter entlassen zu müssen.

Zudem wird oft nicht zu Ende gedacht, welche Folgen aus den derzeitigen 
gesellschaftlich-ökonomischen Entwicklungen für das politische und soziale 
Klima in dieser Gesellschaft entstehen und zwar jenseits von 
NPD-Wahlerfolgen. Diese stellen nur ein relativ kleines Problem dar 
verglichen mit einer weiterreichenden Tendenz zu einer inhumanen 
Gesellschaft. Diese zeigt sich im Umgang mit schwachen Gruppen und drückt 
sich beispielsweise in Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus oder der 
Abwertung von Obdachlosen aus. Die Ergebnisse aus unserer Studie zeigen, dass 
insbesondere fremdenfeindliche und islamophobe Einstellungen sowie die 
Einforderung von Etabliertenvorrechten - "Wir waren zuerst da, unsere 
Ansprüche sind am wichtigsten!" - in der deutschen Bevölkerung zugenommen 
haben.

Es ist die Kombination von Desintegrationsängsten und Orientierungslosigkeit, 
die die feindseligen Mentalitäten in allen sozialen Lagen - und in jüngster 
Zeit eben deutlicher auch in der politischen Mitte - hervorbringt und 
verstärkt. Wenn man die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung nur mit Blick auf 
die typischen NPD-Wähler im Osten liest, lenkt dies von viel gewichtigeren 
Verschiebungen in der politischen Mitte der Bundesrepublik ab. Die Mitte 
trägt schließlich aufgrund ihrer Breite wesentlich zur Erzeugung von 
Normalitäten, also auch von feindseligen Normalitäten bei.

Es geht also um mehr als um materielle Versorgung. Die Integrationsfähigkeit 
dieser Gesellschaft steht für Teile der Mehrheit wie für Minderheiten schon 
seit längerem auf dem Spiel und damit auch die Akzeptanz demokratischer 
Prinzipien.

Wilhelm Heitmeyer leitet das Institut für Interdisziplinäre Konflikte und 
Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Sandra Hüpping ist 
wissenschaftliche Mitarbeiterin. Die Ergebnisse der oben erwähnten Studie 
werden jedes Jahr in der Reihe "Deutsche Zustände" im Suhrkamp-Verlag 
veröffentlicht.

Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.243, Samstag, den 21. Oktober 2006 , Seite 13
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