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[chox] TELEPOLIS: Luftbuchungen der freien Softwareszene



Dieser TELEPOLIS Artikel wurde Ihnen
von Stefan Meretz <stefan.meretz hbv.org> gesandt.

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Luftbuchungen der freien Softwareszene

Marcus Hammerschmitt   21.06.2004 

Der Glaube an die GPL-Gesellschaft aus dem Geiste der freien Software 
ist ein religiöser 

Mit der freien Software verbinden sich große Hoffnungen. Aber je lauter 
diese Hoffnungen beschworen werden, desto deutlicher wird auch, dass 
sie von einer haarsträubenden Naivität getragen sind, die sich um 
historische Erfahrungen und reale gesellschaftliche Machtverhältnisse 
nicht im Mindesten kümmert. 

Eben Moglen zum Beispiel hat jüngst während der Wizards of Oz-Konferenz 
(vgl.  Free Society: Von der Utopie zum Alltag [1]) wieder Behauptungen 
geäußert, die nur knapp an der Idee vorbeischrammen, die freie Software 
mache unmittelbar den Weg ins Paradies frei. Enthusiasmus in allen 
Ehren, aber wenn das die ideologische Marschrichtung für die Zukunft 
der freien Software sein sollte, wird der Katzenjammer größer sein als 
beim Platzen der Dotcom-Blase. Ein paar kritische Anmerkungen. 

Abstrakter Freiheitsidealismus und konkrete Unterdrückung 

Schon allein der inflationäre Gebrauch des Adjektivs "frei" im 
Zusammenhang mit Software sollte Verdacht erregen. In unserer, der 
"freien" Welt, ist alles mögliche frei. Die freiheitlich-demokratische 
Grundordnung, die FPÖ so wie die freien Waldorfschulen kümmern sich 
alle um ihr spezielles Konzept von Freiheit. Bei genauerer Untersuchung 
bleibt in vielen Fällen wenig davon übrig. 

Wenn man George W. Bush glaubt, dann er ist von Beruf Freiheitskämpfer, 
studentische Burschenschaften singen bei ihren Mai-Aufzügen gerne das 
Lied von der Freiheit der Gedanken und sind doch eines der krassesten 
Beispiele für überkommene Formen der Unfreiheit, das sich denken lässt. 
Überspitzt gesagt könnte man behaupten, dass in unserer Gesellschaft 
Freiheit vor allem dann beschworen wird, wenn es um das Gegenteil geht. 
Die Anhänger der freien Software mögen es nicht wahr haben wollen, aber 
die freie Software ist dabei, sich zu einem weiteren Beispiel dafür zu 
entwickeln, dass sich abstrakter Freiheitsidealismus bestens mit 
konkreter Unterdrückung versteht. 

In der Szene verwechselt man allzu oft die Risszeichnung einer Sache 
mit der Sache selbst. Ich kann mich sehr gut an eine Diskussion bei Out 
of this World II (vgl.  Der Kongress diskutierte [2]) vor zwei Jahren 
erinnern, als begeisterte Fans genau wie Moglen jetzt wieder 
behaupteten, die  GPL-Gesellschaft [3] stehe kurz bevor. 

Mittlerweile gebe es sogar recht weit gediehene Pläne für "free cars". 
Als ein skeptischer Diskussionsteilnehmer fragte, ob die 
Eisenerzverhüttung und die Erdölgewinnung auch im Begriff seien, in 
Gemeineigentum überzugehen, herrschte Stille. Kant hat in der "Kritik 
der reinen Vernunft" gegen den ontologischen Gottesbeweis Stellung 
bezogen, der behauptet, Gott sei existent, weil er denkbar sei. Er 
wirft den Vertretern dieses Arguments entgegen, dass einhundert 
gedachte Taler noch lange keine einhundert wirklichen Taler seien, 
Ähnliches gilt für die Luftschlösser, an denen Leute wie Moglen 
herumkonstruieren. Das Wichtige an der Analogie zu Kants Rede von den 
gedachten Talern ist, dass Kant mit ihr einen zu Existenzaussagen 
geronnenen Glauben kritisiert, der sich nicht um Tatsachen schert. Der 
Glaube an die GPL-Gesellschaft aus dem Geiste der freien Software ist 
ein religiöser. 

Man kann nicht gleichzeitig den Markt anerkennen und seine Folgen 
leugnen 

Der Ort, an dem in unserer Gesellschaft Waren und Dienstleistungen in 
Hände und Gebrauch der Konsumenten übergehen, ist der Markt. 
Bekanntermaßen ist der Zugang zum Markt und die Möglichkeit, dort zu 
bestehen, also zu kaufen und zu verkaufen, nicht für alle gegeben, und 
für diejenigen, die dorthin vordringen, nicht in gleichem Maß. Aber 
selbst wenn dem so wäre, würde die Konkurrenz der Anbieter über kurz 
oder lang für Sieger und Gewinner sorgen, unabhängig von der Qualität 
der angebotenen Produkte und Dienstleistungen. In diesem Umfeld ist 
Microsoft groß geworden. Man kann das bedauern oder begrüßen (ich 
bedaure es), aber man kann nicht gleichzeitig den Markt anerkennen und 
seine Folgen leugnen. 

Das Marktspiel ist gnadenlos. Wer gegen Mike Tyson boxen will, muss die 
zentralen Qualitäten Mike Tysons in den Ring mitbringen. Wer Microsoft 
im Rahmen unserer Gesellschaftsordnung Paroli bieten will, muss nach 
den Regeln spielen, nach denen Microsoft groß geworden ist, sich 
verhalten wie Microsoft, und, von kosmetischen Unterschieden abgesehen, 
auch aussehen wie Microsoft. Die Marktführer unter den Leuten, die 
Linux in ihren "Distributionen" (das heißt in vermarktbarer Form) 
unters Volk bringen, haben das längst begriffen. 

Die Community offenbar noch nicht. Sie glaubt immer noch, dass ihr 
schönes Spielzeug von allein die größten Wunderdinge vollbringt, 
während es ihnen nicht nur vom Staat aus der Hand genommen wird ( vgl. 
 Die Arbeit der E-Hippies [4]), sondern vor allem von denen, die daraus 
einen Markenartikel machen. Das Microsoft-Monopol wird bald 
verschwinden? Keine Sorge, es findet sich schon ein anderes. 

Von der Konsumentenseite her sieht es nicht besser aus. Sich mit den 
Innereien von Betriebssystemen zu beschäftigen ist ein Luxus, den sich 
die meisten Menschen weder leisten können noch wollen, unter anderem 
deswegen, weil sie aufgrund von Lohnabhängigkeit oder anderen 
limitierenden Faktoren keine Gelegenheit dazu haben. Zu dem Zeitpunkt, 
da ein marktförmig gemodeltes Linux mit Windows ernsthaft konkurrieren 
kann, wird es Windows nicht nur bis auf Feinheiten gleichen - so wie 
die Firmen, die es verkaufen, Microsoft gleichen werden. 

Das selbst aus dem Internet gezogene und in Eigenarbeit 
zurechtgeschnitzte Linux wird dann in etwa denselben Stellenwert und 
dieselbe revolutionäre Bedeutung haben, wie die selbstgedrehte 
Zigarette für die Tabakindustrie. Aber natürlich erst, nachdem 
Microsoft und seine "freien Konkurrenten" den Mythos von Freiheit, 
Abenteuer und Selbstbestimmung, für den die freie Software einst 
gestanden ist, bis zum Letzten werbetechnisch ausgepresst haben. Das 
würde Microsoft nie tun? In der Not  frisst [5] der Teufel Fliegen. 
Wenn IBM Mythos und Know-How der freien Software für seine Zwecke 
appropriieren kann, kann Microsoft das schon  lange [6]. 

Das Grenzkosten-Argument 

Ein Musterbeispiel für die Unredlichkeit, mit der Gurus der Szene wie 
Moglen operieren, ist sein  Gebrauch [7] des Begriffs "Grenzkosten": 

 Worum es jetzt geht, sind Produkte, die keinerlei Grenzkosten 
verursachen: Die millionste Kopie einer bestimmte Software kostet 
genauso viel wie die erste. Wenn man diese Software einmal hergestellt 
hat, kann sie jeder haben.   

Es mag ja sein, dass die freie Software den mathematischen 
 Abstraktionen [8] des ökonomischen  Marginalismus [9] bis ins Detail 
entspricht. Nur leider sind es Abstraktionen, die mit der Realität 
wenig zu tun haben. Selbstverständlich verursachen Herstellung, 
Bereithaltung, Vertrieb und Gebrauch freier Software reale Kosten, und 
zwar Datei für Datei, Download für Download, Session für Session. 

Das bedeutet, dass diejenigen auf der Abnehmerseite, die diese Kosten 
nicht aufbringen können, davon ausgeschlossen sein werden, und dass 
diejenigen auf der Anbieterseite das Spiel gewinnen, die in Herstellung 
und Vertrieb die besagten Kosten am cleversten vermeiden. Das heißt: 
ihre Mitarbeiter am effektivsten ausbeuten, die Kunden am 
geschicktesten über den Tisch ziehen, am nachhaltigsten öffentliche 
Unterstützung in Form von direkten und indirekten Subventionen 
mobilisieren. Sie sollten auch in der Lage sein, ihre Mitbewerber zu 
vernichten und folgenlos Gesetze zu umgehen oder zu brechen, die sie 
bei ihrem fröhlichen Tun behindern. Klingt das bekannt? 

Die Luftbuchungen der freien Softwareszene erinnern beklemmend an 
andere Projekte zur ansatzweisen Gesellschaftsveränderung, die schon 
immer chancenlos waren, wie zum Beispiel die ökologische 
Landwirtschaft, Ersatzgeldexperimente und Tauschringe, Reformpädagogik 
und anderes. All diesen Bemühungen ist gemein, dass sie grundlegende 
gesellschaftliche Machtverhältnisse und ihre Ursachen leugnen, um daran 
zu scheitern. Sie beruhen auf einem Inseldenken, auf der Vorstellung, 
man könne sofort und ohne grundsätzliche Veränderung der entscheidenden 
Umstände Oasen des Guten in einer zu Recht verabscheuten Wüste des 
Schlechten schaffen. Da sie sich außerstande sehen, das Klima zu 
ändern, wird das Wasser nie reichen. 

Enteignung und Zerschlagung Microsofts? 

Über die Qualität der Ansätze an sich sagt das noch wenig, sie reicht 
vom absolut Niederträchtigen bis zum partiell Unterstützenswerten. Und 
es bedeutet natürlich nicht, dass die freie Software als Ganzes nichts 
taugt und am besten sofort aufgegeben würde. Sie wird schöne Lösungen 
finden für Probleme, für die sich Firmen wie Microsoft nicht 
interessieren. Sie wird Helden hervorbringen. Sie wird verblüffend 
sein. Nur wird sie nicht die Heils- und Erlösungswirkung entfalten, die 
ihr Apostel wie Moglen unbedingt andichten wollen. 

Die unmittelbare politische Forderung aus der Erkenntnis, dass die 
Revolution qua freier Software ausfallen wird, wäre natürlich die nach 
der Enteignung und Zerschlagung Microsofts. Nahezu alle Probleme, die 
mit Windows zusammenhängen, könnten durch einen Übergang des Quellcodes 
in Gemeineigentum gelöst werden. Der Firma die Möglichkeit zu nehmen, 
mit ihren finanziellen Ressourcen auf die eine oder andere Weise durch 
die Hintertür wieder ihre alte Macht zu erlangen, wäre die passende 
Begleitmaßnahme. Utopisch? Sicher. 

Und es gibt in diesem Land ja einen guten Präzedenzfall für das 
Scheitern einer Kampagne, die etwas ansatzweise  Ähnliches [10] wollte: 
"Enteignet Springer". 

Der Versuch der APO, das Macht- und Meinungsmonopol der Springer-Presse 
zu brechen, musste scheitern. Aber er setzte wenigstens an einer echten 
Ursache an. Das noch viel nachhaltigere Scheitern einer Insellösung 
gegen die Springerpresse kann an der Geschichte der taz beobachtet 
werden. Wenn nicht eine völlige Neupositionierung der freien 
Softwareszene zustande kommen sollte, kann sie sich die Zukunft ihrer 
Projekte an der Gegenwart der taz anschauen: dasselbe noch einmal in 
rot-grün (vgl.  Im Seichten kann man nicht ertrinken [11]). 

Oder sie könnte Peter Bichsel lesen. Der Schweizer Autor schrieb 1975 
einen sehr klarsichtigen Text 1 , in der er die Windmühlenkämpfe von 
Schweizer Modernisten gegen die bürgerliche Ästhetik der Fünfziger 
Jahre und für moderne Kunst nachzeichnet. 

  Die Fronten waren klar. Ein Nierentisch oder helle Eschenmöbel 
genügten als Ausweis für unsere Seite - ein Schritt in eine Wohnung, 
und man wusste, ob man sich bei Freund oder Feind befand. Wer für 
Picasso war, hatte unser Vertrauen, unabhängig davon, woher sein Geld 
für den Picasso kam; viel Geld übrig zu haben für Kunst galt als 
humanitär. Hitler war gegen moderne Kunst, das wussten wir, und 
insofern kamen unsere Gegner in ein schiefes Licht, und unser Kampf 
erschien uns politisch - wir hatten den Dreh gefunden, die Weit zu 
verändern, und sahen das Elend der Welt in einer großen Aargauer 
Möbelfirma und ihr Heil in Bauhaus, Beton und Flachdach. Nun sitzen wir 
auf einem Stapel alter Modern-Jazz-Platten, sind betrogen und wissen 
nicht einmal, von wem. Es sind keine Schuldigen zu finden, so gern ich 
auch das jemandem in die Schuhe schieben möchte. Dahinter lag nun 
offensichtlich - und Marxisten mögen das mit Recht bezweifeln - nicht 
die geringste Absicht. Kunst ist was Bürgerliches, und wir haben mit 
unsern nächtelangen erhitzten Diskussionen das Geschäft der 
Bürgerlichen betrieben. Mit bürgerlicher Unterstützung vermeintlich 
gegen den Bürger gekämpft, unter dem Arm Ortegas ?Aufstand der Massen" 
als Dienstreglement.   

Wenn man wollte, könnte man die Stimmigkeit der Analogie bis in feine 
Verästelungen hinein nachweisen (vor allem im Zusammenhang mit der 
diagnostizierten "Bürgerlichkeit"), aber sie ist ja auch so deutlich 
genug. Zum Zeitpunkt, da Bichsel den Katzenjammer seiner Generation so 
unnachahmlich beschrieb, bestand die große Aargauer Möbelfirma noch, 
gegen die sich die ästhetische Revolte von damals gerichtet hatte. Ob 
Microsoft als Firma ein genau so großes Stehvermögen hat, wird sich 
zeigen. Die Prognosen für das System Microsoft sind leider 
ausgezeichnet - und daran ist auch die Blauäugigkeit seiner Gegner 
schuld. 

Literaturangaben

1) "Die ästhetische Revolution" in: Peter Bichsel, Geschichten zur 
falschen Zeit, Sammlung Luchterhand 1981, S. 24 - 26 

Links 

[1] http://www.heise.de/tp/deutsch/special/wos/17636/1.html
[2] http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/konf/12662/1.html
[3] http://www.oekonux.de/texte/zukunft/inhalt.html
[4] http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/mein/16590/1.html
[5] http://www.golem.de/[PHONE NUMBER REMOVED].html
[6] http://www.netzeitung.de/internet/282886.html
[7] http://www.netzeitung.de/voiceofgermany/290701.html
[8] http://www.net-lexikon.de/Grenzkosten.html
[9] 
http://www.unister.de/Unister/wissen/sf_lexikon/ausgabe_stichwort9170_17
.html
[10] 
http://www.aberhallo.de/lexikon/index.php/Bild-Zeitung#Enteignet_Springe
r%21_%26ndash%3B_BILD_und_die_Studentenunruhen
[11] http://www.heise.de/tp/deutsch/special/med/17220/1.html

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http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/mein/17676/1.html 

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