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Message 00716 [Homepage] [Navigation]
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[chox] knast wg. adorno?



In den Knast für Adorno?

Jan Philipp Reemtsma besitzt die Urheberrechte an zwei Adorno-Schriften. Ein
Student hat sie im Internet veröffentlicht - und Post von Reemtsmas Anwälten
bekommen. Souverän ist das nicht

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Sebastian Lütgert meint schon, dass es sich immer noch lohnt, Adorno zu
lesen. Aber in den Knast gehen möchte er dafür denn doch nicht. Immerhin ist
Teddy schon ziemlich lange tot, und, nun ja, reden wir nicht über den Jazz.

Lütgert jedenfalls hat keine Lust, den Helden irgendeiner Idee zu spielen,
er wohnt in Berlin und manchmal in New York, wo er Freunde hat. So könnte
sein Leben gar nicht nur schlecht sein in all dem Falschen, das natürlich
trotzdem niemals zu übersehen und ständig zu kritisieren ist, weswegen ein
wenig Adorno nie schaden kann. Meint Lütgert.

Aber er irrt sich. Er muss vielleicht doch in den Knast. Nach Plötzensee,
weil er kein Geld hat, die teuersten Anwälte von Hamburg zu bezahlen. Denn
auch Jan Philipp Reemtsma, Vorstandsvorsitzender der Hamburger Stiftung zur
Förderung von Wissenschaft und Kultur, meint, dass sich Adorno lohnt. Nicht
sicher ist, ob er meint, es lohne sich, ihn zu lesen, ganz sicher aber meint
er, dass es sich lohnt, ihn zu besitzen.

Reemtsma besitzt zwei Texte des Philosophen, nämlich die Aufsätze "Jargon
der Eigentlichkeit" (lesenswerte Polemik gegen Heideggerianer) und
"Anti-Semitism and Fascist Propaganda" (Pflichtlektüre für CDU-Mitglieder,
bevor sie Holocaust-Gedenkreden halten). Reemtsma besitzt sie im Sinne des
Urheberrechts. Niemand darf sie veröffentlichen, wenn er es nicht erlaubt.

Nun betreibt Sebastian Lütgert einen Webserver, auf dem hunderte von Texten
gespeichert sind, damit man sie im Internet lesen kann. Man kann sie auch
kopieren. Besitzen kann man sie nicht.

Es sind Texte von Denkern und Literaten aller Art, auch eher von unbekannten
Autoren. Durchweg von hohem intellektuellen Anspruch, all das eben, was der
Mensch so braucht zum Denken. Lütgert ist für diese Website schon oft gelobt
worden. Sie ist eine der wenigen, die tatsächlich das leistet, was vom
Internet immer nur behauptet wird: Sie erschließt Wissen, macht es
zugänglich, nützlich. Jan Philipp Reemtsma braucht keine solche Website. Er
kann sich das Wissen kaufen.

Trotzdem hat er sie entdeckt und festgestellt, dass dort auch seine beiden
Adornos zu haben waren. Eigentlich nur zu lesen, aber das ist für ihn eins.
Seine Anwaltskanzlei Senfft, Kersten, Voss-Andrea & Schwenn haben umgehend
einen Brief an die Berliner Postadresse von Sebastian Lütgert geschickt. Der
war aber gerade in New York, und so verstrich die Frist von fünf Tagen, die
sie ihm gesetzt hatten, ohne dass er auch nur ahnte, dass Reemtsma ihm seine
Adornos verbot.

Lütgert mag sich nicht auf dem Niveau von Reemtsma und Senfft über
Rechtsfragen streiten. Er nahm die beiden Texte vom Server, sobald er den
Brief gelesen hatte. Nur war inzwischen die Rechnung für das in Abwesenheit
des Beschuldigten eröffnete förmliche Gerichtsverfahren mit Ordnungsstrafen
und Anwaltsgebühren aufgelaufen: 3.021 Euro.

Eine Unsumme für Adorno in jedem Sinn. Denn so viel hat Lütgert einfach
nicht, für Reemtsma wiederum ist das so gut wie nichts. Die Rechnung blieb
offen, die Anwälte bestellten den Gerichtsvollzieher, um notfalls die
Ersatzhaft zu erzwingen. Lütgert wusste sich nicht mehr zu helfen und bat
schließlich Reemtsma persönlich um Hilfe. Der Streit war ja nie aus bösem
Willen entstanden, also möge man ihm doch in Adornos Namen die
Gerichtsschulden erlassen. Ein Stipendium in derselben Höhe wäre jedenfalls
der Sache dienlicher als ein Aufenthalt im Gefängnis, schrieb Lütgert
freundlich, wenn auch nicht ohne Ironie: "Welche Gegenleistungen ich zu
erbringen hätte, würde ich gerne mit Ihnen besprechen."

Würde Reemtsma Adorno lesen und nicht nur besitzen, hätte er einen
erfreulichen Fall von Systemresistenz erkennen müssen. Ein autoritärer
Charakter ist Lütgert zweifellos nicht, und Reemtsma hätte ihn allein
deswegen schon mindestens zum Kaffee einladen müssen. Um wenigstens über
Adorno zu reden. Oder über das Internet und den E-Mail-Verkehr, der in der
Kanzlei Senfft nicht bekannt ist. Denn eine E-Mail hätte ihn immer erreicht,
auch in New York, sagt Lütgert. Er hat in etlichen anderen Fällen
Abmahnungen von Verlagen sofort Folge geleistet. Nur waren die per E-Mail
gekommen, über das Internet, in dem auch der angebliche Rechtsverstoß
stattfand.

Aber Reemtsma schreibt keine Mails und liest keinen Adorno. Er besitzt nur
Papiere. Von Walter Benjamin zum Beispiel. Dafür will er in Berlin demnächst
ein Museum eröffnen. Damit man sieht, was er hat. Lesen? Online? Niemals.
Lütgert bekam keine Antwort von Reemtsma, sondern noch einen Brief von
Senfft und Partner, der ihm eine Gnadenfrist bis zum 23. Februar setzt. Wenn
er dann nicht zahlt, muss er in den Knast.
Für Adorno und dafür, dass Jan Philipp Reemtsma, der große Förderer des
kritischen Denkens und stets zur Stelle, wenn es darum geht, die Gegenwart
von bösen Schatten der deutschen Vergangenheit zu reinigen, zwei seiner
Texte besitzt. Für sich selbst hofft Lütgert noch, dass ihm Freunde das Geld
irgendwie besorgen können. Seine Website ist weiterhin unter www.textz.org
zu erreichen.


taz Nr. 7292 vom 24.2.2004, Seite 16, 173 Zeilen (Kommentar), NIKLAUS
HABLÜTZEL,


 


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