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[chox] für adorno in den knast



Am Aschermittwoch morgen sieht die Welt sehr ernüchternd aus
Franz

Die Tageszeitung, Berlin, 24. Februar 2004

In den Knast für Adorno?

Jan Philipp Reemtsma besitzt die Urheberrechte an zwei Adorno-Schriften.
Ein
Student hat sie im Internet veröffentlicht - und Post von Reemtsmas
Anwälten
bekommen. Souverän ist das nicht

Von Niklaus Hablützel

Sebastian Lütgert meint schon, dass es sich immer noch lohnt, Adorno zu
lesen.
Aber in den Knast gehen möchte er dafür denn doch nicht. Immerhin ist Teddy
schon ziemlich lange tot, und, nun ja, reden wir nicht über den Jazz.

Lütgert jedenfalls hat keine Lust, den Helden irgendeiner Idee zu spielen,
er
wohnt in Berlin und manchmal in New York, wo er Freunde hat. So könnte sein
Leben gar nicht nur schlecht sein in all dem Falschen, das natürlich
trotzdem
niemals zu übersehen und ständig zu kritisieren ist, weswegen ein wenig
Adorno
nie schaden kann. Meint Lütgert.

Aber er irrt sich. Er muss vielleicht doch in den Knast. Nach Plötzensee,
weil
er kein Geld hat, die teuersten Anwälte von Hamburg zu bezahlen. Denn auch
Jan
Philipp Reemtsma, Vorstandsvorsitzender der Hamburger Stiftung zur
Förderung von
Wissenschaft und Kultur, meint, dass sich Adorno lohnt. Nicht sicher ist,
ob er
meint, es lohne sich, ihn zu lesen, ganz sicher aber meint er, dass es sich
lohnt, ihn zu besitzen.

Reemtsma besitzt zwei Texte des Philosophen, nämlich die Aufsätze "Jargon
der
Eigentlichkeit" (lesenswerte Polemik gegen Heideggerianer) und
"Anti-Semitism
and Fascist Propaganda" (Pflichtlektüre für CDU-Mitglieder, bevor sie
Holocaust-Gedenkreden halten). Reemtsma besitzt sie im Sinne des
Urheberrechts.
Niemand darf sie veröffentlichen, wenn er es nicht erlaubt.

Nun betreibt Sebastian Lütgert einen Webserver, auf dem hunderte von Texten
gespeichert sind, damit man sie im Internet lesen kann. Man kann sie auch
kopieren. Besitzen kann man sie nicht.

Es sind Texte von Denkern und Literaten aller Art, auch eher von
unbekannten
Autoren. Durchweg von hohem intellektuellen Anspruch, all das eben, was der
Mensch so braucht zum Denken. Lütgert ist für diese Website schon oft
gelobt
worden. Sie ist eine der wenigen, die tatsächlich das leistet, was vom
Internet
immer nur behauptet wird: Sie erschließt Wissen, macht es zugänglich,
nützlich.
Jan Philipp Reemtsma braucht keine solche Website. Er kann sich das Wissen
kaufen.

Trotzdem hat er sie entdeckt und festgestellt, dass dort auch seine beiden
Adornos zu haben waren. Eigentlich nur zu lesen, aber das ist für ihn eins.
Seine Anwaltskanzlei Senfft, Kersten, Voss-Andrea & Schwenn haben umgehend
einen
Brief an die Berliner Postadresse von Sebastian Lütgert geschickt. Der war
aber
gerade in New York, und so verstrich die Frist von fünf Tagen, die sie ihm
gesetzt hatten, ohne dass er auch nur ahnte, dass Reemtsma ihm seine
Adornos
verbot.

Lütgert mag sich nicht auf dem Niveau von Reemtsma und Senfft über
Rechtsfragen
streiten. Er nahm die beiden Texte vom Server, sobald er den Brief gelesen
hatte. Nur war inzwischen die Rechnung für das in Abwesenheit des
Beschuldigten
eröffnete förmliche Gerichtsverfahren mit Ordnungsstrafen und
Anwaltsgebühren
aufgelaufen: 3.021 Euro.

Eine Unsumme für Adorno in jedem Sinn. Denn so viel hat Lütgert einfach
nicht,
für Reemtsma wiederum ist das so gut wie nichts. Die Rechnung blieb offen,
die
Anwälte bestellten den Gerichtsvollzieher, um notfalls die Ersatzhaft zu
erzwingen. Lütgert wusste sich nicht mehr zu helfen und bat schließlich
Reemtsma
persönlich um Hilfe. Der Streit war ja nie aus bösem Willen entstanden,
also
möge man ihm doch in Adornos Namen die Gerichtsschulden erlassen. Ein
Stipendium
in derselben Höhe wäre jedenfalls der Sache dienlicher als ein Aufenthalt
im
Gefängnis, schrieb Lütgert freundlich, wenn auch nicht ohne Ironie: "Welche
Gegenleistungen ich zu erbringen hätte, würde ich gerne mit Ihnen
besprechen."

Würde Reemtsma Adorno lesen und nicht nur besitzen, hätte er einen
erfreulichen
Fall von Systemresistenz erkennen müssen. Ein autoritärer Charakter ist
Lütgert
zweifellos nicht, und Reemtsma hätte ihn allein deswegen schon mindestens
zum
Kaffee einladen müssen. Um wenigstens über Adorno zu reden. Oder über das
Internet und den E-Mail-Verkehr, der in der Kanzlei Senfft nicht bekannt
ist.
Denn eine E-Mail hätte ihn immer erreicht, auch in New York, sagt Lütgert.
Er
hat in etlichen anderen Fällen Abmahnungen von Verlagen sofort Folge
geleistet.
Nur waren die per E-Mail gekommen, über das Internet, in dem auch der
angebliche
Rechtsverstoß stattfand.

Aber Reemtsma schreibt keine Mails und liest keinen Adorno. Er besitzt nur
Papiere. Von Walter Benjamin zum Beispiel. Dafür will er in Berlin
demnächst ein
Museum eröffnen. Damit man sieht, was er hat. Lesen? Online? Niemals.
Lütgert
bekam keine Antwort von Reemtsma, sondern noch einen Brief von Senfft und
Partner, der ihm eine Gnadenfrist bis zum 23. Februar setzt. Wenn er dann
nicht
zahlt, muss er in den Knast.

Für Adorno und dafür, dass Jan Philipp Reemtsma, der große Förderer des
kritischen Denkens und stets zur Stelle, wenn es darum geht, die Gegenwart
von
bösen Schatten der deutschen Vergangenheit zu reinigen, zwei seiner Texte
besitzt. Für sich selbst hofft Lütgert noch, dass ihm Freunde das Geld
irgendwie
besorgen können. Seine Website ist weiterhin unter www.textz.org zu
erreichen.

http://www.taz.de/pt/2004/02/24/a0195.nf/text

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