Die hier archivierte Mail kann, muss sich aber nicht auf den Themenkomplex von Oekonux beziehen.
Insbesondere kann nicht geschlossen werden, dass die hier geäußerten Inhalte etwas mit dem Projekt Oekonux oder irgendeiner TeilnehmerIn zu tun haben.
| Message 00559 | [Homepage] | [Navigation] | |
|---|---|---|---|
| Thread: choxT00559 Message: 1/1 L0 | [In date index] | [In thread index] | |
| [First in Thread] | [Last in Thread] | [Date Next] | [Date Prev] |
| [Next in Thread] | [Prev in Thread] | [Next Thread] | [Prev Thread] |
Dieser TELEPOLIS Artikel wurde Ihnen
von Helmuth Supik <helmuth.s gmx.li> gesandt.
----------------------------------------------------------------------
Nach dem Gipfel ist vor dem Gipfel
Wolfgang Kleinwächter 16.12.2003
Die Genfer WSIS-Deklaration enthält zwar nur vage Grundsätze, aber
dennoch fand eine Bewegung in wesentlichen Dingen statt und es wurde
zusammen mit einem neuen globalen Problembewusstsein auch ein
neuartiges globales Forum geschaffen
Die erste Phase des Weltgipfels zur Informationsgesellschaft (
WSIS [1]) ist vorbei. Die 14.352 registrierten Teilnehmer sind nach
Hause gefahren. Die angenommenen Dokumente [2] sind ins Internet
gestellt. Und die Beobachter fragen sich, was hat die Bergbesteigung
denn nun wirklich gebracht? Sucht man nach konkreten Resultaten, wird
man kaum fündig. Außer Spesen also nichts gewesen? Oder war da noch
was?
Schaut man aus der Froschperspektive auf die WSIS-Konferenz, dann ist
zweifelsohne die landläufig zu vernehmende Kritik an den
verabschiedeten Regierungs-Dokumenten berechtigt. Sie sind vage und
unverbindlich. Die Cyberwelt sieht nach dem Gipfel nicht viel anders
aus als zuvor. Und der digitale Graben ist nicht flacher geworden.
Schaut man aber aus der Vogelperspektive auf den mühsamen Aufstieg zum
Genfer Gipfel, dann entdeckt man, dass sich einige wesentliche Dinge
zwischen Minneapolis 1998, als die Veranstaltung beschlossen wurde, und
Genf 2003 bewegt haben.
Neues globales Problembewusstsein
Geändert hat sich vor allem das öffentliche Bewusstsein zum Thema
Informationsgesellschaft. 1998, im Sog des Dot-Com-Booms, war das Thema
primär auf die Faszination der technologischen Revolution, auf die
kommerziell verwertbaren Aspekte und die digitale Spaltung fixiert. Ein
Thema für Experten, Techniker, Risikokapitalinvestmentbanker und
niedere Beamte in Wirtschafts- und Entwicklungshilfeministerien.
Der Genfer Gipfel hat das Thema in den großen weltpolitischen Kontext
des 21. Jahrhunderts gestellt. In Genf ging es nicht um die
"Informationsrevolution", es ging um die Gesellschaft, die sich darauf
zu konstituieren beginnt. Zu den politischen und wirtschaftlichen
Interessen, die sich 1998 abzeichneten, kamen gesellschaftliche und
kulturelle Werte. Das machte die Verhandlungen so schwierig, weil es
eben leichter ist, einen Interessenausgleich zu erreichen als sich über
Wertvorstellungen zu verständigen. Das rückte aber das Thema auch vom
Rand der globalen Politik mehr ins Zentrum.
Die WSIS-Deklaration sagt in ihrem ersten Paragraphen, welche
Informationsgesellschaft man denn aufbauen wolle.
We, the representatives of the peoples of the world, declare our
common desire and commitment, to build a people-centred, inclusive and
development-oriented Information Society, where everyone can create,
access, utilize and share information and knowledge, enabling
individuals, communities and peoples to achieve their full potential in
promoting their sustainable development and improving their quality of
life, premised on the purposes and principles of the Charter of the
United Nations and respecting fully and upholding the Universal
Declaration of Human Rights.
Den Menschen in den Mittelpunkt und das Schaffen, den Zugang und den
Austausch von Informationen und Wissen ins Zentrum zu rücken, sind sehr
noble, aber leider auch sehr allgemeine Zielsetzungen und
Formulierungen. Sie haben es aber dennoch in sich. Der hohe
Abstraktionsgrad bietet ein nicht zu unterschätzendes
Referenzpotential. Man denke nur an die langfristigen Wirkungen von
ähnlichen Dokumenten wie der UN-Menschenrechtsdeklaration von 1948 oder
der KSZE-Schlussakte von 1975. Erst Jahre später merkte man, was solche
allgemeinen Formeln tatsächlich bewirken.
Die Zivilgesellschaft hatte sich vom ersten Tag der PrepCom1 (Juni
2002) gegen eine technokratische oder bürokratische
Informationsgesellschaft gewandt und eine "Informationsgesellschaft mit
menschlichen Antlitz" eingefordert. Der stete Tropfen aus den
unendlichen Quellen der globalen Zivilgesellschaft höhlte
offensichtlich den Stein, der nun ein Meilenstein ist, an dem sich
zukünftige Entwicklungen messen lassen müssen.
Neues globales Verhandlungsforum
Ein zweites, nicht sofort sichtbares Resultat, ist die Tatsache, dass
WSIS einen Prozess in Gang gesetzt hat, der die Grundfragen der
Informationsgesellschaft zum Thema globaler Verhandlungen für das
nächste Jahrzehnt gemacht hat. Bei allen fünf WSIS-Themen geht es um
Grundsätzliches. Beim "Digitalen Solidaritätsfonds" geht es ums Geld,
bei "Internet Governance" um Macht, beim "geistigem Eigentum" um
Wissen, bei "Cybersicherheit" um Kontrolle und bei Informationsfreiheit
und Datenschutz um Menschenrechte.
Die Organisation und Verteilung von Geld, Macht, Wissen, Kontrolle und
Menschenrechte im Cyberspace aber ist eine gigantische langfristige
Herausforderung. Genf 2003 ist nur eine Zwischenstation. Es folgt Tunis
2005. Und der Aktionsplan zielt auf das Jahr 2015, also Tunis 10+.
Zwar enthält die Genfer WSIS-Deklaration zu den fünf Themen nur vage
Grundsätze. Das Interessante daran aber ist, dass diese Themen, die
natürlich alle miteinander verquickt sind, bislang global entweder gar
nicht oder völlig isoliert voneinander behandelt wurden. Mit WSIS haben
diese Themen nun ihre globale Verhandlungsheimstatt gefunden.
Der Europarat, Depositar der "Cybercrime Convention", wird sich die
Prinzipien der WSIS-Deklaration anschauen müssen, wenn er das Konzept
der Cybersicherheit weiter entwickeln will. WTO und WIPO werden nicht
umhin kommen, sich mit der von der WSIS-Deklaration eingeforderten
Balance zwischen Schutz des geistigen Eigentums und freien Zugang zu
Wissen zu befassen. Die Weltbank wird sich mit der Idee des "Digitalen
Solidaritätsfonds" auseinandersetzen müssen. Und bei "Internet
Governance" wird ICANN prüfen müssen, inwieweit ihr gerade beendeter
Reformprozess dem von WSIS geforderten "multistakeholder approach"
entspricht.
Während vor dem Genfer Gipfel Europarat, WTO, WIPO, Weltbank und ICANN
so gut wie nichts miteinander zu tun hatten, werden sie jetzt in ein
entstehendes globales institutionelles Netzwerk hineingezogen, in dem
nicht nur Regierungen, sondern auch die private Industrie und die
Zivilgesellschaft eine von der WSIS-Deklaration bestätigte "bedeutende
Rolle" spielen.
Wie weiter mit "Internet Governance"?
Die Globalisierung der WSIS-Themen wird sich vor allem bei der weiteren
Diskussion über Verwaltung der Kernressourcen des Internet zeigen. Die
Kontorverse "ITU vs. ICANN" und der dahinter liegende Konflikt über die
Zukunft des Internet zwischen der chinesischen und der amerikanischen
Regierung einerseits, sowie zwischen Regierungen, Privatwirtschaft und
Zivilgesellschaft andererseits hatte WSIS zeitweise an den Rand des
Scheiterns gebracht,. Der schließlich erreichte Kompromiss ist die
Auslösung eines neuen Prozesses. Nun soll UN-Generalsekretär Kofi Annan
mittels einer Arbeitsgruppe bis 2005 einen funktionsfähigen und
akzeptablen Vorschlag aus dem Hut zaubern.
Das Internet wird damit zu einem eigenständigen globalen
Verhandlungsgegenstand. WSIS holt das Thema praktisch aus der Ecke der
technischen Expertengremien mit unklaren politischen Zuständigkeiten
und transportiert es auf die große politischen Bühne der globalen
Politik. Was dass im Einzelnen bedeutet, ist momentan schwer
abzuschätzen. Möglicherweise ist Paragraph 50 der WSIS-Deklaration, der
Zusammensetzung und Mandat der neuen Gruppe definiert, das
weitreichendste Ergebnis von WSIS I.
Die Gruppe soll, so der Text von Paragraph 50, aus "Vertretern der
Regierungen, der privaten Wirtschaft und der Zivilgesellschaft aus
entwickelten und Entwicklungsländer und unter Einschluss bestehender
zwischenstaatlicher und anderer relevanter Institutionen und Foren"
gebildet werden. Den Regierungen wird dabei primär ein Mandat für die
mit dem Internet zusammenhängenden Aspekte öffentlicher Politik
zugewiesen. ("rights and responsibilities for international
Internet-related public-policy issues"). Der privaten Wirtschaft und
der Zivilgesellschaft wird eine "wichtige Rolle" bescheinigt.
Zwischenstaatliche Organisationen, wie die ITU, sollen eine "fördernde
Rolle" spielen.
Bemerkenswert darin ist nicht nur, dass erstmals in einem offiziellen
UN-Dokument der Zivilgesellschaft eine "bedeutende Rolle", ähnlich wie
der privaten Wirtschaft, zugewiesen wurde, sondern vor allem der
konzeptionelle Ansatz, der auf einem neuen "trilateralen Politikmodell"
basiert, bei dem Regierungen, private Wirtschaft und Zivilgesellschaft
mit unterschiedlichen Rollen und Verantwortlichkeiten, aber praktisch
weitgehend gleichberechtigt, Hand in Hand arbeiten sollen. Das ist neu.
Wie das funktionieren soll und kann, ist noch unklar. Aber es wird
spannend werden zu beobachten, wo diese Reise hingeht.
Die neue "Kofi Annan Gruppe" soll zunächst definieren, was man denn
überhaupt unter "Internet Governance" versteht. Dann soll sie
herausfinden, welche politischen Aspekte davon tatsächlich einer
staatlichen Regulierung bedürfen. Und schließlich soll sie der zweiten
Gipfelphase im November 2005 in Tunis einen Mechanismus vorschlagen,
wie die unterschiedlichen Themen durch unterschiedliche Akteure global
und effektiv gemanagt werden können.
Dieser WSIS-Beschluss enthält möglicherweise mehr Dynamik, als man sich
heute noch vorstellen kann. Schon hat die Diskussion begonnen über das
"Wer", "Wie", "Wann" und "Wo" der Gruppe. Nitni Desai, Kofi Annans
WSIS-Botschafter, will erst einmal zuhören, was denn die einzelnen
"Stakeholder" zu sagen haben. Das erste Vorbereitungstreffen für die
zweite Gipfelphase findet im Juni 2004 statt. Bis dahin will er seine
Gedanken sortiert haben.
Einige Regierungen haben bereits vorgeschlagen, die neue Gruppe schon
Ende März 2004 in New York zu gründen, wenn sich die UN ICT Task
Force [3], die auch unter der Schirmherrschaft von Kofi Annan steht,
trifft. Der zivilgesellschaftliche "Internet ICT Governance Caucus" hat
noch in Genf einen Vorschlag zur Zusammensetzung der Gruppe in die
Debatte gebracht. Man solle den Text von Paragraph 50 wörtlich nehmen
und eine 18köpfige Gruppe bilden mit je sechs Vertretern von
Regierungen, der privaten Wirtschaft und der Zivilgesellschaft, jeweils
drei aus dem Norden und drei aus dem Süden. Der private Sektor wird
sich bei seiner routinemäßigen ICANN-Tagung Anfang März 2004 in Rom
positionieren.
Neue Rolle für Zivilgesellschaft
Ein drittes langfristig wirkendes Resultat ist die neue Rolle der
Zivilgesellschaft im globalen Verhandlungsprozedere. 1998 in
Minneapolis spielte die Zivilgesellschaft überhaupt keine Rolle. Dann
meldete sich im Dezember 1999 in Seattle die Zivilgesellschaft auf der
Strasse zu Wort. Die Kritiker der WTO waren von den verhandelnden
Ministern durch einen schwer bewaffneten Polizeikordon getrennt. Die
Staats- und Regierungschefs mussten sich durch die Hintereingänge den
Weg zum Plenarsaal und zum Konferenzdinner erschleichen.
US-Präsident Clinton, der die "Dinner Speech" in Seattle hielt, machte
damals einen süß-sauren Scherz. Das Winken mit der Serviette von
WTO-Generalsekretär Moorer bei seinem verspäteten Eintreffen im
Ballsaal des Konferenzhotels, so Clinton, hätte ihn an das Hissen der
weißen Flagge erinnert. Manche der vorwiegend jungen Leute draußen, so
Clinton weiter, hätten aber ein durchaus legitimes Anliegen, dem man
drinnen zuhören sollte. "Wir sollten sie in den Verhandlungsraum
einladen", sagte der US-Präsident damals.
WSIS-Genf war nicht WTO-Seattle. Die Zivilgesellschaft hat hier nicht
Steine geworfen, sondern Papiere produziert. Noch bei PrepCom1 gab es
tumultartige Szenen vor geschlossenen Konferenztüren. Zwar öffneten
sich später die Türen ein wenig, aber das "Rein oder Raus" zog sich
durch den gesamten Vorbereitungsprozess. Beim Gipfel waren aber
immerhin bei den drei offiziellen Round Tables neben Staatspräsidenten
und Ministern auch jeweils vier Vertreter der Zivilgesellschaft als
Redner eingeladen. Im Plenum konnten zehn zivilgesellschaftliche
Repräsentanten ihre Meinung sagen. Und nachdem die Regierungen ihre
Dokumente am Freitag Nachmittag per Akklamation verabschiedet hatten,
trat Bill McIver ins Rampenlicht und ans Rednerpult und präsentierte im
Namen des "Civil Society Plenary" die zivilgesellschaftliche
WSIS-Deklaration [4]. Sie sei keine Anti-Deklaration, sagte McIver,
sondern eine auf das Morgen ausgerichtete Vision, die das sage, was
Regierungen, die zum Konsensus auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner
verpflichtet seien, nicht sagen könnten.
Die Tatsache, dass sich im WSIS-Prozess die Zivilgesellschaft in
zahlreichen "Familien", "Caucusen" und "Arbeitsgruppen" organisiert und
sich handlungsfähige repräsentative Gremien wie die "CS Plenary"
(CS-P), die "CS Content and Themes Group" (CS-C&T) und das "CS Bureau"
(CS-B) geschaffen hat, gaben ihren Aktionen ein bisher kaum vorhandene
Legitimität.
Der Schritt von "Turmoil" zu "Trust" wurde zwar noch nicht mit einem
signifikanten Schritt von "Input" zu "Impact" belohnt, aber sieht man
sich die Regierungsdokumente genauer an, dann haben schon einige
Buchstaben den Weg von den zivilgesellschaftlichen Einlassungen in die
regierungsoffiziellen Auslassungen gefunden. Die übliche Frustration
der zivilgesellschaftlichen Gruppen hielt sich denn am Abend des 12.
Dezember 2003 daher auch in Grenzen und mischte sich mit einer
Hoffnung, dass sich engagierte und konstruktive Einmischung, wenn sie
mit Substanz und Hartnäckigkeit vorgetragen wird, am Ende doch
irgendwie lohnen kann Für die Zivilgesellschaft gilt daher in
besonderer Weise die alte, einst von Sepp Herberger formulierte
Fußballweisheit, dass "nach dem Spiel immer vor dem Spiel" ist.
Links
[1] http://www.itu.int/wsis/
[2] http://www.itu.int/wsis/geneva/docs.html
[3] http://www.unicttaskforce.org/
[4]
http://www.worldsummit2003.de/download_en/WSIS-CS-Decl-08Dec2003-en.pdf
Telepolis Artikel-URL:
http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/te/16333/1.html
----------------------------------------------------------------------
Copyright © 1996-2003. All Rights Reserved. Alle Rechte vorbehalten
Heise Zeitschriften Verlag, Hannover
_______________________
http://www.oekonux.de/
| [English translation] | |||
| Thread: choxT00559 Message: 1/1 L0 | [In date index] | [In thread index] | |
|---|---|---|---|
| Message 00559 | [Homepage] | [Navigation] | |