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[chox] TELEPOLIS: Nach dem Gipfel ist vor dem Gipfel



Dieser TELEPOLIS Artikel wurde Ihnen
von Helmuth Supik <helmuth.s gmx.li> gesandt.

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Nach dem Gipfel ist vor dem Gipfel

Wolfgang Kleinwächter   16.12.2003 

Die Genfer WSIS-Deklaration enthält zwar nur vage Grundsätze, aber 
dennoch fand eine Bewegung in wesentlichen Dingen statt und es wurde 
zusammen mit einem neuen globalen Problembewusstsein auch ein 
neuartiges globales Forum geschaffen 

Die erste Phase des Weltgipfels zur Informationsgesellschaft ( 
 WSIS [1]) ist vorbei. Die 14.352 registrierten Teilnehmer sind nach 
Hause gefahren. Die angenommenen  Dokumente [2] sind ins Internet 
gestellt. Und die Beobachter fragen sich, was hat die Bergbesteigung 
denn nun wirklich gebracht? Sucht man nach konkreten Resultaten, wird 
man kaum fündig. Außer Spesen also nichts gewesen? Oder war da noch 
was? 

Schaut man aus der Froschperspektive auf die WSIS-Konferenz, dann ist 
zweifelsohne die landläufig zu vernehmende Kritik an den 
verabschiedeten Regierungs-Dokumenten berechtigt. Sie sind vage und 
unverbindlich. Die Cyberwelt sieht nach dem Gipfel nicht viel anders 
aus als zuvor. Und der digitale Graben ist nicht flacher geworden. 

Schaut man aber aus der Vogelperspektive auf den mühsamen Aufstieg zum 
Genfer Gipfel, dann entdeckt man, dass sich einige wesentliche Dinge 
zwischen Minneapolis 1998, als die Veranstaltung beschlossen wurde, und 
Genf 2003 bewegt haben. 

Neues globales Problembewusstsein 

Geändert hat sich vor allem das öffentliche Bewusstsein zum Thema 
Informationsgesellschaft. 1998, im Sog des Dot-Com-Booms, war das Thema 
primär auf die Faszination der technologischen Revolution, auf die 
kommerziell verwertbaren Aspekte und die digitale Spaltung fixiert. Ein 
Thema für Experten, Techniker, Risikokapitalinvestmentbanker und 
niedere Beamte in Wirtschafts- und Entwicklungshilfeministerien. 

Der Genfer Gipfel hat das Thema in den großen weltpolitischen Kontext 
des 21. Jahrhunderts gestellt. In Genf ging es nicht um die 
"Informationsrevolution", es ging um die Gesellschaft, die sich darauf 
zu konstituieren beginnt. Zu den politischen und wirtschaftlichen 
Interessen, die sich 1998 abzeichneten, kamen gesellschaftliche und 
kulturelle Werte. Das machte die Verhandlungen so schwierig, weil es 
eben leichter ist, einen Interessenausgleich zu erreichen als sich über 
Wertvorstellungen zu verständigen. Das rückte aber das Thema auch vom 
Rand der globalen Politik mehr ins Zentrum. 

Die WSIS-Deklaration sagt in ihrem ersten Paragraphen, welche 
Informationsgesellschaft man denn aufbauen wolle. 

 We, the representatives of the peoples of the world, declare our 
common desire and commitment, to build a people-centred, inclusive and 
development-oriented Information Society, where everyone can create, 
access, utilize and share information and knowledge, enabling 
individuals, communities and peoples to achieve their full potential in 
promoting their sustainable development and improving their quality of 
life, premised on the purposes and principles of the Charter of the 
United Nations and respecting fully and upholding the Universal 
Declaration of Human Rights.   

Den Menschen in den Mittelpunkt und das Schaffen, den Zugang und den 
Austausch von Informationen und Wissen ins Zentrum zu rücken, sind sehr 
noble, aber leider auch sehr allgemeine Zielsetzungen und 
Formulierungen. Sie haben es aber dennoch in sich. Der hohe 
Abstraktionsgrad bietet ein nicht zu unterschätzendes 
Referenzpotential. Man denke nur an die langfristigen Wirkungen von 
ähnlichen Dokumenten wie der UN-Menschenrechtsdeklaration von 1948 oder 
der KSZE-Schlussakte von 1975. Erst Jahre später merkte man, was solche 
allgemeinen Formeln tatsächlich bewirken. 

Die Zivilgesellschaft hatte sich vom ersten Tag der PrepCom1 (Juni 
2002) gegen eine technokratische oder bürokratische 
Informationsgesellschaft gewandt und eine "Informationsgesellschaft mit 
menschlichen Antlitz" eingefordert. Der stete Tropfen aus den 
unendlichen Quellen der globalen Zivilgesellschaft höhlte 
offensichtlich den Stein, der nun ein Meilenstein ist, an dem sich 
zukünftige Entwicklungen messen lassen müssen. 

Neues globales Verhandlungsforum 

Ein zweites, nicht sofort sichtbares Resultat, ist die Tatsache, dass 
WSIS einen Prozess in Gang gesetzt hat, der die Grundfragen der 
Informationsgesellschaft zum Thema globaler Verhandlungen für das 
nächste Jahrzehnt gemacht hat. Bei allen fünf WSIS-Themen geht es um 
Grundsätzliches. Beim "Digitalen Solidaritätsfonds" geht es ums Geld, 
bei "Internet Governance" um Macht, beim "geistigem Eigentum" um 
Wissen, bei "Cybersicherheit" um Kontrolle und bei Informationsfreiheit 
und Datenschutz um Menschenrechte. 

Die Organisation und Verteilung von Geld, Macht, Wissen, Kontrolle und 
Menschenrechte im Cyberspace aber ist eine gigantische langfristige 
Herausforderung. Genf 2003 ist nur eine Zwischenstation. Es folgt Tunis 
2005. Und der Aktionsplan zielt auf das Jahr 2015, also Tunis 10+. 

Zwar enthält die Genfer WSIS-Deklaration zu den fünf Themen nur vage 
Grundsätze. Das Interessante daran aber ist, dass diese Themen, die 
natürlich alle miteinander verquickt sind, bislang global entweder gar 
nicht oder völlig isoliert voneinander behandelt wurden. Mit WSIS haben 
diese Themen nun ihre globale Verhandlungsheimstatt gefunden. 

Der Europarat, Depositar der "Cybercrime Convention", wird sich die 
Prinzipien der WSIS-Deklaration anschauen müssen, wenn er das Konzept 
der Cybersicherheit weiter entwickeln will. WTO und WIPO werden nicht 
umhin kommen, sich mit der von der WSIS-Deklaration eingeforderten 
Balance zwischen Schutz des geistigen Eigentums und freien Zugang zu 
Wissen zu befassen. Die Weltbank wird sich mit der Idee des "Digitalen 
Solidaritätsfonds" auseinandersetzen müssen. Und bei "Internet 
Governance" wird ICANN prüfen müssen, inwieweit ihr gerade beendeter 
Reformprozess dem von WSIS geforderten "multistakeholder approach" 
entspricht. 

Während vor dem Genfer Gipfel Europarat, WTO, WIPO, Weltbank und ICANN 
so gut wie nichts miteinander zu tun hatten, werden sie jetzt in ein 
entstehendes globales institutionelles Netzwerk hineingezogen, in dem 
nicht nur Regierungen, sondern auch die private Industrie und die 
Zivilgesellschaft eine von der WSIS-Deklaration bestätigte "bedeutende 
Rolle" spielen. 

Wie weiter mit "Internet Governance"? 

Die Globalisierung der WSIS-Themen wird sich vor allem bei der weiteren 
Diskussion über Verwaltung der Kernressourcen des Internet zeigen. Die 
Kontorverse "ITU vs. ICANN" und der dahinter liegende Konflikt über die 
Zukunft des Internet zwischen der chinesischen und der amerikanischen 
Regierung einerseits, sowie zwischen Regierungen, Privatwirtschaft und 
Zivilgesellschaft andererseits hatte WSIS zeitweise an den Rand des 
Scheiterns gebracht,. Der schließlich erreichte Kompromiss ist die 
Auslösung eines neuen Prozesses. Nun soll UN-Generalsekretär Kofi Annan 
mittels einer Arbeitsgruppe bis 2005 einen funktionsfähigen und 
akzeptablen Vorschlag aus dem Hut zaubern. 

Das Internet wird damit zu einem eigenständigen globalen 
Verhandlungsgegenstand. WSIS holt das Thema praktisch aus der Ecke der 
technischen Expertengremien mit unklaren politischen Zuständigkeiten 
und transportiert es auf die große politischen Bühne der globalen 
Politik. Was dass im Einzelnen bedeutet, ist momentan schwer 
abzuschätzen. Möglicherweise ist Paragraph 50 der WSIS-Deklaration, der 
Zusammensetzung und Mandat der neuen Gruppe definiert, das 
weitreichendste Ergebnis von WSIS I. 

Die Gruppe soll, so der Text von Paragraph 50, aus "Vertretern der 
Regierungen, der privaten Wirtschaft und der Zivilgesellschaft aus 
entwickelten und Entwicklungsländer und unter Einschluss bestehender 
zwischenstaatlicher und anderer relevanter Institutionen und Foren" 
gebildet werden. Den Regierungen wird dabei primär ein Mandat für die 
mit dem Internet zusammenhängenden Aspekte öffentlicher Politik 
zugewiesen. ("rights and responsibilities for international 
Internet-related public-policy issues"). Der privaten Wirtschaft und 
der Zivilgesellschaft wird eine "wichtige Rolle" bescheinigt. 
Zwischenstaatliche Organisationen, wie die ITU, sollen eine "fördernde 
Rolle" spielen. 

Bemerkenswert darin ist nicht nur, dass erstmals in einem offiziellen 
UN-Dokument der Zivilgesellschaft eine "bedeutende Rolle", ähnlich wie 
der privaten Wirtschaft, zugewiesen wurde, sondern vor allem der 
konzeptionelle Ansatz, der auf einem neuen "trilateralen Politikmodell" 
basiert, bei dem Regierungen, private Wirtschaft und Zivilgesellschaft 
mit unterschiedlichen Rollen und Verantwortlichkeiten, aber praktisch 
weitgehend gleichberechtigt, Hand in Hand arbeiten sollen. Das ist neu. 
Wie das funktionieren soll und kann, ist noch unklar. Aber es wird 
spannend werden zu beobachten, wo diese Reise hingeht. 

Die neue "Kofi Annan Gruppe" soll zunächst definieren, was man denn 
überhaupt unter "Internet Governance" versteht. Dann soll sie 
herausfinden, welche politischen Aspekte davon tatsächlich einer 
staatlichen Regulierung bedürfen. Und schließlich soll sie der zweiten 
Gipfelphase im November 2005 in Tunis einen Mechanismus vorschlagen, 
wie die unterschiedlichen Themen durch unterschiedliche Akteure global 
und effektiv gemanagt werden können. 

Dieser WSIS-Beschluss enthält möglicherweise mehr Dynamik, als man sich 
heute noch vorstellen kann. Schon hat die Diskussion begonnen über das 
"Wer", "Wie", "Wann" und "Wo" der Gruppe. Nitni Desai, Kofi Annans 
WSIS-Botschafter, will erst einmal zuhören, was denn die einzelnen 
"Stakeholder" zu sagen haben. Das erste Vorbereitungstreffen für die 
zweite Gipfelphase findet im Juni 2004 statt. Bis dahin will er seine 
Gedanken sortiert haben. 

Einige Regierungen haben bereits vorgeschlagen, die neue Gruppe schon 
Ende März 2004 in New York zu gründen, wenn sich die  UN ICT Task 
Force [3], die auch unter der Schirmherrschaft von Kofi Annan steht, 
trifft. Der zivilgesellschaftliche "Internet ICT Governance Caucus" hat 
noch in Genf einen Vorschlag zur Zusammensetzung der Gruppe in die 
Debatte gebracht. Man solle den Text von Paragraph 50 wörtlich nehmen 
und eine 18köpfige Gruppe bilden mit je sechs Vertretern von 
Regierungen, der privaten Wirtschaft und der Zivilgesellschaft, jeweils 
drei aus dem Norden und drei aus dem Süden. Der private Sektor wird 
sich bei seiner routinemäßigen ICANN-Tagung Anfang März 2004 in Rom 
positionieren. 

Neue Rolle für Zivilgesellschaft 

Ein drittes langfristig wirkendes Resultat ist die neue Rolle der 
Zivilgesellschaft im globalen Verhandlungsprozedere. 1998 in 
Minneapolis spielte die Zivilgesellschaft überhaupt keine Rolle. Dann 
meldete sich im Dezember 1999 in Seattle die Zivilgesellschaft auf der 
Strasse zu Wort. Die Kritiker der WTO waren von den verhandelnden 
Ministern durch einen schwer bewaffneten Polizeikordon getrennt. Die 
Staats- und Regierungschefs mussten sich durch die Hintereingänge den 
Weg zum Plenarsaal und zum Konferenzdinner erschleichen. 

US-Präsident Clinton, der die "Dinner Speech" in Seattle hielt, machte 
damals einen süß-sauren Scherz. Das Winken mit der Serviette von 
WTO-Generalsekretär Moorer bei seinem verspäteten Eintreffen im 
Ballsaal des Konferenzhotels, so Clinton, hätte ihn an das Hissen der 
weißen Flagge erinnert. Manche der vorwiegend jungen Leute draußen, so 
Clinton weiter, hätten aber ein durchaus legitimes Anliegen, dem man 
drinnen zuhören sollte. "Wir sollten sie in den Verhandlungsraum 
einladen", sagte der US-Präsident damals. 

WSIS-Genf war nicht WTO-Seattle. Die Zivilgesellschaft hat hier nicht 
Steine geworfen, sondern Papiere produziert. Noch bei PrepCom1 gab es 
tumultartige Szenen vor geschlossenen Konferenztüren. Zwar öffneten 
sich später die Türen ein wenig, aber das "Rein oder Raus" zog sich 
durch den gesamten Vorbereitungsprozess. Beim Gipfel waren aber 
immerhin bei den drei offiziellen Round Tables neben Staatspräsidenten 
und Ministern auch jeweils vier Vertreter der Zivilgesellschaft als 
Redner eingeladen. Im Plenum konnten zehn zivilgesellschaftliche 
Repräsentanten ihre Meinung sagen. Und nachdem die Regierungen ihre 
Dokumente am Freitag Nachmittag per Akklamation verabschiedet hatten, 
trat Bill McIver ins Rampenlicht und ans Rednerpult und präsentierte im 
Namen des "Civil Society Plenary" die  zivilgesellschaftliche 
WSIS-Deklaration [4]. Sie sei keine Anti-Deklaration, sagte McIver, 
sondern eine auf das Morgen ausgerichtete Vision, die das sage, was 
Regierungen, die zum Konsensus auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner 
verpflichtet seien, nicht sagen könnten. 

Die Tatsache, dass sich im WSIS-Prozess die Zivilgesellschaft in 
zahlreichen "Familien", "Caucusen" und "Arbeitsgruppen" organisiert und 
sich handlungsfähige repräsentative Gremien wie die "CS Plenary" 
(CS-P), die "CS Content and Themes Group" (CS-C&T) und das "CS Bureau" 
(CS-B) geschaffen hat, gaben ihren Aktionen ein bisher kaum vorhandene 
Legitimität. 

Der Schritt von "Turmoil" zu "Trust" wurde zwar noch nicht mit einem 
signifikanten Schritt von "Input" zu "Impact" belohnt, aber sieht man 
sich die Regierungsdokumente genauer an, dann haben schon einige 
Buchstaben den Weg von den zivilgesellschaftlichen Einlassungen in die 
regierungsoffiziellen Auslassungen gefunden. Die übliche Frustration 
der zivilgesellschaftlichen Gruppen hielt sich denn am Abend des 12. 
Dezember 2003 daher auch in Grenzen und mischte sich mit einer 
Hoffnung, dass sich engagierte und konstruktive Einmischung, wenn sie 
mit Substanz und Hartnäckigkeit vorgetragen wird, am Ende doch 
irgendwie lohnen kann Für die Zivilgesellschaft gilt daher in 
besonderer Weise die alte, einst von Sepp Herberger formulierte 
Fußballweisheit, dass "nach dem Spiel immer vor dem Spiel" ist. 

Links 

[1] http://www.itu.int/wsis/
[2] http://www.itu.int/wsis/geneva/docs.html
[3] http://www.unicttaskforce.org/
[4] 
http://www.worldsummit2003.de/download_en/WSIS-CS-Decl-08Dec2003-en.pdf

Telepolis Artikel-URL: 
http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/te/16333/1.html 

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