DISCLAIMER DISCLAIMER DISCLAIMER DISCLAIMER

Die hier archivierte Mail kann, muss sich aber nicht auf den Themenkomplex von Oekonux beziehen.

Insbesondere kann nicht geschlossen werden, dass die hier geäußerten Inhalte etwas mit dem Projekt Oekonux oder irgendeiner TeilnehmerIn zu tun haben.

DISCLAIMER DISCLAIMER DISCLAIMER DISCLAIMER

Message 00145 [Homepage] [Navigation]
Thread: choxT00145 Message: 1/1 L0 [In date index] [In thread index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

[chox] Harold Varmus:"Werdet Teil der Revolution!"




"Werdet Teil der Revolution!"

Digitale Bibliotheken und elektronische Zeitschriften sollen das 
wissenschaftliche Publizieren ändern. Ein Gespräch mit dem Nobelpreisträger 
Harold Varmus

die zeit: Sie haben vor drei Jahren die Public Library of Science gegründet. 
Was war Ihr Motiv?

Harold Varmus: Früher waren Zeitschriften auf die traditionelle Art des 
Publizierens angewiesen. Das heißt: Artikel von Autoren einholen, Drucken auf 
Papier, Abonnements verkaufen. Heute birgt das Internet das Potenzial, die 
wissenschaftliche Literatur viel breiter zugänglich zu machen - für die 
Wissenschaftler und für die Öffentlichkeit -, indem man digitale Bibliotheken 
errichtet. Der größte Teil der Wissenschaft wird durch Steuern finanziert. 
Deshalb sind wir der festen Überzeugung, dass die Publikationen allen 
zugänglich sein sollten. Diese Datenbanken werden das digitale Äquivalent zur 
Bibliothek von Alexandria oder zum Britischen Museum sein. 

zeit: Aber Ihr Appell an die Verlage, ihre Publikationen wenigstens ein paar 
Monate nach dem Erscheinen online zugänglich zu machen, hat nicht viel 
gefruchtet.

 Varmus: Das stimmt. Da haben wir beschlossen: Jetzt gründen wir unsere 
eigenen, kostenlosen Zeitschriften und zeigen, wie das System funktionieren 
sollte.

zeit: Zeitschriften zu produzieren ist aber teuer - nicht wegen des 
Papierpreises, sondern weil der Prozess teuer ist.

Varmus: Allerdings. Wir mussten Redakteure anstellen. Die kosten Geld. Und wir 
haben einen Begutachtungsprozess, der Geld kostet. Kurzfristig bezahlen wir 
das mit einem Zuschuss von neun Millionen Dollar, den wir von der Stiftung 
des Computerpioniers Gordon Moore bekommen haben. Aber langfristig wollen wir 
die Kosten decken, indem wir von den Autoren eine bescheidene Gebühr für 
unsere Dienste verlangen. Das ist eine grundlegende Veränderung des 
Geschäftsmodells von wissenschaftlichen Zeitschriften: Statt für die 
Abonnements zahlen Wissenschaftler etwa 1500 Dollar für die Veröffentlichung 
ihrer Arbeit - wenn sie es sich leisten können. Dafür werden unsere Journals 
höchstes wissenschaftliches Niveau haben. PLoS Biology wird die gesamte 
Biologie umfassen, vom Molekül bis zum Ökosystem, und wir werden nur Arbeiten 
akzeptieren, die dasselbe Format haben wie Artikel, die in Zeitschriften wie 
Nature, Science oder Cell erscheinen.

 zeit: Sie haben ein doppeltes Problem: Erstens müssen Sie die Autoren 
überzeugen, überhaupt in Ihrer Zeitschrift zu veröffentlichen, und dann 
sollen sie auch noch dafür bezahlen!

 Varmus: Forscher und Institutionen bezahlen doch jetzt schon eine Menge. Wenn 
ich ein Paper veröffentliche, muss ich oft Gebühren pro Seite bezahlen. Mein 
Institut und die Bibliothek zahlen für Print-Abonnements. Das 
wissenschaftliche Veröffentlichungswesen läuft Amok, der ganze Prozess ist 
völlig verzerrt. Es gibt Journals, nicht mal besonders gute, die verlangen 
für ein institutionelles Abonnement bis zu 15000 Dollar pro Jahr - das ist 
irrational, denn es behindert den Austausch von Information zwischen den 
Forschern.

 Der zweite Punkt ist allerdings wichtig: Wie bringen wir die 
wissenschaftliche Gemeinschaft dazu, eine neue Zeitschrift zu akzeptieren - 
besonders wenn sie sich so radikal von den bestehenden unterscheidet? Und da 
stellt sich heraus, dass viele Kollegen Sympathien für uns hegen und völlig 
mit unseren Grundsätzen übereinstimmen, aber zögern, uns ihre besten Arbeiten 
zu schicken. Das ist unsere größte Herausforderung: Wissenschaftler davon zu 
überzeugen, ein Teil der Revolutionsarmee zu werden.

zeit: Seit dem 1. Mai nehmen Sie jetzt Artikel an. Können Sie schon etwas zur 
bisherigen Resonanz sagen?

Varmus: Wir haben eine gute Zahl eingereichter Arbeiten - es ist schwer, sie 
zu beurteilen, bevor der Gutachterprozess abgeschlossen ist.

zeit: Es hat immer wieder Anläufe zu elektronischen Zeitschriften gegeben - 
mit mäßigem Erfolg. Die meisten haben einfach zu wenige Artikel.

Varmus: Das stimmt nicht ganz. Eine weniger bekannte, aber sehr renommierte 
Zeitschrift, die schon seit einigen Jahren kostenlos online erhältlich ist, 
ist das Journal of Clinical Investigation. Aber die Leute sehen das nicht als 
elektronische Zeitschrift an, weil es auch auf Papier erscheint und die 
meisten es in gedruckter Form lesen.

zeit: Wollen Sie Zeitschriften wie Nature und Science die Geschäftsgrundlage 
entziehen?

Varmus: Nein, keinesfalls. Wir werden kein Nachrichtenmagazin sein wie Nature 
und Science. Die sind attraktiv dadurch, dass sie auf unglaublich gute Weise 
wöchentlich Artikel und Nachrichten über die gesamte Wissenschaftsszene 
bringen. Die meisten von uns abonnieren sie deswegen. Wir wollen die Magazine 
dazu bringen, ihre wissenschaftlichen Originalartikel kostenlos online zur 
Verfügung zu stellen - und weiterhin mit ihren Nachrichten das Geschäft zu 
machen. Außerdem gibt es mindestens 6000 biomedizinische Zeitschriften, da 
ist bestimmt noch Platz für ein paar mehr. Wir wollen mit einem kostenlosen, 
in erster Linie elektronischen Journal Erfolg haben. Aber das wirkliche Ziel 
ist es, die Art und Weise zu transformieren, wie Wissenschaft kommuniziert 
wird, sodass auf lange Sicht alle Zeitschriften unser Geschäftsmodell 
übernehmen. Die meisten Forschungsartikel in den USA kosten rund 200000 
Dollar. Man sollte es als Teil der Kosten eines modernen Forschungsbetriebs 
betrachten, wenn man 1500 Dollar draufschlägt dafür, dass die Arbeit 
überhaupt nutzbar, lesbar und anderen zugänglich wird und die Daten von 
anderen ausgewertet werden können.

zeit: Der Wissenschaftschef des Elsevier-Verlags, Derk Haank,hat gesagt …

Varmus: Das ist der Teufel!

zeit: …jedenfalls sagte er, er sympathisiere mit Ihrer Idee, aber man müsse 
dafür nicht die gesamte Branche umkrempeln. Derk Haank will lieber das Geld 
nehmen, das die Bibliotheken heute für die Zeitschriften-Abonnements 
ausgeben, und es dafür einsetzen, dass jeder Wissenschaftler Zugang zu den 
Artikeln hat, die er braucht.

Varmus: Das ist lächerlich. Leute wie Haank haben die Bibliotheken erpresst, 
indem sie sie gezwungen haben, einen ganzen Stapel von Zeitschriften zu 
abonnieren, um die eine zu bekommen, die sie eigentlich haben wollten. 
Wissenschaftsverlage wie Elsevier wollen das Copyright nicht aufgeben, das 
ihnen die Autoren der Artikel geschenkt haben. Diese Leute errichten 
Barrikaden gegen die Schaffung einer digitalen Bibliothek mit alten Artikeln. 
Da mache ich einen Unterschied zu anderen Verlagshäusern oder zu 
wissenschaftlichen Gesellschaften, die Zeitschriften herausgeben. Aber auch 
die werden sich verändern müssen.

zeit: Können Sie einem jungen Forscher, der ein großartiges Paper hat, 
wirklich empfehlen, es in Ihrer neuen Zeitschrift zu veröffentlichen?

Varmus: Die Frage ist eher: Wie überzeuge ich ihn davon? Und das ist wirklich 
schwierig. Wir sind alle sehr faul geworden und schauen zu sehr darauf, in 
welcher Zeitschrift eine Arbeit veröffentlicht wird, anstatt den Artikel zu 
lesen und seinen wissenschaftlichen Beitrag zu verstehen.

zeit: Aber das ist ja auch eine Art Filter.

Varmus: Ja, aber ein sehr ungerechter Filter. Wenn Sie zurückschauen und mit 
einem Abstand von fünf bis zehn Jahren beurteilen, welche wissenschaftliche 
Bedeutung eine Arbeit gehabt hat, dann finden Sie eine Menge sehr 
einflussreicher Arbeiten, die nicht in den drei oder vier großen 
Zeitschriften veröffentlicht worden sind. Und unsere professionellen und 
wissenschaftlichen Redakteure, die wir für die PLoS verpflichtet haben, 
werden innerhalb kürzester Zeit Journals auf die Beine stellen, die 
mindestens genauso renommiert sind wie jedes andere.

Die Fragen stellte Christoph Drösser

Harold Varmus erhielt für seine Forschungen über Krebsgene im Jahr 1989 den 
Nobelpreis für Medizin. Von 1993 bis 1996 war er Chef der Nationalen 
Gesundheitsinstitute (NIH) der USA. In dieser Zeit rief er die 
Online-Datenbank PubMed Central ins Leben. Heute leitet der 63-Jährige das 
Memorial Sloan-Kettering Cancer Center in New York

(c) DIE ZEIT 18.06.2003 Nr.26 
http://www.zeit.de/2003/26/N-Interview-Varmus


 
 


 




 
_______________________
http://www.oekonux.de/



[English translation]
Thread: choxT00145 Message: 1/1 L0 [In date index] [In thread index]
Message 00145 [Homepage] [Navigation]