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[ox-de] keimform.de: Selbstorganisierte Fülle (1): Was commonsbasierte Peer-Produktion ist und warum Leute da mitmachen



URL: http://www.keimform.de/2010/selbstorganisierte-fuelle-1/

Dies ist der erste Teil der schriftlichen Fassung des Vortrags
<http://www.keimform.de/2010/05/17/selbstorganisierte-fuelle/>, mit dem
ich zur Zeit zu erklären versuche, wie Gemeingüter und Peer-Produktion zu
Grundlagen einer nichtkapitalistischen Gesellschaft werden können. In
diesem ersten Teil geht es neben einleitenden Überlegungen zur digitale
Fülle um die Grundlagen: was Commons und Peer-Produktion sind, wo
Peer-Produktion heute schon erfolgreich praktiziert wird und warum Leute da
mitmachen.

Angeregt durch meine Erfahrung der letzten Jahre und durch Überlegungen,
die ich in meiner englischsprachigen Serie "The Earth's the Limit" (Teil 1
<http://www.keimform.de/2010/02/09/the-earths-the-limit-1/>, Teil 2
<http://www.keimform.de/2010/03/31/the-earths-the-limit-2/>) niedergelegt
habe, habe ich meine Überlegungen zu einer möglichen künftigen
Peer-Ökonomie weiterentwickelt. Anders als früher gehe ich nicht mehr von
der Notwendigkeit einer Kopplung zwischen Geben und Nehmen aus. Der
wichtigste Grund dafür ist, dass ich nicht mehr im menschlichen Tun,
sondern in der Endlichkeit der natürlichen Ressourcen die kritische Grenze
sehe, mit der jede emanzipatorische Gesellschaft wird umgehen müssen.

Das Internet als Ort der Fülle
------------------------------

Ich beginne mit dem Internet -- aber keine Sorge, dabei wird es nicht
bleiben, das ist nur der Anfang. Man kann das Internet als Ort der Fülle
betrachten, und zwar der Fülle in unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes.
Die erste Bedeutung ist Fülle im Sinne von "Überfluss" oder
"Verschwendung". Darin ist das Internet sehr gut. Ich kann mich, wenn mir
der Sinn danach steht, beispielsweise den ganzen Tag durch Fotosharing
<http://de.wikipedia.org/wiki/Foto-Sharing>-Seiten klicken, kann mir
beliebig viele Fotos zu bestimmten Leuten oder Themen angucken (zum Mount
Everest beispielsweise), auch wenn sie großteils recht ähnlich sind und ich
bald alles Relevante gesehen habe -- ich kann trotzdem immer weiter machen.

Ich kann mir per BitTorrent <http://de.wikipedia.org/wiki/BitTorrent> jede
Menge Filme herunterladen -- das ist zwar meist illegal, aber es
funktioniert trotzdem --, kann meine Festplatte mit Filmen füllen, ohne
jemals die Zeit zu finden, sie alle anzusehen. Ich kann mir lauter Freie
Programme <http://de.wikipedia.org/wiki/Freie_Software> auf meinen Rechner
installieren, immer wieder neue ausprobieren, auch wenn ich sie eigentlich
gar nicht gebrauchen kann. Man kann im Internet sehr viel Zeit verlieren,
sehr viel Verschwendung betreiben.

Man kann unter Fülle aber auch "genau was ich brauche" verstehen. Das
Internet bietet Fülle auch im diesem Sinn. Man muss sich nur mal daran
erinnern (für viele Leute ist das nicht mehr einfach, und manche haben es
gar nicht erlebt), wie das war, wenn man zu einem Thema recherchieren
wollte, bevor es das Internet gab. Da musste man in der Bibliothek
geeignete Bücher zum Thema finden; gab es keine, musste man nach
Zeitschriftenartikel suchen oder versuchen herauszufinden, ob irgendwo
Expert/innen erreichbar sind, die man konsultieren kann. Heute ist die
Grundrecherche dagegen sehr einfach, man muss nur bei Google
<http://de.wikipedia.org/wiki/Google> ein paar Suchbegriffe eingeben oder
bei Wikipedia <http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia> nachlesen und dann
den vielversprechendsten Links folgen. Es ist inzwischen so einfach,
Informationen zu beliebigen Themen zu finden, dass man sich gar nicht mehr
vorstellen kann, dass das früher nicht ging.

Ähnlich einfach ist es, wenn man ein Problem hat, denn man ist vermutlich
nicht die erste, die dieses Problem hatte. Man kann also im Internet suchen
und wird wahrscheinlich andere Leute finden, die dieses Problem ebenfalls
hatten und sich dazu geäußert haben. Man kann sich an deren Lösungen
orientieren; wenn das nicht ausreicht, kann man sich meist auch selber
einhaken und nachfragen. Da sind neue Möglichkeiten entstanden, mit anderen
zusammen Probleme zu lösen. Früher war das so nicht möglich; da war es sehr
schwierig, mit Leuten außerhalb der eigenen Stadt oder Region oder
außerhalb eng begrenzter Organisationsformen in Kontakt zu treten.

Wenn ich eine bestimmtes Musikstück oder ein bestimmtes Video suche, dann
finde ich es wahrscheinlich bei YouTube
<http://de.wikipedia.org/wiki/YouTube> oder anderswo im Internet. Oder ich
lade mir einen Film herunter, nicht um ihn "für später" zu sammeln, sondern
um ihn tatsächlich anzugucken. Wenn ich ein Programm suche, das mir
bestimmte Möglichkeiten bietet oder bestimmte Probleme löst -- ob im Web
surfen, online mit anderen kommunizieren, Videos anschauen, Fotos oder
Musik oder Videos bearbeiten oder was auch immer --, dann sind die Chancen
sehr gut, dass es eine Freie Software gibt, die genau oder ungefähr das
macht, was ich brauche. Das Internet ist eben auch sehr gut, wenn es um
Fülle im Sinne von "genau was ich brauche, wenn ich es brauche" geht.

Dabei ist das Internet nicht in erster Linie ein technisches Medium. Die
Technik ist nur die Grundlage; die Fülle, die da entsteht, wird von den
unzähligen Leuten gemacht, die am Internet teilnehmen und dazu beitragen,
dass diese Fülle entsteht.

Commonsbasierte Peer-Produktion
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Nicht alles, was im Internet an Fülle existiert, aber doch ein größerer
Teil davon, entsteht in einem Prozess, den wir als *commonsbasierte
Peer-Produktion* bezeichnen. Diesen Begriff versteht man am besten, wenn
man zunächst seine Bestandteile betrachtet.

Also zum einen: was sind Commons <http://www.keimform.de/tag/commons/>?
Commons, zu Deutsch *Gemeingüter,* sind Güter, die von einer Gemeinschaft
entwickelt und gepflegt werden, und die für die Nutzer/innen nach gemeinsam
festgelegten Regeln verfügbar sind. Wer ein Gemeingut nutzen kann, wird
dabei von der Gemeinschaft festgelegt, die sich um es kümmert -- mindestens
die Mitglieder dieser Community, oft aber auch viele andere, im Falle von
Freier Software und anderen Formen Freien Wissens sogar die ganze Welt. Und
Gemeingüter sind nicht einfach da, sondern müssen entwickelt und gepflegt
werden.

Der Ausdruck Peer-Produktion <http://www.keimform.de/tag/peer-production/>
bezeichnet die freiwillige Kooperation zwischen Gleichberechtigten
(englisch "Peers") die zu einem gemeinsamen Ziel beitragen. Man kooperiert
mit anderen also nicht, weil man Geld verdienen möchten oder von irgend
jemand dazu gezwungen wird, sondern weil man dasselbe Ziel (oder ein
ähnliches Ziel) wie die anderen hat. Deshalb macht es Sinn, sich mit
anderen zusammen zu tun, ohne dass es einen externen Anreiz wie Geld oder
Zwang bräuchte.

Die *commonsbasierte Peer-Produktion* bringt beides zusammen:
Peer-Produktion, die auf Gemeingütern aufbaut und die ihrerseits neue
Gemeingüter herstellt oder die vorhandenen Gemeingüter weiterentwickelt und
pflegt. Der Übergang zwischen beidem -- Neues hervorbringen und Vorhandenes
erhalten -- ist dabei fließend.

Beispiele für Peer-Produktion
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Eins der ältesten und bekanntesten Beispiele für commonsbasierte
Peer-Produktion ist die Freie Software
<http://de.wikipedia.org/wiki/Freie_Software>. Freie Software ist ein
Gemeingut -- gemäß den Regeln der Community darf sie jede/r nutzen, und
jede/r darf sich an ihrer Weiterentwicklung beteiligen. Man ist also nicht
auf die bloße Nutzung beschränkt, sondern kann immer auch selbst aktiv
werden, sich selbst um die Verbesserung und Weiterentwicklung der Software
kümmern.

Zu den bekanntesten Freien Softwareprojekten gehört Linux
<http://de.wikipedia.org/wiki/Linux>, das Freie Betriebssystem. Nach
Microsoft Windows und Apple Mac OS steht Linux auf Platz 3 der am
häufigsten benutzten Betriebssysteme. Bei vielen Endnutzer/innen ist es
vergleichsweise unbekannt, doch auf Webservern und anderen Rechnern, die
dauerhaft zuverlässig laufen müssen, ist Linux sehr weit verbreitet. Linux
basiert seinerseits auf dem GNU-Projekt
<http://de.wikipedia.org/wiki/GNU-Projekt> -- das Projekt, das die
Bezeichnung "Freie Software" erfunden und definiert und das
Selbstverständnis der Freien-Software-Community sehr stark geprägt hat.
Daneben gibt es noch eine andere wichtige Familie Freier Betriebssysteme,
die nicht auf dem GNU-Projekt basieren, nämlich die BSD-Systeme
<http://de.wikipedia.org/wiki/Berkeley_Software_Distribution#Die_Projekte_NetBSD.2C_FreeBSD_und_OpenBSD>.

Dazu kommen hunderttausende von Anwendungsprogrammen, die auf den
unterschiedlichsten Betriebssystemen laufen. Zwei der bekanntesten davon
sind der Webbrowser Firefox <http://de.wikipedia.org/wiki/Mozilla_Firefox>,
der in Deutschland ähnlich erfolgreich ist wie der MS Internet Explorer,
sein großer Konkurrent, und das E-Mail-Programm Thunderbird
<http://de.wikipedia.org/wiki/Mozilla_Thunderbird> -- beide werden vom
Mozilla-Projekt entwickelt. Aber wo immer man guckt, ob zur Bearbeitung von
Grafiken, Audioaufnahmen oder Videos, Programmiersprachen, jede Art von
Internetsoftware, auch einige Spiele -- in jedem Bereich, der Leute
genügend interessiert, dass sie sich zur Entwicklung Freier Software
motiviert fühlen, entstehen Freien Programme.

Was in den 1980er Jahren mit der Freien Software begann, hat um die
Jahrtausendwende herum auf andere Arten von Inhalten übergegriffen. Das
bekannteste und größte Projekte für Freie Inhalte
<http://de.wikipedia.org/wiki/Freie_Inhalte> ist die Wikipedia
<http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia>, die Freie Enzyklopädie, die nicht
nur eine der zehn beliebtesten Websites im Internet ist, sondern auch von
Hunderttausenden von Nutzer/innen mehr oder weniger aktiv weiterentwickelt
wird. Diese nutzergetriebene Enzyklopädie hat herkömmlichen Enzyklopädien
wie dem Brockhaus und der Encyclopaedia Britannica und proprietären
digitalen Lexika wie der Microsoft Encarta inzwischen weitgehend das Wasser
abgegraben.

Für die Wikipedia und andere Freie Inhalte werden meist Creative Commons
<http://de.wikipedia.org/wiki/Creative_Commons>-Lizenzen verwendet. Die
Idee von Creative Commons war es, das Lizenzmodell, das für Freie Software
funktioniert, für andere Inhalte anzupassen -- Texte, Musik, Filme und so
weiter. Dabei bietet das Projekt eine ganze Familie von Lizenzen zur
Auswahl an: ein Baustein, den man nutzen kann oder auch nicht, ist das
*Copyleft,* das später noch Thema sein wird; ein anderer Baustein ist, dass
sich die Autor/innen entscheiden können, ob sie kommerzielle Nutzungen
zulassen oder nicht (bei Freier Software sind sie immer erlaubt). Ein
weiterer Baustein ist, dass man sich entscheiden kann, ob andere das Werk
nur in unveränderter Fassung nutzen und weitergeben können oder ob darüber
hinaus auch Änderungen erlaubt sind -- von Peer-Produktion kann man nur
reden, wenn Änderungen zulässig sind, da andernfalls keine Beiträge anderer
möglich sind.

Ein anderes großes Projekt ist OpenStreetMap
<http://de.wikipedia.org/wiki/OpenStreetMap>, wo frei nutzbare Karten der
ganzen Welt erstellt werden, in die alles eingetragen werden kann, was die
Leute interessiert.

Denn gibt es das Filesharing <http://de.wikipedia.org/wiki/Filesharing>,
das per BitTorrent <http://de.wikipedia.org/wiki/BitTorrent>, eDonkey
<http://de.wikipedia.org/wiki/EDonkey2000> oder ähnlichen
Netzwerkprotokollen stattfindet. Man teilt Dateien mit anderen. Das ist oft
etwas brisant, weil die Urheber- bzw. Verwerter/innen dieser Dateien meist
der Ansicht sind, dass ihre Inhalte nicht frei geteilt, sondern bei ihnen
gekauft werden sollten. Aus Sicht der Leute, die bestimmte Dateien haben
oder haben wollen, ist es dagegen eine sehr effiziente Methode, Inhalte mit
anderen zu teilen -- zu bekommen, was man haben möchte, und zu teilen, was
einem gefällt. In vielen Fällen ist das Teilen auch unproblematisch, weil
z.B. Kopien von Freien Softwareprogrammen wie Linux und OpenOffice
<http://de.wikipedia.org/wiki/OpenOffice.org> oder von frei verfügbaren
Filmen wie der Star-Trek-Parodie Star Wreck
<http://de.wikipedia.org/wiki/Star_Wreck> geteilt werden.

Beim Verteilten Rechnen <http://de.wikipedia.org/wiki/Verteiltes_Rechnen>
tragen Leute die Rechenkapazität ihrer Computer zu einem gemeinsamen
Projekt bei. Das erste solche Projekt war SETI home
<http://de.wikipedia.org/wiki/SETI home>, wo das gemeinsame Ziel die Suche
nach Außerirdischen ist. Man wertet Signale aus dem All aus in der
Hoffnung, auf Regelmäßigkeiten, auf von Lebewesen erzeugte Signale zu
stoßen. Nachdem die US-Regierung das SETI-Programm einstellen wollte, haben
sich Freiwillige gefunden, die wollten, dass die Suche weitergeht; daher
läuft das Projekt heute auf den Computern von Millionen von Einzelpersonen
und braucht keine teuren Großrechner mehr. Andere solche Programme (die man
sinnvoller finden mag) laufen im medizinischen Bereich -- da werden
Medikamente gegen Krebs und andere Krankheiten gesucht.

Ein anderer Bereich ist die Sphäre der Blogs, die sogenannte Blogosphäre
<http://de.wikipedia.org/wiki/Blogosphäre>. Blogs sind von der Idee her
Online-Tagebücher (deshalb der Name: Weblog oder kurz Blog). Einzelne oder
kleine Gruppen von Leuten haben jeweils ihre eigene Website, ihr eigenes
Blog, und schreiben dort über Dinge, die sie interessieren. Das an sich
wäre noch keine Peer-Produktion, aber die Blogosphäre ist insofern
interessant, als die Beteiligten da regelmäßig aufeinander verweisen und
anderswo diskutierte Themen aufgreifen und weiterführen. Auf diese Weise
wandern Themen von einem Blog zu anderen. So ist ein neues Medium
entstanden, wo es keine einzelnen großen Medienhäuser gibt, die
kontrollieren, worüber und wie berichtet wird, sondern wo viele Leute
dezentral mitmachen und dazu beitragen, interessante Themen zu
identifizieren und zu verbreiten.

Ein anderes Beispiel sind Freie Funknetze
<http://de.wikipedia.org/wiki/Freies_Funknetz>. Oft hat man ja heute
drahtlosen Internetzugang (per WLAN
<http://de.wikipedia.org/wiki/Wireless_Local_Area_Network>). In Freien
Funknetzen öffnen Leute ihre WLAN-Zugänge, so dass auch andere darüber
online gehen können, wenn sie in der Nähe sind. Neben dem Zugang zum
Internet können Freie Funknetze auch kleine autonome Netzwerke bilden, in
denen die zusammengeschalteten Rechner miteinander kommunizieren können
(wobei andere Rechner im Netzwerk die Daten weiterleiten, wenn zwischen
Start- und Zielrechner keine direkte WLAN-Verbindung besteht). In
Entwicklungsländern, wo es mancherorts kein Internet gibt, können die Leute
direkt über solche autonomen Funk-Netzwerke innerhalb ihrer lokalen
Gemeinde telefonieren oder Mails austauschen, ohne dafür Internetzugang zu
brauchen.

Gemeinschaftsgärten <http://de.wikipedia.org/wiki/Gemeinschaftsgarten>
(community gardens) sind eine Form der Peer-Produktion, die gar nichts mit
der digitalen Welt zu tun hat. Leute suchen sich gemeinsam ein Grundstück,
oft ein ungenutztes, verwildertes Grundstück in der Stadt, und legen dort
einen Garten an. So entstehen kleine städtische Allmenden (Gemeingüter),
die allen offen stehen und von Freiwilligen gestaltet und gepflegt werden.

In anderen Projekten geht es darum, dass man Dinge weitergibt, die man
nicht mehr braucht. Beispielsweise ist die Idee des BookCrossing
<http://de.wikipedia.org/wiki/Bookcrossing>-Projekts, Bücher, die man
gelesen hat und nicht mehr braucht, freizugeben, sie "wandern" zu lassen in
der Hoffnung, dass das Buch neue interessierte Leser/innen findet.

Gründe für Peer-Produktion
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Peer-Produktion funktioniert also in vielen Bereich sehr gut, aber warum
ist das so? Das hat vor allem in der Anfangszeit, als Freie Software
bekannt wurde, einige Verwirrung ausgelöst, denn die Beteiligung an
Peer-Produktion widerspricht dem gängigen Modell des Homo oeconomicus
<http://de.wikipedia.org/wiki/Homo_oeconomicus>. Da ist die Annahme, dass
man Dinge tut, um Geld zu verdienen oder weil man sich davon materielle
Vorteile verspricht, wobei der Vorteil des einen meist als Nachteil der
anderen gesehen wird. Manche der an Peer-Projekten Beteiligten passen gut
in dieses Schema -- es gibt Firmen, die mit Freier Software Geld verdienen
wollen, indem sie z.B. Dienstleistungen rund um die Software verkaufen, und
die sich deshalb an der Entwicklung der Software beteiligen. Oder eine
Firma nutzt eine bestimmte Freie Software selbst und beauftragt deswegen
Mitarbeiter/innen, sie anzupassen und weiterzuentwickeln. Aber damit lassen
sich längst nicht alle Beteiligten erfassen -- bei Wikipedia wird praktisch
niemand für die Teilnahme bezahlt; bei Freien-Software-Projekten ist der
Anteil der unbezahlt Mitarbeitenden unterschiedlich, mal sind's die Hälfte,
mal mehr und mal weniger. Die Frage ist: warum machen die das? Warum machen
sie mit, wenn's ihnen nicht ums Geld geht?

Wenn man Studien macht, warum sich Leute an Freier Software oder anderen
Formen von Peer-Produktion beteiligen (z.B. Lakhani und Wolf 2005, Lehmann
2004), ergeben sich verschiedene Motivationen, die man in drei Gruppen
zusammenfassen kann:

Erstens gibt es *pragmatische Gründe:* man beteiligt sich an der Produktion
eines Gutes, das man haben möchte. Ich schreibe z.B. eine Software, die mir
selber fehlt, die ich gern verwenden würde. Wenn ich die Software im
Internet freigebe, schadet mir das jedenfalls nichts, und im besten Fall
nutzt es mir, weil sich andere finden, die sich ebenfalls an der
Entwicklung der Software beteiligen -- dann kommen wir gemeinsam schneller
zum Ziel. Noch besser für mich ist es, wenn ich eine Freie Software finde,
die schon ungefähr tut, was ich brauche. Dann kann ich auf der Arbeit
anderer Leute aufbauen und die Software so abändern, dass sie meinen
Bedürfnissen entspricht. Sinnvollerweise werde ich die vorgenommenen
Änderungen dann an die Leute weiterleiten, die sich um die Software
kümmern, in der Hoffnung, dass sie sie übernehmen. Denn das erspart mir
Arbeit, wenn eine neue Version der Software erscheint -- andernfalls müsste
ich bei jeder neuen Version den *Patch* (d.h. die Änderungen, die ich
vorgenommen habe) selber wieder neu integrieren, sofern ich die Software
weiterhin nutzen will. Aus ganz pragmatischen Gründen macht es für mich
also Sinn, mich an der Weiterentwicklung der Software zu beteiligen.

Ein anderer Grund ist *Spaß* oder *Befriedigung* -- man macht etwas, weil
man es gerne macht. Linus Torvalds
<http://de.wikipedia.org/wiki/Linus_Torvalds>, der Gründer des
Linux-Projektes, hat seine Autobiografie "Just for Fun" genannt, also "Nur
zum Spaß". Mittlerweile verdient er Geld mit Linux, aber das war nicht
seine anfängliche Motivation, sondern er das Projekt gestartet, weil er
Spaß daran hatte, weil er es tun wollte. Viele Leute, die zur Wikipedia
beitragen oder Freie Software schreiben, machen das aus Spaß an der Sache,
aus Lust am Tun.

Eine dritte Art von Gründen sind *ethische Gründe.* Richard Stallman
<http://de.wikipedia.org/wiki/Richard_Stallman>, dem Gründer des
GNU-Projekts, ging es darum, "seinen Nachbarn helfen" zu können (vgl.
Stallman 2002, insb. Kap. 1). Er sagte sich: wenn ich Software schreibe,
will ich sie nicht nur verkaufen, ich will sie auch weitergeben dürfen, um
anderen helfen zu können. Deshalb will ich nur Software schreiben, die das
erlaubt, und zwar nicht nur mir, sondern auch allen anderen. Deswegen hat
er auch die Lizenzmodelle für Freie Software erfunden, die festschreiben,
dass jede/r die Software weiterentwickeln und weitergeben darf. Denn er
fand es inakzeptabel, dass man, wenn man z.B. eine Windows- oder
MS-Office-Kopie hat, seinen Nachbar/innen offiziell nicht helfen darf. Wenn
man solche proprietäre Software an seinen Nachbarn weitergibt, weil der sie
auch gerne hätte, dann macht man sich strafbar; wenn man sie nicht
weitergibt, ist man ein Arschloch, das seinen Nachbarn nicht hilft. Wie
man's macht, macht man's falsch. Um dieses Dilemma aufzulösen, muss es
Software geben, die man weitergeben darf, so dass man seinen Nachbarn
helfen kann, ohne dafür in die Bredouille zu geraten. Das war Stallmans
ethische Motivation.

Wenn man Leute fragt, warum sie sich an Freien Projekten beteiligen, ist
eine häufige Antwort: "Ich möchte der Community etwas zurückgeben." Also
die anderen haben mir Gutes getan, deshalb möchte ich selbst auch mal etwas
für die anderen tun. Das ist für viele Leute ein Grund -- und zwar ein
ethischer Grund, auch wenn man darüber nicht weiter nachdenkt --, sich an
Peer-Projekten zu beteiligen.

Literatur
---------

- Lakhani, Karim R.; Robert G. Wolf (2005). Why Hackers Do What They Do:
  Understanding Motivation and Effort in Free/Open Source Software Projects
  <http://opensource.mit.edu/papers/lakhaniwolf.pdf>. In: Joseph Feller;
  Brian Fitzgerald; Scott A. Hissam; Karim R. Lakhani (Hg.), *Perspectives
  on Free and Open Source Software,* MIT Press, Cambridge, MA.
- Lehmann, Frauke (2004). FLOSS Developers as a Social Formation

<http://firstmonday.org/htbin/cgiwrap/bin/ojs/index.php/fm/article/view/1186/1106>.
  In: *First Monday,* 9(11).
- Stallman, Richard M. (2002). Free Software, Free Society.
  <http://shop.fsf.org/product/free-software-free-society/> GNU Press,
  Boston, MA.

[Wird fortgesetzt.]

-- 
|------- Dr. Christian Siefkes ------- christian siefkes.net -------
| Homepage: http://www.siefkes.net/ | Blog: http://www.keimform.de/
|    Peer Production Everywhere:       http://peerconomy.org/wiki/
|---------------------------------- OpenPGP Key ID: 0x346452D8 --
Meiner Meinung nach ist es eine Schande, dass auf der Welt so viel
gearbeitet wird.
        -- William Faulkner



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