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[ox-de] keimform.de: Wenn Peers produzieren: Von Freier Software zu Freier Hardware und darüber hinaus



URL: http://www.keimform.de/2010/04/10/wenn-peers-produzieren/

[Der folgende Artikel ist in der FIfF-Kommunikation
<http://www.fiff.de/publikationen/fiff-kommunikation> 1/2010 erschienen. Er
ist als Dokumentation zu der Arbeitsgruppe
<http://www.keimform.de/2009/11/03/veranstaltungen-im-november/>
entstanden, die ich auf der FIfF-Jahrestagung 2009
<http://www.fiff.de/veranstaltungen/fiff-jahrestagungen/JT2009/fiff-jahrestagung-2009-verantwortung-2.o>
gestaltet habe. Der Artikel wird unter den Bedingungen der Creative Commons
Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen Deutschland-Lizenz
<http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/> (CC-BY-SA) 3.0
veröffentlicht.]

Das Beispiel Linux
------------------

1991 hatte der junge finnische Informatikstudent Linus Torvalds eine
verblüffende Idee: er begann damit, auf seinem neuerworbenen PC ein
Betriebssystem zu schreiben. Zunächst ging es ihm nur darum, einige
fehlende Funktionen für seinen Rechner nachzurüsten, doch nach einigen
Monaten Bastelei bemerkte er, dass er ein System entwickelt hatte, das auch
für andere Leute nützlich werden könnte. Er kündigte seine Arbeit
öffentlich im Internet an -- "Ich arbeite an einem (freien) Betriebssystem
(nur ein Hobby...)" -- und bat um Rückmeldungen, welche Eigenschaften sich
die anderen von einem solchen System wünschten. Einige Wochen später
stellte er die Software ins Internet, was es jedem ermöglichte, Torvalds'
Code herunterzuladen, zu verwenden und (bei entsprechenden
Programmierkenntnissen) auch den eigenen Bedürfnissen anzupassen.

Torvalds' Ankündigung stieß auf gewaltiges Interesse, denn die damals
verbreiteten Betriebssysteme konnten entweder wenig (wie DOS) oder sie
waren teuer. Außerdem wurden sie in Firmen entwickelt, auf die die
Nutzer/innen keinen Einfluss hatten. Dass jemand ein Betriebssystem
öffentlich per Internet entwickelte, dabei die Nutzer explizit um
Rückmeldungen und Mitarbeit bat, und dann auch noch die Ergebnisse allen
frei zur Verfügung stellte, war eine Sensation. Es dauerte nur zwei Jahre,
bis über hundert Leute an Linus Torvalds' System mitarbeiteten, das in
Anlehnung an seinen Schöpfer *Linux* getauft wurde. Damals hatte das von
Richard Stallman initiierte *GNU-Projekt* bereits viele freie
Betriebssystemkomponenten entwickelt -- durch die Kombination mit dem von
Torvalds geschriebenen Systemkern entstand daraus ein praktisch nutzbares
und komplett freies Betriebssystem.

Heute gehört Linux zu den drei verbreitetsten Betriebssystemen -- neben
Windows und Mac OS -- und wird von Millionen von Menschen verwendet. Noch
beliebter als bei privaten Anwender/innen ist Linux bei Firmen, die es
insbesondere für Server einsetzen, die dauerhaft und zuverlässig laufen
müssen. Auch wo die Leistungsanforderungen besonders hoch sind, ist das
System verbreitet, so laufen sogar 89% der 500 schnellsten Supercomputer
unter Linux (TOP500 2009).

Der Erfolg von Linux basiert zum einen darauf, dass die Software selbst --
wie alle Freie Software -- ein *Gemeingut* ist, das jede/r frei verwenden,
den eigenen Bedürfnissen oder Vorstellungen gemäß weiterentwickeln (bei
entsprechenden Kenntnissen) und auch an andere weitergeben darf. Die
Freiheiten, die Freie Software zum Gemeingut machen, wurden dabei schon in
den 1980er Jahren von Richard Stallman beschrieben und exemplarisch in der
*GNU General Public License* (GPL) umgesetzt -- der bis heute am meisten
verwendeten Lizenz für Freie Software, die auch von Linux genutzt wird.

Entscheidend für den Erfolg von Linux ist aber die *Community,* die hinter
dem Betriebssystem steht und seine Entwicklung koordiniert. Die offene,
dezentrale und scheinbar chaotische Art und Weise, in der Torvalds und
seine Mitstreiter/innen zusammenarbeiten, ist als "Basar"-Modell in die
Softwaregeschichte eingegangen (Raymond 1999) -- im Gegensatz zum
hierarchischen, sorgfältig geplanten "Kathedralenstil", der nicht nur den
Bau mittelalterlicher Kathedralen, sondern auch einen Großteil der in
Firmen entwickelten Software prägte.

Die Beteiligung an Freie-Software-Projekten wird oft mit der 90-9-1-Regel
beschrieben: 90% benutzen das System nur, etwa 9% tragen gelegentlich etwas
zu seiner Weiterentwicklung bei, und nur 1% beteiligt sich regelmäßig und
intensiv. Der Aufstieg mancher Nutzer/innen zu sporadisch oder auch
intensiv Beitragenden erfolgt per "Selbstauswahl" -- es gibt keine
Beteiligungsverpflichtung, aber auch wenig Hindernisse. Jede/r sucht sich
selbst aus, ob und wie viel sie oder er tun möchte. Oft beginnt die
Beteiligung damit, dass jemand einen Bug findet und meldet -- etwas, das
nicht richtig funktioniert; eventuell schreibt sie dann auch einen Patch,
einen "Softwareflicken", um den Fehler zu beheben -- und schon hat sie zur
Weiterentwicklung der Software beigetragen. Man kann aber auch Patches
schreiben, die die Funktionalität des Systems erweitern, und so
beispielsweise Funktionen nachrüsten, die man selbst benötigt; oder man
testet das System oder schreibt Dokumentation.

Der neu entstandene Code wird dann von erfahreneren Beteiligten
begutachtet, ob er auch ins System aufgenommen werden kann, ohne etwas
kaputt zu machen, und eventuell korrigiert. Bei Linux gibt es ungefähr
hundert "Maintainer", die die Verantwortung für bestimmte Teilsysteme
übernommen haben und dafür sorgen, dass bei ihrer Weiterentwicklung alles
glatt läuft. Im Zentrum des Ganzen steht nach wie vor Linus Torvalds
selbst, der aber nur noch einen kleinen Teil der Entscheidungen selber
trifft. (In manchen anderen Projekten wie dem alternativen freien
Betriebssystem FreeBSD gibt es dagegen ein Kernteam von mehreren
Hauptverantwortlichen, das von den Projektbeteiligten regelmäßig neu
gewählt wird.)

Je länger und intensiver jemand mitarbeitet, desto schneller und
unproblematischer werden seine Änderungen von den zuständigen Maintainern
übernommen -- bis man schließlich vielleicht selbst Maintainer wird.
Maintainer zu werden bringt Verantwortung und zugleich mehr Einfluss auf
die weitere Entwicklung des Projekts, aber es bringt keine Macht über
andere. Vielmehr sind die Maintainer stets auf die freiwilligen Beiträge
der anderen angewiesen. Sie können andere davon abhalten, dem Projekt zu
schaden, indem sie die Aufnahme von schlechtem Code in die Software
verweigern, aber sie können niemand dazu zwingen, etwas Bestimmtes zu tun.

Generell gibt es für den Entwicklungsprozess Richtlinien (Empfehlungen),
aber kaum strikte Regeln. Wer gegen die üblichen Praktiken verstößt, muss
damit rechnen, von den anderen Entwickler/innen per E-Mail "geflamed", d.h.
beschimpft und in rauen Worten auf den Verstoß hingewiesen zu werden --
etwas Schlimmeres passiert selten, härtere Sanktionen wie der Ausschluss
aus dem Projekt kommen kaum vor.

Gemeingüter, Beiträge und freie Kooperation
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Die Erfolgsgeschichte von Linux zeigt exemplarisch einige Merkmale auf, die
für *Peer-Produktion* wesentlich sind. Ein erstes Merkmal ist, dass
*Gemeingüter* (engl. *Commons*) von großer Bedeutung sind. Gemeingüter sind
Ressourcen und Güter, die allen zustehen und die gemäß selbstdefinierten
Regeln gemeinsam oder anteilig genutzt werden. Freie Software ist ein
solches Gemeingut (wir werden später noch weitere kennenlernen), und zu den
Regeln, die sich die Freie-Software-Community gegeben hat, gehören
insbesondere die "vier Freiheiten", die Freie Software ausmachen. Die
Freiheit, erstens das Programm für jeden Zweck einsetzen und es zweitens
den eigenen Bedürfnissen anpassen zu dürfen, es drittens an andere
weitergeben und es viertens verbessern und diese Verbesserungen allen
zugänglich machen zu dürfen (GNU-Projekt 2002).

Stallmans GPL -- die beliebteste Lizenz für Freie Software -- fordert
dabei, dass diese vier Freiheiten auch für jede *abgeänderte* Version der
Software erhalten bleiben -- wenn ich GPL-Software bearbeite und die
geänderte Version veröffentliche, muss ich sie selbst unter GPL stellen.
Dieses Prinzip wird "Copyleft" genannt, da es sich das normale Copyright
bzw. Urheberrecht zunutze macht, um dessen Funktion quasi "umzudrehen".
Während das normale Urheberrecht die Autor/innen zu nichts verpflichtet und
den Nutzer/innen fast nichts erlaubt, macht das Copyleft das Gegenteil: es
*erlaubt* den Nutzern sehr viel, indem es ihnen die genannten vier
Freiheiten gewährt, und *verpflichtet* zugleich alle künftigen Autoren, den
Nutzern ihrer eigenen verbesserten Versionen dieselben Rechte einzuräumen.
Regelungen wie das Copyleft stehen somit nicht im Widerspruch zur Freiheit
der Beteiligten, sondern stärken diese, indem sie Schutz und Ausbau der
Commons ermöglichen.

Peer-Produktion baut auf Gemeingütern auf, und sie erzeugt neue Gemeingüter
oder pflegt und verbessert die vorhandenen. Andere Ressourcen wie die
verwendeten Computer sind bei Peer-Projekten typischerweise in
Privatbesitz, aber sie werden zum Erreichen der Projektziele benutzt, nicht
zum Erzielen eines finanziellen Gewinns. Sie fungieren als *Besitz* (etwas,
das man benutzt), nicht als *Eigentum* (etwas, das man verkaufen oder
verwerten kann). *Peer-Produktion basiert somit auf Gemeingütern und Besitz
(nicht auf Eigentum).*

Im Gegensatz zur Produktion für den Markt findet die Peer-Produktion nicht
für den Verkauf, sondern für den Gebrauch statt. Peer-Projekte haben ein
gemeinsames Ziel, und alle Teilnehmer/innen tragen auf die eine oder andere
Weise etwas zu diesem Ziel bei. Und zwar in einem Großteil der Fälle nicht,
um damit Geld zu verdienen, sondern weil sie die Ziele des Projekts teilen
und wollen, dass es erfolgreich ist; weil sie genießen, was sie da tun;
oder weil sie der Community etwas "zurückgeben" wollen. Bei
marktwirtschaftlichen Aktivitäten wird etwas eingetauscht, zumeist eine
Ware gegen Geld -- Angestellte verkaufen eine bestimmte Ware, ihre
Arbeitskraft, und Firmen verkaufen die Waren, die sie produzieren. Im
Gegensatz dazu *basiert Peer-Produktion nicht auf Tausch, sondern auf den
Beiträgen* der Beteiligten.

Wenn Firmen sich an Peer-Projekten beteiligen (was bei Freier Software
häufig der Fall ist), ist es um die Motivation natürlich anders bestellt --
jede Firma (bzw. ihre Inhaber- und Leiter/innen) will und muss Geld
verdienen, d.h. das zuvor investierte Geld in mehr Geld verwandeln, und
jede Aktivität von Firmen lässt sich direkt oder indirekt durch dieses
universelle Motiv erklären. Trotzdem sind viele Firmen, wenn sie Freie
Software unterstützen, unmittelbar am *Gebrauchswert* und nicht am
*Tauschwert* (finanziellen Wert) der Software interessiert -- viele Firmen
unterstützen etwa die Entwicklung des Webservers *Apache* oder von Linux,
weil sie diese Systeme auf ihren eigenen Servern laufen lassen wollen. Sie
sind am Gebrauch der Software interessiert, genau wie Privatpersonen, die
eine bestimmte Software nutzen wollen und deshalb dazu beitragen, dass sie
besser wird. Bei Firmen steht hinter diesem Interesse am Gebrauchswert
natürlich das ultimative Interesse, Geld zu verdienen (und deshalb z.B.
Apache zu verwenden, weil er besser und/oder billiger ist als unfreie
Alternativen). In anderen (und selteneren) Fällen geht es Firmen nicht
selbst um den Gebrauchswert der Software, sondern direkt ums Geldverdienen
-- sie verkaufen z.B. Support für Freie Software, was nur bzw. besser
funktioniert, wenn sie selbst zur Weiterentwicklung der Software beitragen.

Dass Firmen am Geldverdienen interessiert sind, versteht sich von selbst.
Interessanter sind zwei anderen Faktoren: zum einen, dass die vielen
Beteiligten, die *nicht* durch eine Firma bezahlt werden, sich aus ganz
anderen Motiven beteiligen -- dass es ihnen zumeist *nicht* ums
Geldverdienen oder die Steigerung des eigenen Marktwerts geht; und zum
anderen, dass die so entstehenden Projekte so erfolgreich sind, dass es für
Firmen Sinn macht, sich zu beteiligen. Das zeigt, dass diese
selbstorganisierte, nicht in erster Linie durch Firmen oder den Staat
geprägte Produktionsweise viel mehr als eine bloße Hobby- oder
Freizeitaktivität ist -- sie ist so erfolgreich, dass Firmen es sich nicht
mehr leisten können, sie zu ignorieren (selbst Microsoft beteiligt sich
inzwischen an Open-Source-Projekten, nach langjährigem Boykott und
Anti-GPL-Propaganda).

Anders als bei Firmen und planwirtschaftlichen Systemen gibt es innerhalb
von Peer-Projekten keine Befehlsstrukturen. Das heißt keineswegs, dass die
Projekte unstrukturiert wären (wie bei Linux gibt es bei den meisten
Projekten Maintainer oder Administrator/innen, die das Projekt auf Kurs
halten und entscheiden, ob Beiträge integriert oder zurückgewiesen werden),
aber niemand kann anderen befehlen, etwas zu tun, und niemand ist
gezwungen, anderen zu gehorchen. Auch Maintainern bleibt nur, die
Beteiligten davon zu überzeugen, dass eine bestimmte Aktivität sinnvoll ist
-- anordnen können sie nichts.

Der unübersetzbare Begriff der "Peers" bezieht sich auf diese *freiwillige,
ungezwungene Kooperation zwischen Gleichberechtigten, die sich niemand
unterordnen müssen.* Die Strukturen und Organisationsformen von Projekten
entwickeln sich dabei gemäß den Bedürfnissen und Vorstellungen der
Beteiligten -- in einem offenen, niemals abgeschlossenen Prozess entwickeln
die Projekte die Regeln und Organisationsformen, die zum Erreichen ihrer
Ziele am besten geeignet sind.

Freie Software und Peer-Produktion sind nicht dasselbe. Einerseits gibt es
Peer-Produktion in vielen weiteren Bereichen (Beispiele folgen im nächsten
Absatz), andererseits erfordert Peer-Produktion eine Community voneinander
unabhängiger Beteiligter. Wenn nur eine einzelne Autor/in oder eine
einzelne Firma eine Freie Software entwickelt, handelt es sich nicht im
Peer-Produktion im engeren Sinne. *Potenziell* allerdings schon, sind die
Freien Lizenzen doch immer eine Einladung zur Beteiligung durch andere --
früher oder später können andere die Software entdecken und sie für eigene
Zwecke anpassen oder weiterentwickeln, was die Möglichkeit eröffnet, dass
aus dem Privatprojekt eine Community wird.

Die Vielfalt der Peer-Produktion
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Was bei Linux funktionierte, wird in ähnlicher Form mittlerweile in
unzähligen anderen Projekten praktiziert. Ein weiterer kolossaler Erfolg
ist die 2001 gegründete *Wikipedia,* die freie Enzyklopädie, an der jede/r
mitarbeiten kann und deren deutsche Ausgabe schon mehr als eine Million
Artikel umfasst. Linux und die Wikipedia stehen exemplarisch für zwei
Communities -- die *Freie-Software-Bewegung* (auch als
*Open-Source-Bewegung* bekannt) und die *Freie-Kultur-Szene* --, die aber
natürlich viel größer sind als ihre jeweiligen Flaggschiffe. Es gibt
Hunderttausende Freier Softwareprogramme und Millionen von Werken (meist
Texte, Bilder, Musik, seltener Filme), die unter "Creative
Commons"-Lizenzen veröffentlicht werden, den bekanntesten Lizenzen für
Freie Kultur.

Daneben existieren viele weitere dezentrale Peer-Communities, die sich um
die Schaffung und Bewahrung eines Gemeinguts organisieren. So ist es
Anliegen der *Open-Access-Community,* durch die Schaffung von freiem Zugang
zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Experimentaldaten das
wissenschaftliche Wissen wieder in das Gemeingut zu verwandeln, das es
traditionell war. *Freie Funknetze* sind selbstorganisierte
Computernetzwerke, die freien Datenverkehr zwischen Computern ermöglichen
und freie Zugangspunkte ins Internet zur Verfügung stellen.

*Interkulturelle Gärten* ("community gardens") sind kleine selbstverwaltete
Gemeingüter, die an vielen Orten der Welt, meist in städtischen Umgebungen,
entstanden sind. Diese Gärten bedeuten den Menschen, die sie hegen oder
besuchen, eine Verbindung zur Natur und zu einer aktiven Gemeinschaft. Die
Beteiligten der *BookCrossing*-Community lassen Bücher, die sie nicht mehr
brauchen, weiter "wandern", gemäß der Idee, dass Bücher geschrieben werden,
um gelesen zu werden und nicht in Regalen zu verstauben. Und die Mitglieder
des *CouchSurfing*-Netzwerks bieten Reisenden unentgeltlich einen
Schlafplatz in der eigenen Wohnung oder eine Stadtführung an -- über eine
Million Menschen in über 200 Ländern sind schon dabei.

Die Zukunft der Peer-Produktion
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Im Bereich der Informationsgüter führt die Peer-Produktion bereits zu
Ergebnissen, die der herkömmlichen Produktion durch Firmen ebenbürtig oder
überlegen sind. Die Wikipedia hat herkömmlichen Konkurrenten wie dem
Brockhaus und der Encyclopaedia Britannica wohl weitgehend den Garaus
gemacht, Linux ist eines der erfolgreichsten Betriebssysteme und im
High-End-Bereich (wie wir gesehen haben) schon absolut führend, der
Apache-Webserver ist seit vielen Jahren der am häufigsten genutzte
Webserver im Internet, und der Webbrowser Firefox scheint seinen schärfsten
Konkurrenten -- den MS Internet Explorer -- in Deutschland mittlerweile
überholt zu haben. In anderen Bereichen wird Peer-Produktion ebenfalls
erfolgreich praktiziert (siehe oben), doch gibt es hier noch keine so
durchschlagenden Erfolgsgeschichten.

Wir sollten aber nicht vergessen, dass die hier beschriebenen Entwicklungen
alle sehr neu sind -- Linux und Apache sind noch keine 20 Jahre alt, die
Wikipedia gibt es seit weniger als zehn Jahren. Wenn die 90er Jahre den
Durchbruch der Freien Software brachten und die 00er Jahre die
explosionsartige Ausbreitung der Freien Inhalte -- Wikipedia und Creative
Commons --, dann könnten die 10er Jahre die große Zeit der Peer-Produktion
jenseits reiner Informationsgüter einläuten. Denn in dieser Hinsicht tut
sich derzeit eine Menge, Stichworte dafür sind insbesondere "Freies Design"
und "Community-basierte Infrastrukturen".

Freies Design
~~~~~~~~~~~~~

In der Peer-Community wird Wissen ganz selbstverständlich als Gemeingut
behandelt. Dass dies für alles öffentlich relevante Wissen gelten sollte,
drückt die Wikimedia-Stiftung (die hinter der Wikipedia steht) so aus:
"Imagine a world in which every single human being can freely share in the
sum of all knowledge." -- "Stellen Sie sich eine Welt vor, in der jeder
Mensch freien Zugang zur Gesamtheit allen Wissens hat." (Wikimedia
Foundation 2010).

Bislang ging es um zwei Arten Freien Wissens: Freie Software und Freie
Inhalte. Derzeit ist eine weitere Art von Freiem Wissen im Kommen: *Freies
Design*, auch *Open-Source-Hardware* oder (etwas ungenau) *Freie Hardware*
genannt. Gemeint sind Projekte, die gemeinsam materielle Produkte entwerfen
und dabei Objektbeschreibungen, Konstruktionspläne und Materiallisten
öffentlich zur Verfügung stellen und als Gemeingut teilen. Das
US-amerikanische Magazin *Make* veröffentlicht jährlich einen großen Report
zum Thema, der in der Ausgabe von Ende 2009 schon über 125 Projekte
enthielt -- mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr (Make 2009). Dazu
gehören Plattformen für Computerhardware wie *Arduino, Bug Labs* und
*OpenCores,* Telekommunikations-Hardware wie *Asterisk* und *Openmoko*
sowie Geräte für Musik und Kunst (z.B. ein Synthesizer und diverse
MP3-Player). Es gibt auch medizinische Projekte, wie das *Open Prosthetics
Project,* das frei nutzbare Prothesen entwickelt.

Besonders interessant sind Dinge, die andere Dinge produzieren können --
dazu gehört der *Contraptor,* eine Plattform für den experimentellen Bau
von CNC- und anderen Maschinen, sowie sogenannte 3D-Drucker wie *Fab Home*
und *RepRap.* CNC-Maschinen stellen Objekte aus Holz oder Metall her, indem
sie die nicht benötigten Teile eines Materialblocks absägen oder wegfräsen
(subtraktive Fertigung). 3D-Drucker produzieren Gegenstände aus Plastik,
indem sie das in Pulverform gebrachte Material Schicht für Schicht
auftragen, wobei die einzelnen Schichten ähnlich wie bei einem
Tintenstrahldrucker quasi "ausgedruckt" werden (additive Fertigung). Solche
Geräte können Grundlage einer freien Produktionsmittel-Infrastruktur
werden.

Bei Freien Designs kann man wie bei Freier Software und anderen Freien
Projekten darauf bauen, dass die Offenheit zu großer Vielfalt führt, da
jede/r mitmachen und eigene Anpassungen oder Erweiterungen beitragen kann.
Dies erhöht die Chancen, dass eine dem eigenen Geschmack oder Bedürfnissen
entsprechende Variante bereits von anderen entworfen und online gestellt
wurde. So können auch Spezialbedürfnisse abgedeckt werden, für die kein
"Markt" vorhanden ist und die von kommerziellen Anbietern normalerweise
ignoriert werden.

Community-basierte Infrastrukturen
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~

Designs und Baupläne nutzen nicht allzu viel, wenn es am Zugang zu den
benötigen Produktionsmitteln und Ressourcen mangelt. Zumindest im Bereich
der Produktionsmittel ist dabei einiges in Bewegung geraten, da viele
Produktionstechniken im Zuge der technologischen Entwicklung günstiger und
zugänglicher werden. Heute können Hobbyist/innen und Peer-Projekte mit
günstig erworbenen oder selbstgebauten Maschinen produzieren, wofür noch
vor wenigen Jahrzehnten eine kapital- und personalintensive Fabrik nötig
gewesen wäre. Dazu gehören die schon erwähnten CNC-Maschinen und
3D-Drucker, aber auch für andere Techniken wie das zur Produktion der
meisten Plastikprodukte eingesetzte *Spritzgießen* finden sich
Selberbau-Projekte im Internet.

Natürlich kann nicht jede/r alle benötigten Tools im eigenen Keller haben.
Wichtig sind daher Projekte, in denen sich z.B. Einwohner/innen eines Dorfs
oder Stadtteils zusammentun, um gemeinschaftlich die benötigte
Infrastruktur aufzubauen und zu betreiben. Einige Beispiele dafür gibt es
schon, so haben die Einwohner der südafrikanischen Gemeinde Scarborough mit
der *Scarborough Wireless User Group* ein dezentrales Mesh-Netzwerk
eingerichtet, das ihrer Stadt den Zugang zum Internet und Telefonnetz
ermöglicht. Die dafür nötige Hard- und Software stammt aus zwei
Freies-Design-Projekten, dem *Village Telco* und dem *Free Telephony
Project.* Die benötigen WLAN-Router werden jeweils von Bürger/innen gekauft
und dem Netz zur Verfügung gestellt -- es gibt niemand, dem das ganze Netz
oder ein Großteil davon gehören würde. Zudem gibt es freiwillige
Abogebühren, um die extern anfallenden Kosten (etwa für die DSL-Zugänge zum
eigentlichen Internet) zu decken. Wer sich nicht finanziell beteiligen will
oder kann, kann das Netzwerk trotzdem nutzen, allerdings werden die
Verbindungen von (finanziell) Beitragenden im Zweifelsfall vorrangig
bedient (Rowe 2010). Auf diese Weise kann sich das Netzwerk selber tragen,
ohne auf einzelne Wohltäter/innen oder externe Geldgeber angewiesen zu
sein, doch gleichzeitig ist sichergestellt, dass niemand ausgeschlossen
wird.

Ähnliche Entwicklungen sind im Bereich offener, auf Freie Hard- und
Software aufbauender Produktionsstätten zu erwarten. Ein Vorläufer, der
allerdings noch großteils auf nichtfreie Produktionsmaschinen zurückgreift,
sind die *Fab Labs* (http://fab.cba.mit.edu/), die in den letzten Jahren in
vielen Ländern (seit kurzem gibt es auch eines in Aachen) entstanden sind.
Fab Labs sind offene Werkstätten, die den Anspruch haben, "beinahe alles"
produzieren zu können. Ganz so weit ist es noch nicht, doch allerhand
nützliche Dinge (z.B. Mobiliar u.a. Holzgegenstände, Kleidung, Platinen
u.a. Computerzubehör) lassen sich dort bereits herstellen. Die größte
Beschränkung ist bislang, dass die verwendeten Werkzeuge proprietär sind --
sie müssen bei bestimmten Herstellern eingekauft werden, ihr Design ist
nicht offen gelegt, und niemand kann bzw. darf sie einfach nachbauen und
verändern. Doch gibt es in der Community Anstrengungen, diese Abhängigkeit
zu überwinden und die "produktive Rekursion" zu erreichen: ein Netzwerk
Freier Produktionsstätten, deren Ausstattung zu 100% Freies Design ist und
in den zusammenarbeitenden Werkstätten selbst reproduziert werden kann.
Dies würde es ermöglichen, weitere Werkstätten aufzubauen, ohne die
benötigte Ausstattung kaufen zu müssen.

Dadurch würde sich die Abhängigkeit vom Markt spürbar reduzieren, auch wenn
damit selbstredend noch nicht alle Probleme gelöst sind. Offen bleibt
insbesondere die Frage, wer die benötigten natürlichen Ressourcen
kontrolliert, denn solange sich die allermeisten Ressourcen im Privatbesitz
einzelner Personen oder Konzerne befinden und gegen Geld erworben werden
müssen, bleiben die Möglichkeiten einer generell "freien", geldlosen
Produktionsweise stark beschränkt.

Reclaim the Commons!
~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~

Die Commons-Perspektive kann hier Antworten bieten, denn die gemeinsame
Verwaltung und Nutzung natürlicher Ressourcen -- etwa Land, Wasser, Luft
und Wälder -- als Gemeingüter war und ist an vielen Orten und auf
vielfältige Weise gängige Praxis. Commons-Forscher/innen wie Elinor Ostrom
(1999, 2009), die für ihre Arbeiten mit dem Wirtschaftsnobelpreis 2009
ausgezeichnet wurde, und Historiker/innen wie Peter Linebaugh (2008) haben
dazu viel zu sagen. Die Gemeinschaften der "Commoners", die diese
Ressourcen nutzten und sich um sie kümmerten, hatten Regeln entwickelt, um
allen fairen Zugang zu ermöglichen und zugleich Übernutzung und Zerstörung
der Commons zu verhindern.

Dagegen ist bei privatisierten und "eingezäunten" ehemaligen Gemeingütern
maximale Ausbeutung ohne Rücksicht auf andere und oft sogar ohne Rücksicht
auf die Zukunft ganz normal -- Bodenerosion, das Schrumpfen der
Regenwälder, der drohende Kollaps von Fischbeständen, die für Menschen und
Natur oft verheerenden Konsequenzen der Erdölförderung etwa in Südamerika
(Klima-Bündnis 2004), und nicht zuletzt die Übernutzung der Atmosphäre als
"Emissionshalde" und die dadurch ausgelöste, für die Zukunft der Menschheit
bedrohliche globale Erwärmung sprechen hier eine deutliche Sprache. Es gab
und gibt zahlreiche Auseinandersetzungen, in denen sich Menschen gegen
diese Zumutungen wehren und sich um eine Wiederaneignung der Commons
bemühen (Bollier 2002, Helfrich 2010), und noch viel mehr werden nötig
sein.

In einer auf Peer-Produktion basierenden Gesellschaft werden das Wissen und
die Natur Gemeingüter sein, die allen zustehen, und die Menschen werden
sich per "Selbstauswahl" die Aufgaben aussuchen, mit denen sie sich
beschäftigen, nach dem Motto: "Was man gerne macht, macht man meist auch
gut". Noch ist es nicht so weit, doch der Weg dorthin zeichnet sich schon
ab. Wer mehr wissen möchte, kann in Siefkes (2008, 2009) sowie bei
www.keimform.de <http://www.keimform.de/> weiterlesen.

Literatur
---------

- Bollier, David (2002): Reclaiming the Commons. In: Boston Review 27
  (3--4). URL http://www.bostonreview.net/BR27.3/bollier.html (Zugriff am
  27.1.2010).
- GNU-Projekt (2002): Die Definition Freier Software. URL
  http://www.gnu.org/philosophy/free-sw.de.html (Zugriff am 15.1.2010).
- Helfrich, Silke (2010): Commonsblog. URL
  http://commonsblog.wordpress.com/ (Zugriff am 27.1.2010).
- Klima-Bündnis (2004): Der Fluch des Erdöls. URL
  http://www.erdoelinamazonien.org/fluch.html (Zugriff am 27.1.2010).
- Linebaugh, Peter (2008): The Magna Carta Manifesto. Berkeley: University
  of California Press.
- Make (2009): Open Source Hardware 2009. URL
http://blog.makezine.com/archive/2009/12/open_source_hardware_2009_-_the_def.html
  (Zugriff am 25.1.2010).
- Ostrom, Elinor (1999): Die Verfassung der Allmende. Tübingen: Mohr.
- Ostrom, Elinor (2009): Gemeingütermanagement -- eine Perspektive für
  bürgerschaftliches Engagement. In: Silke Helfrich/Heinrich-Böll-Stiftung
  (Hrsg): Wem gehört die Welt? München: Oekom, S. 218--228. URL
  http://commonsblog.wordpress.com/das-buch-el-libro/ (25.1.2010).
- Raymond, Eric (1999): Die Kathedrale und der Basar. URL
  http://gnuwin.epfl.ch/articles/de/Kathedrale/ (Zugriff am 14.1.2010).
- Rowe, David (2010): Baboons, Mesh Networks, and Community. URL
  http://www.rowetel.com/blog/?p=124 (Zugriff am 22.1.2010).
- Siefkes, Christian (2008): Beitragen statt tauschen. Neu-Ulm: AG SPAK
  Bücher. Originalausgabe: From Exchange to Contributions. Berlin 2007.
  URL: http://www.peerconomy.org/ (Zugriff am 25.1.2010).
- Siefkes, Christian (2009): Ist Commonismus Kommunismus? In: PROKLA 39
  (2), S. 249--268. URL:
  http://www.keimform.de/2009/07/17/ist-commonismus-kommunismus-html/
  (Zugriff am 25.1.2010).
- TOP500 (2009): Operating System Family Share for 11/2009. URL
  http://www.top500.org/stats/list/34/osfam (Zugriff am 14.1.2010).
- Wikimedia Foundation (2010): Strategic Planning. URL
  http://strategy.wikimedia.org/ (Zugriff am 23.1.2010).


-- 
|------- Dr. Christian Siefkes ------- christian siefkes.net -------
| Homepage: http://www.siefkes.net/ | Blog: http://www.keimform.de/
|    Peer Production Everywhere:       http://peerconomy.org/wiki/
|---------------------------------- OpenPGP Key ID: 0x346452D8 --
The end of labor is to gain leisure.



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