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[ox-de] keimform.de: Von kopierbaren Dingen, offenen Produktionsstätten und berührbaren Bits



URL: http://www.keimform.de/2009/12/02/beruehrbare-bits/
Erschienen in der Contraste <http://contraste.org/> 12/2009.


Das Projekt »Tangible Bit« (»berührbares Bit«) will für materielle Produkte
möglich machen, was für Freie Software schon geht: jede/r soll sie sich
problemlos besorgen können, jede/r soll sich an ihrer Weiterentwicklung und
Verbesserung beteiligen können, und jede/r soll sie an andere weitergeben
und mit anderen teilen können.

Wenn ich (z.B. bei einem Freund) eine Software sehe, die mich interessiert,
kann ich sie ganz einfach selber installieren – entweder er kopiert sie mir
oder ich besorge mir eine Kopie auf der Homepage der Software. Unter freien
Betriebssystemen wie Linux und BSD geht es noch einfacher: dort gibt es
sogenannte Repositories (Verzeichnisse) der verfügbaren Software. Dort muss
ich nur den Namen des Softwareprogramms eingeben und auf Knopfdruck beginnt
mein Computer mit der Installation desselben. Oft bestehen noch
»Abhängigkeiten« zwischen Programmen: um eine Software B nutzen zu können,
muss ich zunächst ein anderes Programm A installieren. Unter Windows habe
ich mich darum selber zu kümmern – unter Linux nicht, da erledigt das
Repository das automatisch.

Freie Software erlaubt mir noch mehr: ich kann sie nicht nur frei verwenden,
sondern auch verändern, erweitern und besser an meine eigenen Bedürfnisse
anpassen (sofern ich mich damit auskenne). Und ich kann sie an andere
weitergeben, sowohl in originaler als auch in verbesserter Form.
Wie soll das Ganze nun für materielle Objekte funktionieren? Objekte können
doch nicht einfach heruntergeladen und »installiert« werden, sie müssen erst
einmal produziert werden. Keine Sorge: das Tangible-Bit-Projekt will keine
Wundermaschinen bauen, die materielle Dinge ebenso unkompliziert kopieren
wie Computer Informationen – es geht hier nicht um Fabber (oder höchstens am
Rande – siehe Exkurs).

Statt auf Wundermaschinen setzt »Tangible Bit« (nennen wir es kurz »TBit«)
vielmehr auf die Kombination von Freiem Design mit dezentralen, idealerweise
als Commons gestalteten Produktionsstätten und Materialsammlungen. Das
Gegenstück zur Softwareinstallation könnte etwa so aussehen: Ich entdecke
bei einer Freundin ein Objekt, das ich in gleicher oder ähnlicher Form auch
gebrauchen könnte – sei es ihr Bücherregal, ihr Essgeschirr oder ihr
MP3-Player. Ich frage sie nach dem Namen des Objekts und gebe diesen auf der
TBit-Website oder in einer auf meinem Rechner installierten
Verzeichnis-Software ein. Daraufhin erhalte ich detaillierte Baupläne und
Prozessbeschreibungen, die verraten, welche Eigenschaften das gewünschte
Objekt hat, aus welchen Materialien und Komponenten es besteht, wie man es
herstellen, verwenden und im Bedarfsfall reparieren kann.

Die Prozessbeschreibungen enthalten zudem eine Auflistung der Maschinen und
Werkzeuge, die nötig sind, um das Objekt herzustellen. Damit muss ich mich
kaum beschäftigen, denn das tut mein Computer: es spuckt mir zum Beispiel
eine Liste der Produktionsstätten in meiner Nachbarschaft aus, die über die
nötige Ausstattung verfügen. Ich suche mir, etwa anhand von Preis, Sympathie
und räumlicher Nähe jene aus, die mir geeignet erscheinen. Dort kann ich mir
mein Wunschobjekt anfertigen lassen (oder ich schicke per Internet eine
Bestellung ab und erhalte es einige Tage später per Post).


Freies Design und dezentrale, offene Produktionsstätten

Der erste Baustein des Projekts – wie anderer Projekte der »commonsbasierten
Peer-Produktion« –ist Freies Design. Immer mehr Wissen wird im Internet mit
anderen geteilt und gemeinsam weiterentwickelt und verbessert. Neben Freier
Software, Freien Texten wie der Wikipedia und Freien Musik- oder
Filmprojekten gibt es inzwischen auch Projekte, die gemeinsam materielle
Produkte entwerfen und dabei Konstruktionspläne, Materiallisten und
Objektbeschreibungen öffentlich zur Verfügung stellen und als Gemeingut
teilen. Dies wird Open-Source-Hardware oder Freies Design genannt (mehr zu
Freiem Design im Artikel »Commons-Netzwerke« im Januar-2009-Schwerpunkt der
Contraste – das hier vorgestellte Projekt knüpft in mehrerer Hinsicht an
dort diskutierte Entwicklungen und Konzepte an.)

Bei Freien Designs kann man wie bei Freier Software und anderen Freien
Projekten darauf bauen, dass die Offenheit zu großer Vielfalt führt, da
jede/r mitmachen und eigene Anpassungen oder Erweiterungen beitragen kann.
Dies erhöht die Chancen, dass eine dem eigenen Geschmack oder Bedürfnissen
entsprechende Variante bereits von anderen erstellt und hochgeladen wurde.
So können gerade auch Spezialbedürfnisse abgedeckt werden, für die kein
»Markt« vorhanden ist und die von kommerziellen Anbietern daher
normalerweise ignoriert werden.

Den zweiten Baustein bilden dezentrale Produktionsanlagen und
Materialsammlungen. Dieser Baustein basiert auf einer Entwicklung, die mit
der Ausweitung der Peer-Produktion zusammenhängt: Produktionstechniken
werden im Zuge der technologischen Entwicklung günstiger und zugänglicher –
heute können Hobbyist/innen mit günstig erworbenen oder selbstgebauten
Maschinen produzieren, wofür noch vor wenigen Jahrzehnten eine kapital- und
personalintensive Fabrik nötig gewesen wäre.

Hier sind die Fab Labs (http://fab.cba.mit.edu/) von Interesse, die in den
letzten Jahren in vielen Ländern (leider noch nicht in Deutschland)
entstanden sind. Fab Labs sind offene Werkstätten, die über ein
reichhaltiges Sortiment an additiven und v.a. subtraktiven
Produktionsmaschinen verfügen (siehe Exkurs zu Produktionstechniken), die
sie öffentlich zugänglich machen. Anspruch der Fab Labs ist, »beinahe alles«
produzieren zu können. Das ist etwas ambitioniert, doch allerhand nützliche
Dinge (z.B. Mobiliar u.a. Holzgegenstände, Kleidung, Platinen u.a.
Computerzubehör) lassen sich bereits herstellen. Die Fab Labs sind aus einer
Initiative des US-amerikanischen MIT hervorgegangen. Heute gibt es mehrere
Dutzend davon, in Nord- und Südamerika, Afghanistan, Indien, Afrika und
Europa (u.a. in Holland, Spanien und Island) – Smári McCarthy, der Gründer
und Maintainer des TBit-Projekts, hat das isländische Fab Lab aufgebaut.

Ziel der Fab Labs ist nicht nur, nützliche Dinge zu produzieren, sondern
auch einer Community von Nutzer/innen Räume für gegenseitige Unterstützung
und den Austausch von Wissen zu öffnen. Die Charta der Labs legt Spielregeln
für die Community fest: man darf alles produzieren, was niemandem schadet
(also z.B. keine Waffen); man soll dokumentieren, was man tut, und das
gesammelte Wissen an andere weitergeben; man soll stets vorsichtig sein, das
Lab in gutem Zustand hinterlassen, und einen Beitrag zur Wartung und Pflege
der Ausstattung leisten.

Die größte Beschränkung der Fab Labs (die auch mit der Industrienähe des MIT
zusammenhängen könnte) ist, dass die verwendeten Werkzeuge proprietär sind –
sie müssen bei bestimmten Herstellern eingekauft werden, ihr Design ist
nicht offen gelegt, und niemand kann bzw. darf sie einfach nachbauen und
verändern. Ein Anliegen von Tangible Bit und von Teilen der
Fab-Lab-Community ist es, diese Beschränkung zu überwinden und die
»produktive Rekursion« zu erreichen: ein Netzwerk Freier Produktionsstätten,
deren Ausstattung zu 100% Freies Design ist und in den zusammenarbeitenden
Werkstätten selbst reproduziert werden kann. Dies würde es ermöglichen,
weitere Werkstätten aufzubauen, ohne die benötigte Ausstattung kaufen zu müssen.

Dadurch würde sich die Abhängigkeit vom Markt spürbar reduzieren, auch wenn
damit selbstredend noch nicht alle Probleme gelöst sind. Offen bleibt
insbesondere die Frage, wer die benötigten natürlichen Ressourcen
kontrolliert: muss man sie kaufen oder werden sie als Gemeingüter geteilt
(und auf welche Weise)? Spätestens hier wird es immens politisch...

Solange noch Kosten für Miete und Materialien anfallen, stellt sich die
Frage nach deren Finanzierung. Denkbar sind hier etwa individuelle
Abrechnung anhand der verbrauchten Materialien, vereinsartige Strukturen, wo
jede/r (ggf. in Abhängigkeit von Vermögen oder Einkommen) einen Beitrag
leistet, oder regelmäßige Spendenaufrufe wie bei der Wikipedia. Zu klären
ist ebenfalls, wer sich worum kümmert und wie die notwendigen Tätigkeiten
aufgeteilt werden – ob dies spontan funktioniert (wie bei Freier Software)
oder ob es dafür Modelle expliziter Vereinbarungen braucht, wie ich sie in
meinem Buch "Beitragen statt tauschen" (AG SPAK Bücher, 2008,
http://peerconomy.org/) diskutiere.

Auch wenn wir noch am Anfang stehen, zeichnen sich Elemente einer
postkapitalistischen, auf Kooperation und Gemeingütern basierenden
Produktionsweise bereits ab. Freies Design, gemeinschaftlich betriebene
Produktionsstätten und deren Vernetzung können hier wichtige Bausteine sein.
Auf der Website des vorgestellten Projekts (http://tangiblebit.com/) ist
derzeit noch nicht viel zu sehen, aber Hilfe ist herzlich willkommen. Wer
mitmachen will, wende sich am besten an mich oder (auf Englisch) an Smári
McCarthy (smari ät anarchism.is).


Kleiner Exkurs zu Produktionstechniken

Ein Großteil der materiellen Produktionstechniken lässt sich in drei Gruppen
einteilen: additive und subtraktive Verfahren sowie Urformverfahren.

Additive Verfahren sind ein neuer und bisweilen gehypter Ansatz. Diese oft
als »Fabber« oder »3D-Drucker« bezeichneten Maschinen produzieren Objekte,
indem sie das in flüssige oder Pulverform gebrachte Material Schicht für
Schicht auftragen. Die einzelnen Schichten werden dabei ähnlich wie bei
einem Tintenstrahldrucker quasi »ausgedruckt«; durch das Übereinanderlegen
vieler Schichten entsteht ein dreidimensionaler Gegenstand. Fabber eignen
sich v.a. für die Verarbeitung von Plastik oder Metall, doch einige
Verfahren können auch mit anderen Materialien wie Keramik oder Glas umgehen.

Additive haben gegenüber subtraktiven Verfahren den Vorteil, dass kein bzw.
wenig Abfall anfällt; sie haben den Nachteil, relativ langsam zu sein und
weniger Materialien verarbeiten zu können. Es gibt zwei Freie
Fabber-Projekte – RepRap (http://reprap.org/) und Fab Home
(http://fabathome.org/) – die sich bislang im Entwicklungsstadium befinden
und noch keine ernsthaften Anwendungen ermöglichen; bei kommerziellen
additiven Maschinen (die ab ca. 10–50.000 € zu haben sind) sieht es anderes
aus, diese werden etwa im Flugzeugbau oder in der Zahntechnik bereits
regelmäßig eingesetzt.

Für subtraktive Verfahren wird ein Materialblock benötigt, der größer ist
als das zu erzeugende Objekt. Die nicht benötigten Teile des Materials
werden dann (z.B. durch Absägen oder Wegfräsen) entfernt, bis die gewünschte
Form übrig bleibt (z.B. ein Tischbein oder ein metallisches Werkzeug).
Subtraktive Verfahren sind besonders für die Bearbeitung fester Stoffe wie
Holz und Metall geeignet. Moderne subtraktive Maschinen werden nicht mehr
manuell bedient, sondern per Computer gesteuert – sie werden oft
CNC-Maschinen (computerkontrollierte Maschinen) genannt (auch wenn streng
genommen auch Fabber u.a. computergesteuerte Maschinen CNC-Maschinen sind).
Im Internet gibt es zahlreiche frei dokumentierte und kostengünstige
CNC-Maschinen (z.B. PMinMO: http://pminmo.com/), die anders als RepRap & Co.
auch für ernsthafte Anwendungen geeignet sind.

Urformverfahren benötigen eine Form, in oder auf die das erhitzte Material
gegossen oder gepresst wird; nach dem Erkalten behält das Material die
vorgegebene Form. Ein wichtiges Urformverfahren ist das Spritzgießen, bei
dem geschmolzenes Plastik unter hohem Druck in eine Metallform gepresst wird
– ein Großteil aller Plastikprodukte entsteht auf diese Weise.

Anders als additive und subtraktive Verfahren sind Urformverfahren weniger
für die »On-demand-Produktion« geeignet, bei der auf Wunsch ein (ggf.
individuell angepasstes) Einzelstück erstellt wird. Da zunächst eine Form
hergestellt werden muss, lohnt sich die Produktion erst bei größeren
Stückzahlen. Aber auch hier wirkt der technische Fortschritt: während das
Spritzgießen früher als teure High-End-Technologie galt, die erst ab
fünfstelligen Stückzahlen rentabel war, kann es sich heute Dank günstiger
Produktionsmaschinen und Formen schon ab Dutzenden oder Hunderten von
Exemplaren lohnen. Im Internet tauchen bereits frei dokumentierte
professionelle Spritzgießmaschinen zum Selberbauen auf (z.B. in »Max’s
Little Robot Shop«: http://www.users.uswest.net/~kmaxon/).

Hier ergibt sich eine interessante Parallele zur Produktion Freier Software:
bei Software fällt praktisch der gesamte Aufwand für das einmalige
Programmieren der Software an, die dann in beliebig vielen Kopien verbreitet
werden kann, ohne dass dadurch nennenswerte Zusatzkosten entstehen. Ganz
ähnlich sieht es beim Spritzgießen aus, wo das einmalige Anfertigen der
Produktionsmaschinen und der Formen aufwendig ist, der Material- und
Arbeitsaufwand für das Anfertigen eines einzelnen Exemplars in dem
hochautomatisierten Prozess dagegen minimal bleibt. Dies könnte bei
materieller Produktion ermöglichen, was bei Freier Software
selbstverständlich ist: Leute tun sich zusammen, um etwas zu produzieren,
und teilen die Ergebnisse ihres Tuns (Exemplare des erstellten Produkts) mit
allen weiteren Interessent/innen, ohne von diesen eine Gegenleistung
einfordern zu müssen.


Herzliche Grüße
	Christian

-- 
|------- Dr. Christian Siefkes ------- christian siefkes.net -------
| Homepage: http://www.siefkes.net/ | Blog: http://www.keimform.de/
|    Peer Production Everywhere:       http://peerconomy.org/wiki/
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Just so that nobody takes his guess for the full truth, here's my standing
on "keeping control", in 2 words (three?):
I won't.
        -- Linus Torvalds, The Tanenbaum-Torvalds Debate



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