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Re: [ox-de] keimform.de: Open Source Jahrbuch: Das erste Kapitel



Hallo HGG,

Hans-Gert Gräbe wrote:
Christian Siefkes schrieb am 25.3.2007: 
[...] Bärwolffs Artikel über "Die
ökonomischen Grenzen freier Software"
[http://www.opensourcejahrbuch.de/portal/article_show?article=osjb2007-00-03-baerwolff.pdf]
(S. 9) beginnt mit Worten:

-----
    Wenn die Freiheit des Einzelnen und die prinzipielle Unverletzlichkeit
    des Eigentums das Fundament unserer Gesellschaft bilden sollen, so
    gehört dazu zweifellos auch die Freiheit, anderen sein Eigentum oder
    Rechte daran in freundlicher Absicht weiterzugeben. Die Freiheit, von
    der Richard Stallman in seinem Artikel "Warum ‘Open Source’ das
    Wesentliche von ‘Freier Software’ verdeckt" spricht, hat also wahrlich
    nichts mit Kommunismus zu tun, sondern mit genau den bürgerlichen
    Freiheiten, die wir auch den Ackermanns dieser Welt zubilligen.
-----

Hehe -- eine explizitere Bestätigung für Sabine Nuss'
[http://copyriot.in-berlin.de/] Thesen ist wohl kaum vorstellbar ;-)

Nun ja, ich gehe mal davon aus, dass Stallman deutlich besser versteht,
was mit "Kommunismus" gemeint ist als Bärwolff, jedenfalls kann ich die
entsprechende Interviewsequenz ("what about communism?") im Film "The
Revolution OS" nicht anders interpretieren.

Stallman spricht schließlich von der Freiheit, die eigenen
Lebensbedingungen (in Bezug auf die für ihn wichtige Komponente der
Verfügbarkeit von Quellcode und Wissen allgemein) selbst zu gestalten.
Und das ist wohl kaum was anderes als Marxens Kommunismusverständnis im
Vorwort der "Deutschen Ideologie": Kommunismus = Produktion der
Verkehrsformen der Gesellschaft.

Ich kenne den Film nicht und er scheint ja auch nicht frei zugänglich zu
sein, aber -- wohl kaum:

Was das mit "Bestätigung der Thesen von Sabine Nuss" zu tun hat, hat
sich mir aber nicht erschlossen.

Und wenn man es mit den Freiheiten ("Was aber ist Freiheit, wenn es
nicht die törischte Freiheit sein soll, das Falsche zu tun?" - PM) ernst
meint, dann kann man sie den Ackermanns auch nicht vorenthalten, denn es
sind _Menschen_rechte, auch die kommunistischen Freiheiten (oder die
einer Freien Gesellschaft)

So sieht das ja auch Bärwolff, der es ja toll findet, dass Open Source sich
so einwandfrei ins bürgerliche Konzept fügt, statt es in Frage zu stellen.
Aber die bürgerliche Freiheit, andere ausbeuten (= für sich arbeiten zu
lassen) zu dürfen, setzt natürlich an andere Stelle den strukturellen Zwang,
sich ausbeuten lassen zu müssen, voraus. Der Kapitalismus stellt diesen
Zwang über sein Eigentumskonzept her (wer nicht hinreichend Eigentum hat
oder bekommen kann, um andere ausbeuten zu können, ist gezwungen, sich
selbst ausbeuten zu lassen, sofern er/sie sich nicht mit einem äußerst
kläglichen Leben abfinden will).

Wer aber diesen strukturellen Zwang, sich ausbeuten zu lassen, aufhebt, hebt
damit natürlich zugleich auch die bürgerliche Freiheit, andere ausbeuten zu
können, auf (sie besteht dann vielleicht noch auf dem Papier, hat aber
keinerlei praktische Relevanz mehr, da es niemand gibt, auf den sie sich
bezieht). Deshalb wird jeder Versuch, diesen strukturellen Zwang aufzuheben
(= "Kommunismus") von den Ackermanns (und HGGs?) dieser Welt als
unfreiheitlich empfunden, weil er ihre real bestehenden Freiheiten
(Handlungsmöglichkeiten) reduziert -- genau wie ein vorbürgerlicher König
die bürgerliche Rechtsordnung als unfrei empfinden muss, weil sie seine
Freiheit, seinen Untergebenen die Köpfe abschlagen zu dürfen, negiert.

Mit Kommunismus hat die bürgerliche Freiheit, seine Untergebenen ausbeuten
zu dürfen, aber natürlich genauso wenig zu tun, wie die königliche Freiheit,
seinen Untertanen den Kopf abschlagen zu dürfen. Eine Gesellschaft, die man
"kommunistisch" nennen könnte, wäre eine, wo es weder Untertanen noch
Untergebene gibt, so dass diese _beiden_ "Freiheiten" keinerlei Relevanz
mehr hätten, weil es nichts mehr gibt, worauf sie sich beziehen.

Stallman & Co. stellen die bürgerliche Rechtsordnung, d.h. den strukturellen
Zwang, sich ausbeuten lassen zu müssen, der sich aus dem kapitalistischen
Eigentumskonzept ergibt, aber explizit _nicht_ in Frage. Im Gegenteil
berufen sie sich sogar explizit darauf, weil sowohl die praktische
Absicherung (FOSS-Lizenzen) als auch die theoretische Begründung ihrer
Konzepte auf dem Idee des *Eigentümers*, der seine Lizenz nach eigenem
Gutdünken wählen kann, aufbaut.


<Einschub zu Stallman>
Stallman geht in seiner Kritik hier zwar tatsächlich weiter als der Rest der
FOSS-Bewegung. Aus Texten (wie dem seinerzeit von mir übersetzen) "Warum
Software keine Eigentümer haben sollte"
[http://www.gnu.org/philosophy/why-free.de.html] wird aber sehr schnell
klar, dass er das bürgerliche Eigentumskonzept nicht grundsätzlich in Frage
stellt (Software sollte vielleicht keinen Eigentümer haben, materielle Dinge
aber schon).

Zweitens (und vielleicht weniger leicht zu sehen), negiert Stallman auch in
Bezug auf Software das bürgerliche Eigentumskonzept nicht komplett, sondern
verortet es nur anderswo: Stallman argumentiert, dass Software wie ein Auto
behandelt werden sollte -- wenn ich ein Auto habe, habe ich das Recht, es
nach eigenem Gutdünken an andere weitergeben und/oder es umzubauen. Stallman
argumentiert, dass ich auch bei Software diese Rechte haben sollte, sprich
dass sich das Eigentum beim Kauf/Erwerb auf den neuen Besitzer übertragen
sollte, wie es bei materiellen Dingen üblich ist, bei Software aber nicht.
Diese Frage, wo das Eigentum beim Erwerb verbleiben soll, ob es
mitübertragen wird oder nicht, setzt den bürgerlichen Eigentumsbegriff aber
schon voraus -- sie negiert ihn nicht, sondern interpretiert ihn nur auf
andere Weise.
</Einschub Ende>


Grundsätzlich wird das Eigentum, und damit der strukturelle Zwang, also
anerkannt und keineswegs in Frage gestellt, weder von Stallman noch vom Rest
der FOSS-Bewegung. Das ist der Punkt, den sowohl Sabine Nuss als auch
Bärwolff sehen, nur dass Nuss ihn als unzureichend kritisiert, während
Bärwolff ihn toll findet.

Wobei die kommunistische Situation, dass sowohl der unmittelbare Zwang des
Königs (Köpfen) als auch der strukturelle Zwang der Bürgertums (Verhungern
bzw. Verelenden) aufgehoben sind, in der _Praxis_ der Freien Software ja
schon partiell besteht. Ein Linus Torvalds _kann_ seine Mitarbeiter/innen
(die mit ihm am Linux-Kernel arbeiten) nicht ausbeuten -- anders als ein
Bill Gates --, weil sie nicht von ihm abhängig sind. In der Praxis der
(doppelt) Freien Software gibt es weder Untertanen noch Untergebene, in der
Theorie aber wird das Eigentum, und damit die Existenz von Untergebenen,
nach wie vor akzeptiert.

Die Existenz dieser Praxis ist ein klarer Hoffnungsschimmer (sofern man den
strukturellen Zwang schlecht findet), nur ist eben die Frage, wie weit sie
ohne eine entsprechende Theorie kommen kann. Das ist der Punkt, an der ich
mir Sabine Nuss nicht so ganz einig bin, auch wenn ich ihre Analyse der
Theorie teile: Ich finde die Existenz der Praxis schon mal sehr wichtig, und
beurteile das Potenzial der Freien Software daher weniger pessimistisch als
Sabine. Aber dass das Fehlen einer zu dieser Praxis passenden Theorie ein
erhebliches Problem ist, das Weiterentwicklung und Ausbau dieser Praxis
_zumindest_ stark erschwert, sehe ich auch.

Ciao
	Christian

-- 
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