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[ox] neue IKT & gesellschaftl. Entwicklung (was: Wissens- und/oder Informationsgesellschaft?)



Eigentlich wollte ich zu dem Thema "Wissens- und/oder
Informationsgesellschaft?" etwas ganz anderes schreiben, aber das muss nun
noch warten. Denn Stefans Kommentar bietet einige interessante
Anknüpfungspunkte, um die Frage "Wissens- und/oder Informationsgesellschaft?"
 in einem (historischen) heuristischen Bezugsrahmen zu verorten.
Ich bitte um Nachsicht dafür, dass der Text am Ende doch wesentlich länger
geworden ist, als ursprünglich geplant? 

Stefan Matteikat <smatteikat web.de> schrieb:

es war Anfang der
neunziger Jahre keineswegs abzusehen, daß unter den verschiedenen 
konkurrierenden (und rein technisch betrachtet gleichwertigen) 
Netzwerktechnologien gerade die (offene!) des Internet das Rennen machen
würde. Nimmt man nun Deinen Ansatz, folgt daraus - aus heutiger Sicht -, daß 
es jedenfalls kein Zufall war. Ich war noch vor gar nicht so langer Zeit z.B. 
der Auffassung, daß der Buchdruck sich vor 500 Jahren deshalb so rasant 
ausbreitete, weil die Technologie eben so gut war. Es war aber offenbar genau 
umgekehrt: es bestand bereits ein immenser gesellschaftlicher Bedarf für 
genau eine derartige Technologie, so daß sie sich deshalb so schnell 
durchsetzte.

Daher bin ich, alles in allem, doch ziemlich optimistisch. 

Die Erfindung eines technologischen PRINZIPS (wie etwa des Buchdrucks mit
beweglichen Lettern oder digitaler Netztechnologien) sagt erst einmal noch
sehr wenig darüber aus, in welchen konkreten Anwendungen diese Technologie
dann genutzt wird, und wie sich dies auf die weitere gesellschaftliche
Entwicklung auswirkt. Darauf weist beispielsweise Barber (1998:122) hin, wenn
er schreibt: ?Wer Technologie BESITZT, wie sie eingesetzt wird und von wem und
zu welchen Zwecken: das sind die entscheidenden Fragen, und ihre Beantwortung
ist für die Rolle, die die Technologie tatsächlich im kommenden Jahrhundert
spielen wird, von entscheidender Bedeutung.?
Besonders brisant ist dies gerade bei Technologien, wie dem Buchdruck oder
Netztechnologien, also bei Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT),
denn diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie tiefgreifender und
grundlegender als andere Technologien die BEDUNGUNG DER MÖGLICHKEIT VON
SOZIALITÄT VERÄNDERN. Bei IKT handelt es sich um  Technologien, die (i) die
Möglichkeiten im gesellschaftlichen Umgang mit Informationen grundlegend
erweitern, wodurch Technologien auch (ii) Einfluß darauf nehmen, was von wem
gewusst werden kann. Deshalb wurden die epochalsten gesellschaftlichen
Umbrüche durch Erfindung im Bereich IKT eingeleitet, wie etwa die Erfindung
(I) der Schrift (II) des Buchdrucks sowie (III) digitaler IKT. 

Im folgenden möchte ich kurz andeuten, (A) warum ich denke, dass sich alle
drei "Revolutionen" im Bereich IKT nicht zwangsläufig auf eine bestimmte Art
und Weise (etwa emanzipatorisch) auf die weitere gesellschaftliche Entwicklung
auswirken mussten bzw. müssen, sondern geradezu GEGENSÄTZLICHE WIRKUNGEN
ENTFALTEN KÖNNEN; und (B) welche Überlegungen sich aus einer solchen
historischen Betrachtung ableiten lassen:

#####################
#  Beispiel Schrift #
#####################
Durch die Erfindung der Schrift war erstmals die Übertragung von Informationen
über größere räumliche und zeitliche Distanzen hinweg möglich. Der Einfluss
dieser Erfindung auf die weitere gesellschaftliche Entwicklung ist kaum zu
überschätzen. [Fußnote 1] (wer sich dafür interessiert: Eine kurze Einführung
in das Thema liefern Goody/ Watt/ Gough 1986).

Ganz allgemein kann man zunächst sagen, dass die ?Schrift-Technologie? zwei
?Potentiale? in sich birgt, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen:
(1) Schrift als Herrschaftsinstrument: durch die Schrift lässt sich die
Leistungsfähigkeit bei der Organisation größerer sozialer Einheiten
(bürokratische Verwaltungen gab es schon im frühen Ägypten; legendär wurde
auch die chinesischen Beamtenkaste - die Mandarine) deutlich verbessern,
weshalb man die Schrift als ein wichtiges Werkzeug zur Ausdehnung der
Herrschaft von Menschen über Menschen bezeichnen kann. [vgl. Fußnote 2]
(2) Das emanzipatorische Potential von Schrift: Durch die Schrift lassen sich
Sender und Empfänger von Kommunikation sowohl zeitlich als auch räumlich
voneinander trennen. Dadurch wird die Kontrolle über die Entstehung und
Verbreitung von herrschaftskritische Ideen erschwert (vgl. Fußn. 1). 

Die konkrete praktische Umsetzung der ?Schrift-Technologie? sah jedoch in
verschiedenen Gesellschaften völlig unterschiedlich aus: Ganz grob lassen sich
einerseits die Zeichenschrift (setzte sich u.a. in China bis heute durch) und
andererseits die phonetische Schrift (wurde von den alten Griechen erfunden)
unterscheiden. Ob ein Kulturkreis nun eine phonetische oder eine
Zeichenschrift einführte hatte weit reichende Folgen, wie ich nur kurz anhand
eines Zitats (aus: Goody/Watt/Gough) andeuten möchte:
* [Zeichenschrift] "Da das Chinesische mehr als 50 000 Schriftzeichen hat,
dauert es in der Regel ungefähr zwanzig Jahre, bis man es vollständig gelernt
hat.  [...] Wenn ein im Grunde nicht-phonetisches Schriftsystem so weit
entwickelt wird, dass es eine große Zahle von Bedeutungen eindeutig ausdrückt,
kann nur eine kleine und besonders unterrichtete professionelle Gruppe in der
Gesellschaft die Schrift beherrschen und an der literalen Kultur teilhaben.
[...] Es [ist] eine nicht zu übersehende Tatsache, dass sich in Ägypten und
Mesopotamien ebenso wie in China eine gebildete Elite von Autoritäten und
Sachkundigen auf den Gebieten der Religion, der Verwaltung und des Handels
entwickelte, die sich auf recht ähnliche Weise als zentralisierte
Regierungsbürokratie behauptete. [...] Was die Teilhabe der Gesellschaft als
ganzer  an der schriftlichen Kultur angeht, so bestand eine gewaltige Kluft
[...] an deren Aufrechterhaltung die literale Elite größtes Interesse hatte.
(Goody/Watt/Gough S. 
** [Phonetische Schrift] Die Vorstellung, einen Laut durch ein graphisches
Symbol zu repräsentieren, ist ein derart erstaunlicher Sprung des menschlichen
Denkens, dass das Bemerkenswerte daran nicht so sehr  darin zu sehen ist, dass
er erst relativ spät in der menschlichen Geschichte erfolgte, sondern vielmehr
darin, dass er überhaupt erfolgte. [...] Der Erfolg des Alphabets gründet
darin, dass sein System der graphischen Repräsentation sich diese in allen
Sprachsystemen gesellschaftlich konventionalisierte Lautstruktur zunutze
macht, denn dadurch, dass das Alphabet diese ausgewählten phonetischen
Elemente symbolisiert, wird es möglich, alles, worüber die Gesellschaft
sprechen kann, ohne Mühe aufzuschreiben und die Schrift ohne Mehrdeutigkeit zu
lesen. [...] Zunächst ist die Leichtigkeit, die alphabetische Schrift zu
schreiben und zu lesen, ein bedeutsamer Faktor in der Entwicklung  der
politischen Demokratie in Griechenland gewesen.? (Goody/Watt/Gough S.104ff)

In diesen beiden konkreten Ausprägungen der ?Schrift-Technologie? kam das
Potential, das dieser Technologie ganz grundsätzlich inhärent ist (das
Potential als Herrschaftsinstrument sowie das emanzipatorische Potential) also
in geradezu gegensätzlicher Weise zur Geltung.  Als Folge davon stellten sich
den herrschenden Eliten des europäischen und der chinesischen Kulturraums ganz
 unterschiedliche Probleme und Herausforderungen, wenn es darum ging, ihre
Herrschaft zu sichern: 
* Dort, wo das Erlernen der Kompetenz des Lesens und Schreibens (also
?Literalität?) eine enorm hohe Investition darstellte, wie dies bei
Zeichenschriften der Fall ist, stellte bereits die Schrifttechnik an sich eine
ausreichend hohe Zugangsbarriere dar, die es der herrschenden Elite erheblich
erleichterte (a) ihr Herrschaftswissen gegenüber den Beherrschten zu schützen,
sowie (b) zu kontrollieren, welches Wissen von wem in Schriftform festgehalten
wurde und wer Zugang zu dem Niedergeschriebenen hatte (denn zu allen Zeiten
waren Häresien bzw. konkurrierende Ideologien gefährlich für herrschende
Eliten ?). Schrift wurde im Falle der Zeichenschrift also zum relativ
unproblematischen MITTEL ZUR KONSERVIERUNG VON HERRSCHAFTSSTRUKTUREN.
** Demgegenüber erfordert das Erlesen der Lese- und Schreibkompetenz bei
phonetischen Schrifttechniken einen vergleichsweise geringen Lernaufwand,
weshalb in diesem Fall alleine die Schrifttechnik noch keine ausreichende
Barriere darstellt, durch die sich Herrschaftswissen (das sich der Schrift
bedient) schützen lässt. Im Gegenteil: Je größer der prozentuale Anteil der
Personen in einer Gesellschaft, die Lese- und Schreibkompetenz besitzen, desto
eher stellt die Schrifttechnik ein EMANZIPATORISCHES POTENIAL dar (vgl. dazu
Fußnote 1), da es dann umso schwieriger zu kontrollieren war, wer was
schriftlich festhielt, und wer Zugang zu schriftlich festgehaltenen
Gedankengut hatte. 
In Europa, wo die Schrift als solche noch keine ausreichenden  Zugangsbarriere
zu niedergeschriebenen Informationen darstellte, versuchten die herrschenden
Eliten (vor allem der römischen Kirche) lange Zeit den Zugang zu erschweren
und zu regulieren, indem Schriftkultur konsequent auf eine ?tote? Sprache (das
Latein) beschränkt blieb, die strikt von den GESPROCHENEN Sprachen getrennt
war. Um zu verhindern, dass sich das emanzipatorische Potential der
phonetischen Schrift entfalten konnte, wurde also die zusätzliche Barriere
einer fremden (weil von niemandem im Alltag gesprochenen) Sprache einbebaut?


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# Beispiel Buchdruck  #
#######################
Umfangreiche Texte in Form von Büchern zu produzieren bzw. zu reproduzieren
war vor der Erfindung der Drucktechnologie eine ungeheure Investition, zu der
nur in der Lage war, wer für das Lebensnotwendige (Essen, Kleidung, Wohnraum?)
nicht mehr zu sorgen brauchte. Die Produktion und Reproduktion von
Informationen war daher einer Elite vorbehalten, die sich um das
Lebensnotwendige selbst nicht zu kümmern brauchte. Durch diese Tatsache wurde
das emanzipatorische Potential der Schrift zusätzlich in erheblichem Maße
limitiert. 
Die Grenzkosten (also die Kosten für jedes weitere Replikat) bei der
Reproduktion umfangreicher Texte sanken erst mit der Erfindung der
Drucktechnologie dramatisch. Dies war  grundsätzlich auch im Interesse der
herrschenden Elite (etwa der europaweiten Bürokratie der römischen Kirche)
weil auf diese Weise die Verwaltung erheblich leistungsfähiger wurde. Dass
dennoch in Europa  (im Gegensatz zu China) durch die Drucktechnologie  das
emanzipatorische Potential der Schrift-Technologie stärker zur Geltung kam,
als das herrschaftskonservierende Potential der Schrift, liegt an
verschiedenen Faktoren: 

* die soziopolitischen Rahmenbedingungen (demand push):
Während China als ein stark hierarchisiertes und zentralisiertes politisches
System beschrieben werden kann, zeichnete sich das Europa zur Zeit der
Erfindung des Buchdrucks durch seine politische Heterogenität und
Dezentralität aus: Zum eine  konkurrierte die Kirche mit ?weltlichen?
Herrschern um politische Macht, zum anderen konkurrierten eine Vielzahl
weltlicher Herrscherhäuser untereinander um politische Macht. 
Dies hatte zur Folge, dass die Entwicklung und Ausbreitung der
Drucktechnologie keiner einheitlichen politischen Kontrolle  unterworfen
werden konnte: (a) Durfte ein Text in einem bestimmten Herrschaftsgebiet nicht
gedruckt werden, so konnte der Druck häufig einfach ins verhältnismäßig nahe
?Ausland? verlegt werden (dies erinnert sehr stark an die liebe Not, die
moderne Herrschaftsinstanzen mit den Anbietern ?illegaler? Dienste haben, die
einfach von ausländischen Servern aus operieren?). (b) Versuchte ein Herrscher
das Druckereiwesen dadurch unter Kontrolle zu bringen, indem er es
verstaatlichte, so nutzen seine politischen Konkurrenten häufig die
Gelegenheit, private Druckereien auf dem eigenen Herrschaftsgebiet anzusiedeln?
Demgegenüber fiel es dem chinesischen Kaiser verhältnismäßig leicht, das
gesamte Druckereiwesen  unter staatliche Kontrolle zu halten.

** soziokulturellen Rahmenbedingungen (demand pull):
Diese soziopolitischen Ausgangsbedingungen konnte jedoch nur deshalb solch
epochale gesellschaftliche Konsequenzen (? in Form der Renaissance und
Aufklärung?) haben, weil in Europa ein wesentlich höherer Prozentsatz der
Bevölkerung lesen und schreiben konnte, als in China (da, wir erinnern uns,
die phonetische Schrift wesentlich leichter zu erlernen war, als die
chinesischen Schriftzeichen). Aus diesem Grund gab es überhaupt erst eine
kritische Masse an  privater Nachfrage nach politisch brisanten
Druckerzeugnissen. Diese private Nachfrage wiederum machte es für private
Druckereien überhaupt erst lukrativ, trotz herrschaftlicher Repressionen auch
solche Druckerzeugnisse anzubieten, die von der staatlichen oder kirchlichen
Obrigkeit zensiert wurden. [Fußnote 3]

Die Folgen dieser soziopolitischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen
muten gerade Heute wieder sehr aktuell an:
Die schwindende Kontrolle darüber, WAS für Informationen vervielfältigt wurden
und WER Zugang zu welchen Informationen bekam, führte zu einer zunehmenden
Machterosion der ?alten Ordnung? mit der zentralen Stellung der römischen
Kirche ? eine Entwicklung, die angesichts der Möglichkeiten, die die neue IKT
zur Rationalisierung und Modernisierung der kirchlichen Organisations- bzw.
Verwaltungsstrukturen bot, anfangs unterschätzt wurde. Dadurch so Giesecke
(1998:188ff) ?blieb [es] den Benutzern, den Lesern, überlassen, sich
diejenigen Informationen auszusuchen, die sie für nützlich hielten. [?] Nur
weil sich dieses Prinzip faktisch 1485 schon unübersehbar etabliert hatte,
wurde der Ruf nach einer Präventivzensur laut. [?] Der Datenschutz begann
erst, nachdem das Kind schon längst in den Brunnen gefallen war. Obwohl es die
?Obrigkeit? durchaus nicht an Versuchen fehlen ließ, die
Informationsproduktion zu kontrollieren und eine Präventivzensur einzuführen,
blieb ihr Erfolg [?] gering. Faktisch hatte sich über Jahrzehnte hinweg ein
neues Prinzip für den Umgang mit Informationen durchgesetzt: [?] Das
Zurückhalten von Informationen, sei es durch Bücherzensur oder durch andere
Mechanismen, vertrug sich nicht mit dem ?gemein nutz?. Jeder Eingriff in die
Freiheit, Meinungen oder Informationen im Druck ausgehen zu lassen, bedurfte
schon im 15. Jahrhundert einer politischen Legitimation. Im Mittelalter war
die Sachlage gerade umgekehrt. Legitimationsbedürftig war jede breitere
Sozialisierung privater Gedanken. Die Beweislast hatte sich von den
Befürwortern der Veröffentlichung hin zu den Befürwortern der Zensur
verschoben. Auch dieser Prozess lässt sich nicht als eine Extrapolation, als
ein Mehr-vom-selben, sondern nur als eine Wende der Entwicklung verstehen.?


#########
# Fazit #
#########
Ein Blick in die Geschichte zeigt also, dass unsere heutige RELATIV freie,
demokratische und auch sonst fortschrittliche Gesellschaft nur möglich wurde,
weil die Geschichte der Entwicklung von Informations- und
Kommunikationstechnologien durch folgende Aspekte geprägt wurde:  Durch eine
zunehmende Demokratisierung der Nutzung, sowie der Kontrolle und der
Weiterentwicklung von IKT. 

Die Geschichte der IKT zeigt, dass die Einführung einer neuen IKT in eine
Gesellschaft IMMER auch ein subversives Potential mit sich brachte; dieses
subversive Potential war aus der Perspektive der herrschenden Eliten, die mit
einer neuen IKT konfrontiert wurden, zwangsläufig  IMMER illegitim und
gefährlich.  
Ob eine neue IKT hinsichtlich der Herrschaftsstrukturen konservierend oder
subversiv (und damit emanzipierend) auf die weitere gesellschaftliche
Entwicklung wirkte, hing letztlich davon ab, ob es der jeweils herrschenden
Elite gelang, die neue IKT zu ?domestizieren? (und damit die vermeintlich
illegitimen Auswüchse in der Verwendung der neuen IKT zu eliminieren) oder ob
es einer kritischen Masse an Mitgliedern der jeweiligen Gesellschaft gelang,
sich bei der Nutzung der neuen IKT der Kontrolle und dem
ReglementierungsINTERESSE der herrschenden Elite zu entziehen (von welchen
Faktoren dies abhängt habe ich oben am Beispiel der Schrift und des Buchdrucks
kurz angedeutet?).
Dies bedeutet aber, dass gesellschaftlicher Fortschritt langfristig nicht
unwesentlich davon abhängt, ob eine vermeintlich illegale Nutzung neuer IKT
durch die Obrigkeit geahndet werden kann, oder ob sich die illegale Nutzung
neuer IKT (etwa aufgrund der konkreten praktischen Umsetzung der Technologie ?
s.o.) der Ahndung entziehen kann. Zweiteres führt zu einer Anpassung des
Rechtssystems an die neuen soziotechnischen Rahmenbedingungen und setzt die
herrschende Elite unter erheblichen Anpassungsdruck (und führt langfristig
meist zu ihrer Ablösung). 
Diese Folgerung deckt sich auch weitgehend mit derzeitigen Entwicklungen im
Bereich digitaler IKT und den daraus resultierenden gesellschaftlichen
Konfliktpunkten:
Das subversive Potential digitaler IKT ist hier ja hinlänglich bekannt und
braucht daher hier nicht extra beschrieben werden. Die Möglichkeiten, die
digitale IKT bieten, kollidieren u.a. mit den Interessen des ökonomischen
Establishments und führen vor allem dort zu einer ?illegalen? Nutzung, wo
geistige Eigentumsrechte verletzt werden. Daher besteht heute - ähnlich wie
bei früheren informationstechnischen Revolutionen - der Konflikt zwischen den
etablierten Interessen einer (global gesehen) kleinen Elite, die ein großes
Interesse daran haben, die neuen IKT zu ?domestizieren? (d.h. die Möglichkeit
ihrer Nutzung in verschiedener Weise grundlegend einzuschränken und zu
kontrollieren) und dem Interesse einer breiten Allgemeinheit, die das
emanzipatorische Potential der neuen IKT möglichst Weitgehend ausschöpfen möchte?

Aus dieser historische Betrachtungsweise der Wechselwirkung zwischen der
Entwicklung neuer IKT einerseits und gesellschaftlicher Entwicklung
andererseits möchte ich persönlich nun auf keinen Fall die Schlussfolgerung
ziehen, dass rechtliche Regelungen im Interesse des gesellschaftlichen
Fortschritts generell zu ignorieren seien. Vielmehr soll eine solche
Betrachtungsweise zu einem Perspektivwechsel im öffentlichen Diskurs anregen:
In Bereichen, die die Nutzung digitaler IKT und ihre Folgen betreffen, sollten
in stärkerem Maße als bisher diejenigen unter Rechtfertigungsdruck stehen, die
die Nutzung der Möglichkeiten digitaler IKT aufgrund der bestehenden
Rechts?tradition? in bestimmten Fällen als ?illegal? oder als nicht im
allgemeinen wirtschaftlichen Interesse bezeichnen. 


############
# Fußnoten #
############

[1]
Hier nur ein paar Überlegungen aus (Goody/Watt/Gough S.19ff)
?Die Wirkungen der Schrift waren bereits im klassischen Griechenland
bedeutsamer, als es bei ihrer Einführung beabsichtigt sein konnte [?] Sobald
die Schrift Aufgaben übernommen hat, die vorher dem Gedächtnis aufgebürdet
waren, konnten sich die frei gewordenen intellektuellen Energien jenem
konzeptionellen Denken zuwenden, aus dem griechische Philosophie und
Wissenschaft hervorgingen. FORMALES LOGISCHES DENKEN KANN NICHT OHNE SCHRIFT
ENTSTEHEN [?] Die Idee der Machbarkeit, die seit dem 5. Jahrhundert v.Chr. die
griechischen Intellektuellen erfasste, wäre ohne die Erfahrung der
alphabetischen Schrift kaum denkbar gewesen. Denn sie gestattet es, losgelöst
von der konkreten Lebenszusammenhängen, neue Konzepte zu fassen, sie mit
logischer Stringenz niederzuschreiben und ? falls die Mitwelt sie nicht
verstehen und akzeptieren wollte ? dem Urteil der Nachwelt zu überantworten.
Während mündliche Überlieferung nur bestehen kann, wenn sie unablässig und
lückenlos weitergegeben wird, besitzt der schriftlich fixierte Text, sobald er
archiviert wird, die Chance, in der Zukunft, selbst nach einer langen Periode
der Verschüttung, zu wirken. Insofern ist er AUTONOM. 
ENTSPRECHEND ÄNDERT SICH BEIM ÜBERGANG VON DER MÜNDLICHKEIT ZUR
SCHRIFTLICHKEIT DER SOZIALE CHARAKTER DES WISSENS: in den oralen Kulturen wird
es von den Alten repräsentiert, deren Weisheit aus der langen Vertrautheit mit
den Traditionen stammt; in einer fortgeschrittenen literalen Kultur sind es
dagegen die unvorhersehbaren Ideen der Jüngeren, die die hergebrachten
Wissensbestände revolutionieren.?

[2]
?Wie die Chinesen selbst erkannten, hat die logographische Schrift zum Aufbau
und zur Ausdehnung des politischen Kontrollsystems wesentlich beigetragen. Im
Großen Kommentar zum Buch der Veränderungen heißt es: ?In der Frühzeit machten
die Menschen Knoten in Schnüre, um zu regieren. Die heiligen Männer späterer
Zeiten führten als Mittel zur Regierung der Beamten und Überwachung des Volkes
stattdessen schriftliche Dokumente ein? (Goody/Watt/Gough S.53).

[3]
Die allgemeinen Folgen, die die ungeheure Verbilligung der Reproduktion von
Texten angesichts einer weit verbreiteten Literalität (aufgrund der einfachen
Erlernbarkeit der phonetischen Schrift) in Europa hatte, beschreibt Johannes
Kepler (1606): ?Nach der Geburt der Typographie wurden Bücher zum Gemeingut,
von nun an warf sich überall in Europa alles auf das Studium der Literatur,
nur wurden so viele Universitäten gegründet, erstanden plötzlich so viele
Gelehrte, dass bald diejenigen, die die Barbarei beibehalten wollten, alles
Ansehen verloren. [?] Von Schriftstellern in allen Fakultäten wird besonders
nach dem Jahr 1563 Jahr für Jahr eine größere Zahl gedruckt als es in den 1000
Jahren davor überhaupt gegeben hatte. Durch sie ist heute eine neue Theologie
entstanden, eine neue Jurisprudenz, und die Paracelsisten haben die Medizin,
die Kopernikaner die Astronomie erneuert.?


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# Literatur #
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*Barber, Benjamin R. (1998): Wie demokratisch ist das Internet? Technologie
als Spiegel kommerzieller Interessen. 

*Giesecke, Michael (1998): Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine
historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und
Kommunikationstechnologien. Frankfurt a.M.

*Goody/ Watt/ Gough (1986) Entstehung und Folgen der Schriftkultur. Suhrkamp,
Frankfurt a.M.

*Kepler, Johannes (1606): ?De stella nova?; Frankfurt/Prag

-- 
Stephan Eissler
Institut für Politikwissenschaft
Lehrstuhl für politische Wirtschaftslehre
Melanchtonstraße 36
72074 Tübingen
Telefon 07071-309124



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