[ox] TELEPOLIS: Kollaps beim Endspurt
- From: smerten oekonux.de (Stefan Merten)
- Date: Wed, 1 Oct 2003 00:29:56 +0200
Dieser TELEPOLIS Artikel wurde Ihnen
von Stefan Merten <smerten oekonux.de> gesandt.
----------------------------------------------------------------------
Kollaps beim Endspurt
Wolfgang Kleinwächter 29.09.2003
Der Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS) auf der
Intensivstation
Was viele bereits befürchtet hatten, ist nun eingetreten. Der seit mehr
als zwei Jahren andauernde Vorbereitungsprozess für den Weltgipfel zur
Informationsgesellschaft ( WSIS [1]) im Dezember 2003 ist auf der
Zielgerade kollabiert. Die knapp 2.000 Delegierten aus aller Welt, die
in den letzten zwei Wochen in Genf versucht hatten, aus den
vorliegenden Entwurfstexten einer Deklaration und eines auf das Jahr
2015 abzielenden Aktionsplanes ein den Staats- und Regierungschefs
vorlegbares Abschlussdokument zu produzieren, waren nicht in der Lage,
sich zu einigen. Nun soll auf einer außerordentlichen 4.
Vorbereitungskonferenz im November versucht werden, das drohende
Desaster abzuwenden. Dem WSIS-Prozess zur Weltinformationsgesellschaft
könnte das gleiche Schicksal drohen, dass den Doha-Prozess über den
Welthandel jüngst auf der WTO-Konferenz in Cancun ereilte.
Vermengung von zwei Konfliktebenen
Die Zuspitzung der Konfrontation kommt nicht unerwartet. Je mehr sich
im WSIS-Verhandlungsprozess herausstellte, dass mit dem Thema
Informationsgesellschaft nicht nur technische Aspekte einer weltweiten
Kommunikationsvernetzung, sondern fundamentale gesellschaftspolitische
Fragen der zukünftigen Entwicklung der Menschheit aufgeworfen sind,
desto klarer wurde, dass der Versuch, die gravierend unterschiedlichen
Weltvorstellungen in einen Konsensus über Grundprinzipien und
Marschrichtungen für zu treffende Maßnahmen zusammenzuführen, mit dem
berühmten Ansinnen verglichen werden kann, den Kreis ins Quadrat zu
setzen.
Dabei vermengen sich zwei spannungsgeladene Konfliktebenen: die
zwischen den verschiedenen Blöcken der Regierungen auf der einen Seite
und die zwischen der Zivilgesellschaft und einigen Regierungen auf der
anderen Seite. Da das eine vom anderen kaum mehr trennbar ist, entsteht
ein explosives Gemisch, dessen Zündung an den Grundfesten des aus dem
20. Jahrhundert ererbten Systems der internationalen Beziehungen
rütteln kann. Das jüngst in Cancun entfachte Feuer kann so schnell zum
Flächenbrand werden, wobei eine gescheiterte WSIS einen ähnlichen
Effekt hätte wie eine gescheiterte WTO: Es gäbe nur Verlierer.
In der Tat ähnelt die Gemengelage auf der WSIS-Regierungsbank der
WTO-Konstellation. Die Europäische Union und die USA haben zwar im
Detail unterschiedliche, im Prinzip aber ähnliche Positionen, wie der
Cyberspace zukünftig gemanagt werden soll. EU und USA sind sich
durchaus bewusst, dass die Gräben, die die digitale Spaltung aufreißt,
zugeschüttet werden müssen, und sie sind bereit, sich dafür zu
engagieren. Die Vorstellungen aber, wie diese "Digital Solidarity
Agenda" abgearbeitet werden soll, unterscheiden sich essentiell von den
Vorstellungen jener Regierungen, die sich mehr oder minder hinter dem
neuen Block der G 21 zusammenfinden.
Wie bei WTO in Cancun sind auch bei WSIS in Genf China, Brasilien,
Südafrika und Indien die Wortführer der anderen Seite. Auch hier gibt
es im Detail Unterscheide, aber grundsätzlich einig ist man sich darin,
dass die digitale Solidarität neue Finanzierungsmechanismen benötigt,
dass die Souveränität der Regierungen über die Ressourcen des
Informationszeitalters, und insbesondere über das Internet, hergestellt
werden müsse und dass es der individuellen Rechtsordnung eines jeden
Landes überlassen sein muss, wie es Menschenrechte innenpolitisch mit
andere Rechtsgütern und Wertvorstellungen ausbalanciert. Der Westen
aber sagt Nein zu einem neuen Fonds, räumt den privaten Sektor
Priorität bei der Entwicklung der Internet Kernressourcen ein und
fordert eine universelle Beachtung grundlegender Rechte und Freiheiten.
Cyberspace oder Absurdistan?
Nun sind solche antagonistischen Konstellationen bei
Globalverhandlungen nichts Neues. Das für solche Fälle vorhandene
diplomatische Instrumentarium, sich dann eben darüber zu einigen, dass
man sich uneinig ist und mit nichtssagenden Allgemeinplätzen den
Dissens zu verdecken, funktioniert jedoch immer weniger. Kein Mensch
versteht, wenn der Dissens beim Thema "Massenmedien und
Informationsfreiheit" mit einer Formulierung im Aktionsplan überbrückt
werden soll die da lautet, dass die Regierungen "die Medien ermutigen,
weiterhin eine bedeutende Rolle zu spielen".
Über zwei Drittel der Entwurfsdokumente sind noch in sogenannten
"eckigen Klammern", d.h. man sucht weiter nach banalen Abstraktionen,
die allen Seiten Gesichtswahrung und Zustimmung ermöglichen. Die dabei
entstehenden Worthülsen lesen sich dann partiell wie dadaistische
Verse. Im Fall der Kontroverse über die Verwaltung der
Internet-Kernressourcen heißt zum Beispiel, dass "Aktionen u.a.
einschließen können, den internationalen Dialog zwischen allen
interessierten Seiten zur Schaffung adäquater Managementstrukturen zu
fördern". Mit einer derartigen Blablaisierung ernsthafter Themen landen
die Delegierten nicht im Cyberspace sondern in Absurdistan.
Von Input zu Impact
Die Kritik kommt dabei immer stärker aus den Reihen der
Zivilgesellschaft, die erstmalig bei einem UN-Weltgipfel in weite Teile
des Verhandlungsprozesses integriert ist. Der Hauptvorwurf der im
WSIS-Prozess außerordentlich gereiften Zivilgesellschaft ist der, dass
die bisherigen Dokumentenwürfe zu bürokratisch und zu technokratisch
sind und sich nicht vorrangig auf den Menschen mit seinen Problemen im
Informationszeitalter konzentrieren.
Die Ansichten der Zivilgesellschaft können dabei nicht mehr so einfach
vom Tisch gewischt werden. Schritt für Schritt hat sie an Einfluss
gewonnen und sich durch die Schaffung neuer repräsentativer
Arbeitsorgane auch verhandlungsfähiger als früher gemacht. Waren die
nicht-staatlichen "Beobachter" bei der PrepCom1 im Juni 2002 noch
völlig draußen vor der Tür, so hatten zivilgesellschaftliche Experten
bereits auf der WSIS-InterSessional im Sommer 2003 in Paris Zugang zu
einigen informellen Verhandlungsgruppen. WSIS-Präsident Samassekou
hatte am Vorabend der PrepCom3 verkündet, dass man den als "Innovation
im UN-System" bezeichneten "multi-stakeholder approach" weiter ausbauen
wolle: Er wolle von "Input" zu "Impact".
Die damit geweckten Begehrlichkeiten erhielten aber nach der ersten
PrepCom3-Woche einen herben Dämpfer. Als die Zivilgesellschaft nach
Vorlage eines erneuerten Deklarationsentwurfes die Kerngedanken ihrer
89 konkreten Vorschläge suchte, wurde sie fündig wie der Blumensucher
in der Wüste. Von einigen Ausnahmen abgesehen, hatten sich Geist und
Buchstaben der alternativen oder ergänzenden Formulierungsvorschläge
verflüchtigt.
Als das WSIS-Büro der Zivilgesellschaft daraufhin bei einem gemeinsamen
Treffen mit dem WSIS-Büro den Diplomaten Ignoranz vorwarf und mit
Protestaktionen drohte, traten Samassekou und die Schweizer Gastgeber
die Flucht nach vorn an: Auch viele Regierungen hätten ihre
Vorstellungen vom Entwurfstext verschwinden sehen und es gäbe durchaus
zahlreiche Mitglieder auf der Regierungsbank, die ein stärkeres
Mitwirken der Zivilgesellschaft sowohl bei der Erarbeitung der Texte,
aber mehr noch dann bei der Umsetzung des Aktionsplanes als dringendes
Gebot der Zeit ansehen. Man müsse aber respektieren, dass das
UN-Prozedere weitgehenden Konsens verlangt und Fortschritt so
allenfalls im Schneckentempo erreichbar ist.
Die Wirkungskraft derartige Beruhigungspillen aber schwindet. Worten
müssten Taten folgen - und die müssten sich auch in Texten
niederschlagen, heiß es unverblümt. Dabei gibt es auch innerhalb der
Zivilgesellschaft zwei Strömungen. Die einen sind mehr für einen
"Marsch durch die Institutionen", d.h. für eine Akzeptanz der gesetzten
Rahmenbedingungen und das mühselige Bohren dicker Bretter mit noch
immer relativ stumpfen Bohrern in Form von formellen und informellen
Konsultationen. Die anderen sind mehr für medienspektakuläre Aktionen,
die das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit auf Defizite und Skandale
lenken sollen.
Zivilgesellschaft in der "Drehtüre"
Die Debatte wird weiter angeheizt durch einer Art "Drehtürpolitik" der
Regierungen, die zwischen offen und geschlossen hin und her pendelt und
dabei das eh vorhandene Chaos noch weiter konfusioniert. So hatte am
Tage nach dem "reinigenden Gewitter" zwischen den beiden WSIS-Büros der
finnische Vorsitzende der Arbeitsgruppe 2, die sich mit Deklaration und
Aktionsplan befasste, zugesichert, Vertreter der Zivilgesellschaft
innovativ in die informellen Konsultationen der Unterarbeitsgruppen zu
den neun strittigen Themen einzubeziehen. Die letzten Entscheidung über
das "Wie" sollte dabei der jeweilige Vorsitzende der Arbeitsgruppe
treffen.
In der Gruppe, die sich mit "Internet Governance" befasste, führte das
zu der folgenden kuriosen Situation. Während am Mittwoch Abend die
Beobachter im Verhandlungsraum geduldet wurden, forderte am Donnerstag
der chinesische Delegierte, die Beobachter wieder herauszuschicken. Die
EU und die USA ergriffen daraufhin das Wort und sagten, dass sie nichts
gegen ein Verbleiben der Beobachter einzuwenden hätten. Da aber der
chinesische Delegierte auf einer buchstabengetreuen Interpretation der
Prozedurregeln bestand, schickte der kenianische
Arbeitsgruppenvorsitzende unter Bedauern die Beobachter wieder hinaus,
die ihrerseits energisch gegen dieses Wiederaufleben von
"Geheimdiplomatie" protestierte.
Es dauerte aber gar nicht lange, da kamen einzelne Diplomaten, denen
der Rauswurf auch nicht gepasst hatte, aus dem geschlossenen Saal und
berichteten wortgetreu, was drinnen gesagt wurde. Und schon stand der
von einigen Regierungen offensichtlich als "geheim" einzustufende
Wortwechsel ob ICANN oder die ITU zukünftig das Internet verwalten
sollen, im Internet. Das ist zwar wie im Kindergarten, dieses "Rein
oder Raus" aber ist durchaus eine substantielle Frage, geht es doch
dabei eigentlich darum, wie traditionelle Mitsprache- und
Mitentscheidungsrechte neu aufgeteilt werden.
On the Road, but in the Rain
Natürlich haben Regierungsvertreter Recht, wenn sie sagen, Regierungen
stehen in einer anderen Verantwortung als häufig selbst ernannte
Repräsentanten der Zivilgesellschaft und müssen insofern vorsichtiger
mit ihren Absichtserklärungen umgehen. Das ist zwar grundsätzlich
richtig, aber auch hier hat der WSIS-Prozess Dinge in Bewegung
gebracht, die es so vorher nicht gegeben hat. Das, was Vertreter der
Zivilgesellschaft bei der WSIS artikulieren, hat einen oft sehr langen
Diskussionsprozess Online und Offline hinter sich und repräsentiert die
Ansichten breiter betroffener Gruppen, denen gegenüber dann auch die
Vorsitzenden der rund 25 Facharbeitsgruppen der Zivilgesellschaft
wieder verantwortlich sind.
Dieser "bottom up" Politikentwicklungsprozess der Zivilgesellschaft
konfligiert strukturell in der Tat mit dem "top down"
Entscheidungsprozess der Regierungen. Der einzige Weg aber, dieses
Spannungsverhältnis konstruktiv zu gestalten, ist und bleibt der
Dialog. Den stellte auf der abschließenden Pressekonferenz
WSIS-Präsident Samassekou auch in den Mittelpunkt. Man sei auf dem
richtigen Weg, man brauche eben Geduld. Dem wird von der
Zivilgersellschaft nicht grundsätzlich widersprochen. Man sei
tatsächlich "on the Road", aber stünde halt noch immer "in the Rain".
Das der Geduldsfaden zum Reißen gespannt ist, macht auf der gleichen
Pressekonferenz die Sprecherin des zivilgesellschaftlichen WSIS-Büros
klar: Man sei nicht bereit, sich für Machtspiele missbrauchen zu lassen
und werde dem WSIS-Prozess jene Legitimierung verweigern, die er
benötigt. Die Arbeiten an einem alternativen Dokument hätten schon
begonnen. Die Weltöffentlichkeit könne dann entscheiden, welche
Informationsgesellschaft sie haben wolle.
Ob das Grabenlabyrinth mit der jetzt für den November anberaumten
PrepCom4 und vielleicht einer noch unmittelbar vor dem Gipfel möglichen
PrepCom5 noch begehbar gemacht werden kann, ist schwierig
vorauszusagen. Der zugespitzten Lage kann man aber dennoch eine gute
Seite abgewinnen. Die bisher eher in Expertenkreisen oder unter
Netzaktivisten diskutierten gesellschaftlichen Themen des
Informationszeitalters fangen an, stärker ins öffentliche Bewusstsein
zu drängen. Das Läuten der Alarmglocken in Genf kann insofern hilfreich
sein, dass die Öffentlichkeit etwas munterer wird und die Prioritäten
der Weltdebatten neu sortiert werden.
Links
[1] http://www.itu.int/wsis/
Telepolis Artikel-URL:
http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/te/15738/1.html
----------------------------------------------------------------------
Copyright © 1996-2003. All Rights Reserved. Alle Rechte vorbehalten
Heise Zeitschriften Verlag, Hannover
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de