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[ox] TELEPOLIS: Kollaps beim Endspurt



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Kollaps beim Endspurt

Wolfgang Kleinwächter   29.09.2003 

Der Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS) auf der 
Intensivstation 

Was viele bereits befürchtet hatten, ist nun eingetreten. Der seit mehr 
als zwei Jahren andauernde Vorbereitungsprozess für den Weltgipfel zur 
Informationsgesellschaft (  WSIS [1]) im Dezember 2003 ist auf der 
Zielgerade kollabiert. Die knapp 2.000 Delegierten aus aller Welt, die 
in den letzten zwei Wochen in Genf versucht hatten, aus den 
vorliegenden Entwurfstexten einer Deklaration und eines auf das Jahr 
2015 abzielenden Aktionsplanes ein den Staats- und Regierungschefs 
vorlegbares Abschlussdokument zu produzieren, waren nicht in der Lage, 
sich zu einigen. Nun soll auf einer außerordentlichen 4. 
Vorbereitungskonferenz im November versucht werden, das drohende 
Desaster abzuwenden. Dem WSIS-Prozess zur Weltinformationsgesellschaft 
könnte das gleiche Schicksal drohen, dass den Doha-Prozess über den 
Welthandel jüngst auf der WTO-Konferenz in Cancun ereilte. 

Vermengung von zwei Konfliktebenen 

Die Zuspitzung der Konfrontation kommt nicht unerwartet. Je mehr sich 
im WSIS-Verhandlungsprozess herausstellte, dass mit dem Thema 
Informationsgesellschaft nicht nur technische Aspekte einer weltweiten 
Kommunikationsvernetzung, sondern fundamentale gesellschaftspolitische 
Fragen der zukünftigen Entwicklung der Menschheit aufgeworfen sind, 
desto klarer wurde, dass der Versuch, die gravierend unterschiedlichen 
Weltvorstellungen in einen Konsensus über Grundprinzipien und 
Marschrichtungen für zu treffende Maßnahmen zusammenzuführen, mit dem 
berühmten Ansinnen verglichen werden kann, den Kreis ins Quadrat zu 
setzen. 

Dabei vermengen sich zwei spannungsgeladene Konfliktebenen: die 
zwischen den verschiedenen Blöcken der Regierungen auf der einen Seite 
und die zwischen der Zivilgesellschaft und einigen Regierungen auf der 
anderen Seite. Da das eine vom anderen kaum mehr trennbar ist, entsteht 
ein explosives Gemisch, dessen Zündung an den Grundfesten des aus dem 
20. Jahrhundert ererbten Systems der internationalen Beziehungen 
rütteln kann. Das jüngst in Cancun entfachte Feuer kann so schnell zum 
Flächenbrand werden, wobei eine gescheiterte WSIS einen ähnlichen 
Effekt hätte wie eine gescheiterte WTO: Es gäbe nur Verlierer. 

In der Tat ähnelt die Gemengelage auf der WSIS-Regierungsbank der 
WTO-Konstellation. Die Europäische Union und die USA haben zwar im 
Detail unterschiedliche, im Prinzip aber ähnliche Positionen, wie der 
Cyberspace zukünftig gemanagt werden soll. EU und USA sind sich 
durchaus bewusst, dass die Gräben, die die digitale Spaltung aufreißt, 
zugeschüttet werden müssen, und sie sind bereit, sich dafür zu 
engagieren. Die Vorstellungen aber, wie diese "Digital Solidarity 
Agenda" abgearbeitet werden soll, unterscheiden sich essentiell von den 
Vorstellungen jener Regierungen, die sich mehr oder minder hinter dem 
neuen Block der G 21 zusammenfinden. 

Wie bei WTO in Cancun sind auch bei WSIS in Genf China, Brasilien, 
Südafrika und Indien die Wortführer der anderen Seite. Auch hier gibt 
es im Detail Unterscheide, aber grundsätzlich einig ist man sich darin, 
dass die digitale Solidarität neue Finanzierungsmechanismen benötigt, 
dass die Souveränität der Regierungen über die Ressourcen des 
Informationszeitalters, und insbesondere über das Internet, hergestellt 
werden müsse und dass es der individuellen Rechtsordnung eines jeden 
Landes überlassen sein muss, wie es Menschenrechte innenpolitisch mit 
andere Rechtsgütern und Wertvorstellungen ausbalanciert. Der Westen 
aber sagt Nein zu einem neuen Fonds, räumt den privaten Sektor 
Priorität bei der Entwicklung der Internet Kernressourcen ein und 
fordert eine universelle Beachtung grundlegender Rechte und Freiheiten. 

Cyberspace oder Absurdistan? 

Nun sind solche antagonistischen Konstellationen bei 
Globalverhandlungen nichts Neues. Das für solche Fälle vorhandene 
diplomatische Instrumentarium, sich dann eben darüber zu einigen, dass 
man sich uneinig ist und mit nichtssagenden Allgemeinplätzen den 
Dissens zu verdecken, funktioniert jedoch immer weniger. Kein Mensch 
versteht, wenn der Dissens beim Thema "Massenmedien und 
Informationsfreiheit" mit einer Formulierung im Aktionsplan überbrückt 
werden soll die da lautet, dass die Regierungen "die Medien ermutigen, 
weiterhin eine bedeutende Rolle zu spielen". 

Über zwei Drittel der Entwurfsdokumente sind noch in sogenannten 
"eckigen Klammern", d.h. man sucht weiter nach banalen Abstraktionen, 
die allen Seiten Gesichtswahrung und Zustimmung ermöglichen. Die dabei 
entstehenden Worthülsen lesen sich dann partiell wie dadaistische 
Verse. Im Fall der Kontroverse über die Verwaltung der 
Internet-Kernressourcen heißt zum Beispiel, dass "Aktionen u.a. 
einschließen können, den internationalen Dialog zwischen allen 
interessierten Seiten zur Schaffung adäquater Managementstrukturen zu 
fördern". Mit einer derartigen Blablaisierung ernsthafter Themen landen 
die Delegierten nicht im Cyberspace sondern in Absurdistan. 

Von Input zu Impact 

Die Kritik kommt dabei immer stärker aus den Reihen der 
Zivilgesellschaft, die erstmalig bei einem UN-Weltgipfel in weite Teile 
des Verhandlungsprozesses integriert ist. Der Hauptvorwurf der im 
WSIS-Prozess außerordentlich gereiften Zivilgesellschaft ist der, dass 
die bisherigen Dokumentenwürfe zu bürokratisch und zu technokratisch 
sind und sich nicht vorrangig auf den Menschen mit seinen Problemen im 
Informationszeitalter konzentrieren. 

Die Ansichten der Zivilgesellschaft können dabei nicht mehr so einfach 
vom Tisch gewischt werden. Schritt für Schritt hat sie an Einfluss 
gewonnen und sich durch die Schaffung neuer repräsentativer 
Arbeitsorgane auch verhandlungsfähiger als früher gemacht. Waren die 
nicht-staatlichen "Beobachter" bei der PrepCom1 im Juni 2002 noch 
völlig draußen vor der Tür, so hatten zivilgesellschaftliche Experten 
bereits auf der WSIS-InterSessional im Sommer 2003 in Paris Zugang zu 
einigen informellen Verhandlungsgruppen. WSIS-Präsident Samassekou 
hatte am Vorabend der PrepCom3 verkündet, dass man den als "Innovation 
im UN-System" bezeichneten "multi-stakeholder approach" weiter ausbauen 
wolle: Er wolle von "Input" zu "Impact". 

Die damit geweckten Begehrlichkeiten erhielten aber nach der ersten 
PrepCom3-Woche einen herben Dämpfer. Als die Zivilgesellschaft nach 
Vorlage eines erneuerten Deklarationsentwurfes die Kerngedanken ihrer 
89 konkreten Vorschläge suchte, wurde sie fündig wie der Blumensucher 
in der Wüste. Von einigen Ausnahmen abgesehen, hatten sich Geist und 
Buchstaben der alternativen oder ergänzenden Formulierungsvorschläge 
verflüchtigt. 

Als das WSIS-Büro der Zivilgesellschaft daraufhin bei einem gemeinsamen 
Treffen mit dem WSIS-Büro den Diplomaten Ignoranz vorwarf und mit 
Protestaktionen drohte, traten Samassekou und die Schweizer Gastgeber 
die Flucht nach vorn an: Auch viele Regierungen hätten ihre 
Vorstellungen vom Entwurfstext verschwinden sehen und es gäbe durchaus 
zahlreiche Mitglieder auf der Regierungsbank, die ein stärkeres 
Mitwirken der Zivilgesellschaft sowohl bei der Erarbeitung der Texte, 
aber mehr noch dann bei der Umsetzung des Aktionsplanes als dringendes 
Gebot der Zeit ansehen. Man müsse aber respektieren, dass das 
UN-Prozedere weitgehenden Konsens verlangt und Fortschritt so 
allenfalls im Schneckentempo erreichbar ist. 

Die Wirkungskraft derartige Beruhigungspillen aber schwindet. Worten 
müssten Taten folgen - und die müssten sich auch in Texten 
niederschlagen, heiß es unverblümt. Dabei gibt es auch innerhalb der 
Zivilgesellschaft zwei Strömungen. Die einen sind mehr für einen 
"Marsch durch die Institutionen", d.h. für eine Akzeptanz der gesetzten 
Rahmenbedingungen und das mühselige Bohren dicker Bretter mit noch 
immer relativ stumpfen Bohrern in Form von formellen und informellen 
Konsultationen. Die anderen sind mehr für medienspektakuläre Aktionen, 
die das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit auf Defizite und Skandale 
lenken sollen. 

Zivilgesellschaft in der "Drehtüre" 

Die Debatte wird weiter angeheizt durch einer Art "Drehtürpolitik" der 
Regierungen, die zwischen offen und geschlossen hin und her pendelt und 
dabei das eh vorhandene Chaos noch weiter konfusioniert. So hatte am 
Tage nach dem "reinigenden Gewitter" zwischen den beiden WSIS-Büros der 
finnische Vorsitzende der Arbeitsgruppe 2, die sich mit Deklaration und 
Aktionsplan befasste, zugesichert, Vertreter der Zivilgesellschaft 
innovativ in die informellen Konsultationen der Unterarbeitsgruppen zu 
den neun strittigen Themen einzubeziehen. Die letzten Entscheidung über 
das "Wie" sollte dabei der jeweilige Vorsitzende der Arbeitsgruppe 
treffen. 

In der Gruppe, die sich mit "Internet Governance" befasste, führte das 
zu der folgenden kuriosen Situation. Während am Mittwoch Abend die 
Beobachter im Verhandlungsraum geduldet wurden, forderte am Donnerstag 
der chinesische Delegierte, die Beobachter wieder herauszuschicken. Die 
EU und die USA ergriffen daraufhin das Wort und sagten, dass sie nichts 
gegen ein Verbleiben der Beobachter einzuwenden hätten. Da aber der 
chinesische Delegierte auf einer buchstabengetreuen Interpretation der 
Prozedurregeln bestand, schickte der kenianische 
Arbeitsgruppenvorsitzende unter Bedauern die Beobachter wieder hinaus, 
die ihrerseits energisch gegen dieses Wiederaufleben von 
"Geheimdiplomatie" protestierte. 

Es dauerte aber gar nicht lange, da kamen einzelne Diplomaten, denen 
der Rauswurf auch nicht gepasst hatte, aus dem geschlossenen Saal und 
berichteten wortgetreu, was drinnen gesagt wurde. Und schon stand der 
von einigen Regierungen offensichtlich als "geheim" einzustufende 
Wortwechsel ob ICANN oder die ITU zukünftig das Internet verwalten 
sollen, im Internet. Das ist zwar wie im Kindergarten, dieses "Rein 
oder Raus" aber ist durchaus eine substantielle Frage, geht es doch 
dabei eigentlich darum, wie traditionelle Mitsprache- und 
Mitentscheidungsrechte neu aufgeteilt werden. 

On the Road, but in the Rain 

Natürlich haben Regierungsvertreter Recht, wenn sie sagen, Regierungen 
stehen in einer anderen Verantwortung als häufig selbst ernannte 
Repräsentanten der Zivilgesellschaft und müssen insofern vorsichtiger 
mit ihren Absichtserklärungen umgehen. Das ist zwar grundsätzlich 
richtig, aber auch hier hat der WSIS-Prozess Dinge in Bewegung 
gebracht, die es so vorher nicht gegeben hat. Das, was Vertreter der 
Zivilgesellschaft bei der WSIS artikulieren, hat einen oft sehr langen 
Diskussionsprozess Online und Offline hinter sich und repräsentiert die 
Ansichten breiter betroffener Gruppen, denen gegenüber dann auch die 
Vorsitzenden der rund 25 Facharbeitsgruppen der Zivilgesellschaft 
wieder verantwortlich sind. 

Dieser "bottom up" Politikentwicklungsprozess der Zivilgesellschaft 
konfligiert strukturell in der Tat mit dem "top down" 
Entscheidungsprozess der Regierungen. Der einzige Weg aber, dieses 
Spannungsverhältnis konstruktiv zu gestalten, ist und bleibt der 
Dialog. Den stellte auf der abschließenden Pressekonferenz 
WSIS-Präsident Samassekou auch in den Mittelpunkt. Man sei auf dem 
richtigen Weg, man brauche eben Geduld. Dem wird von der 
Zivilgersellschaft nicht grundsätzlich widersprochen. Man sei 
tatsächlich "on the Road", aber stünde halt noch immer "in the Rain". 

Das der Geduldsfaden zum Reißen gespannt ist, macht auf der gleichen 
Pressekonferenz die Sprecherin des zivilgesellschaftlichen WSIS-Büros 
klar: Man sei nicht bereit, sich für Machtspiele missbrauchen zu lassen 
und werde dem WSIS-Prozess jene Legitimierung verweigern, die er 
benötigt. Die Arbeiten an einem alternativen Dokument hätten schon 
begonnen. Die Weltöffentlichkeit könne dann entscheiden, welche 
Informationsgesellschaft sie haben wolle. 

Ob das Grabenlabyrinth mit der jetzt für den November anberaumten 
PrepCom4 und vielleicht einer noch unmittelbar vor dem Gipfel möglichen 
PrepCom5 noch begehbar gemacht werden kann, ist schwierig 
vorauszusagen. Der zugespitzten Lage kann man aber dennoch eine gute 
Seite abgewinnen. Die bisher eher in Expertenkreisen oder unter 
Netzaktivisten diskutierten gesellschaftlichen Themen des 
Informationszeitalters fangen an, stärker ins öffentliche Bewusstsein 
zu drängen. Das Läuten der Alarmglocken in Genf kann insofern hilfreich 
sein, dass die Öffentlichkeit etwas munterer wird und die Prioritäten 
der Weltdebatten neu sortiert werden. 

Links 

[1] http://www.itu.int/wsis/

Telepolis Artikel-URL: 
http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/te/15738/1.html 

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