Message 06408 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT06408 Message: 1/3 L0 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

[ox] Notizen vom Charta-Workshop



Liebe Listen,

ich möchte euch ein paar, eher persönliche Eindrücke von dem
Charta-Workshop geben, der gestern (Fr) und heute (Sa) statt gefunden
hat. [Die Mail habe ich schon am Samstag geschrieben.] Er war
ausgerichtet worden von der Heinrich-Böll-Stiftung, die diese "Charta
der Bürgerrechte für eine nachhaltige Wissensgesellschaft" als ihren
Beitrag zum WSIS-Gipfelprozess einbringen will - Sektion
Zivilgesellschaft. Der Workshop befand sich nun "Auf dem Weg zu einer
`Charta ...'" - so die Selbstbeschreibung.

Die Veranstaltung war aufgeteilt in sechs Arbeitsgruppen, die sich
jeweils auf 1-3 Paragraphen der insgesamt zehn des Charta-Entwurfs
bezogen. Dazu gab es an jedem Tag jeweils zwei Stunden Impulsreferate
im Plenum, zwei Stunden parallel drei Arbeitsgruppen und nochmal zwei
Stunden wieder im Plenum, wo jeweils eine RapporteurIn aus der
Arbeitsgruppe berichtete.

Ziel des Workshops war es auch, ein Aktionsprogramm zu erstellen. Es
war zwar nicht näher definiert an wen sich ein solches Aktionsprogramm
richtet, aber meine stillschweigende Vermutung, dass es vor allem wenn
nicht ausschließlich an staatliche Akteure gerichtet ist, wurde wohl
von allen ebenso stillschweigend geteilt. Nun, als parteinahe Stiftung
der Grünen war das wohl nicht anders zu erwarten. Das ist deren Feld.

Hier wurde es für mich auch schwierig. Bei dem was ich mir so denke,
kommt der Staat eigentlich vor allem nicht vor - auch nicht als
Adressat von irgendwelchen Forderungen. Klar, kann mensch natürlich
sich dies oder jenes vom Staat wünschen. Aber sollen wir uns wirklich
eine staatliche Förderung Freier Software im Sinne von Bezahlung von
Entwicklung wünschen? Ich finde das problematisch, da hier gleich
wieder Entfremdungsaspekte mit hinein kommen.

Aber ok. Ich wusste ja wohin ich da gegangen war und es war für mich
auf jeden Fall interessant, sich mal mit dieser Sicht der Dinge zu
konfrontieren. Und vielleicht gibt es beim Thema
Informationsgesellschaft in seiner ganzen Breite ja da auch
Sinnvolles in diesem staatsnahen Rahmen.

Mein Beitrag hat Freie Software als für eine Informationsgesellschaft
spannende Keimform vorgestellt und daraus die Hauptforderung "Copyleft
für alle kreativen Leistungen" abgeleitet. Natürlich hatte ich auf das
Problem der dann entfallenden Verknappung und damit der entfallenden
Verwertungsmöglichkeit hingewiesen. Na ja, ein paar
Übergangsforderungen kamen dann auch noch dabei heraus, die vor allem
auf eine Entkopplung von (kreativer) Leistung und Gelderwerb zielten.
Alles nachles- und kommentierbar in dem OT-Projekt.

Der Blick in die Runde während meines Vortrags brachte dann auch ein
sehr gemischtes Ergebnis. Neben einigen sehr zustimmenden Minen habe
ich auch ziemlich deutliches Unverständnis und Ablehnung gelesen. Das
hatte ich so ungefähr erwartet. Hier deutete sich allerdings bereits
eine Spaltungslinie an, die später noch offenbarer werden sollte -
zumindest wie ich es mir in der Rückschau zusammenreime.

Als positiv empfand ich an dem Workshop durchgehend, dass die
Diskussionen oft sehr lebhaft waren. Es wurde deutlich, dass es sehr
viele Themen gibt, die für diesen Themenkomplex wichtig sind. Nun, das
ist auch nicht anders zu erwarten, wenn wir über die größte anstehende
zivilisatorischen Umwälzung denken, den die Menschheit seit
Industrialisierung und Kapitalismus erlebt hat. Auch die anwesenden
Leute waren interessiert und brachten interessante Beiträge ein. Von
dieser Seite her war es m.E. eine rundum gelungene Veranstaltung. Die
Themen waren übrigens so vielfältig, dass ich hier gar nicht erst den
Versuch machen will, etwas zu den Inhalten zu sagen.

Aber natürlich auch mit den Problemen, die eine solche
Veranstaltungsform nun mal mit sich bringt. Zeitnot war eigentlich
immer gegeben und bei der Fülle von Inhalten und Themen wurde das
zumindest für mich zuweilen zu einem Rezeptionsproblem (aka
Abschalten) - auch da, wo ich es nicht wollte :-( . Außerdem ist ein
unhintergehbares Problem einer solchen Veranstaltungsform, dass aus
Termingründen und auch aufgrund des Reiseaufwands nie die Leute am
Tisch sitzen, die da vielleicht gerne sitzen würden. Auch ist es nicht
möglich, sich in verschiedenen Tiefen in einen solchen Prozess
einzulassen. Mensch ist da (d.h. treibt ziemlichen zeitlichen und
finanziellen Aufwand - oder wohnt in Berlin), oder ist es nicht.
Mensch kann aber nicht an einem einzelnen Punkt Stellung beziehen, der
gerade interessiert und sich den Rest schenken.

Von verschiedener Seite - aber auch von mir - wurde daher die
Veranstaltung vor allem als Auftakt für eine zumindest vorwiegende
virtuelle Debatte verstanden - endlich würde ich hinzufügen. Von der
Fülle der Themen und vom Interesse der Anwesenden her wäre das m.E.
auf jeden Fall gegeben gewesen. Mir schien es eigentlich klar, dass
dieser Schritt erfolgen müsste - schließlich gibt es starke Hinweise
darauf, dass ein solcher öffentlicher Prozess zumindest nicht
schlechter funktioniert als ein geschlossener Prozess, der die
Erstellung der Charta bis dahin war. Die Charta wurde nämlich bisher
von 15 Personen verfasst, von denen übrigens ein Drittel mit
ProfessorInnen-Titeln und ein weiteres Fünftel mit einem Dr.
ausgestattet sind.

Nun hatte ich - naiv wie ich wohl bin - gedacht, dass diese
Abgeschlossenheit der Zeitknappheit geschuldet war, die wegen der
Terminlage im WSIS-Rahmen gegeben war. Tatsächlich ist die Charta
zumindest bis zu dem Workshop auch nicht wirklich auffindbar gewesen.
Auch auf der Seite `www.worldsummit2003.de' war die Charta (bisher?)
nicht auffindbar. Schon da schien es, dass die Charta eben nicht
bekannt gemacht werden sollte. Auch wurde die Charta auf der
[Wsis]-Liste nur im äußerst kommentierunfreundlichen Word-Format
verschickt. Ich habe es dann selbst in ASCII gewandelt (wie üblich
ohne jeglichen Bedeutungsverlust...). Einfach alles nur Lapsi oder
sollte da eigentlich doch keiner was diskutieren?

Allerdings hätte ich mir die Mühe sparen können. Meine Kritik an der
Charta selbst, vor allem aber an der Begriffsbildung "nachhaltige
Wissensgesellschaft" - die ich für super-unglücklich halte - hatte ich
an die WSIS-Mailing-Liste geschickt. Darauf gab es nur den Hinweis,
dass ich mir das doch bis zum Workshop aufheben solle. Eingegangen ist
darauf insbesondere keineR von denen, die diese Begriffsbildung
betrieben haben. Getoppt wurde das allerdings noch durch den Workshop
selbst. Hier gab es auch von anderer Seite vor allem eine Kritik an
dem Wort "nachhaltig", das sich auch durch die ganze Charta zieht.
Außer von zwei Leuten der Redaktionsgruppe war für mich nicht
erkennbar, dass "nachhaltig" wirklich irgendwer für eine supergute
Idee halten würde. Hat das zu irgendwas geführt? Wenn's hoch kommt
dazu, dass es zu "nachhaltig und gerecht" ergänzt wird - was es m.E.
auch nicht besser macht. BTW könnte bei dem laxen Umgang mit der
Bedeutung von "nachhaltig" (== gut??) auch noch problemlos "gerecht"
da mit eingefüllt werden.

Auch hier wieder mein Eindruck: Es soll nicht wirklich diskutiert
werden, so dass sich was ändert. Einwände werden zwar als stichhaltig
anerkannt - bleiben aber folgenlos. Das empfinde ich irgendwie als
besondere Verar...ung. Vielleicht auch nur eine Folge davon, dass das
nützliche Motto "Release early, release often" noch nicht bis in die
Redaktionsgruppe vorgedrungen ist...

Der Schock kam dann in der Schlussrunde, in der darüber beraten werden
sollte, wie es denn nun mit dem Charta-Prozess(!) weiter gehen solle.
Hier gab es nach meiner Wahrnehmung sehr heftig zwei Fraktionen.
Einerseits die Fraktion, die ähnlich mir stark dafür plädierte, den
ganzen Prozess stark online weiter zu betreiben. Vorgeschlagene Mittel
waren Mailing-Listen und OpenTheory-Projekte (was übrigens weitgehend
bekannt war :-) ). Gerade für den hier diskutierten Fall, wo ein Text
diskutiert werden soll, eignet sich OpenTheory ja gerade ganz
hervorragend.

Andererseits gab es die Fraktion, die weiter den ganzen Prozess
abgeschottet betreiben wollte und deren größtes Entgegenkommen darin
bestand, dass es mehre, auch leicht neu besetzte Redaktionsgruppen
geben sollte, die sich mit einzelnen Bereichen der Charta befassen
sollten. Zu dieser Fraktion gehörte ein Vertreter der
Heinrich-Böll-Stiftung, der durch extreme Resistenz gegen neue
Erfahrungen auffiel. Anstatt das Thema Informationsgesellschaft ernst
zu nehmen und das Internet zur Organisation eines breiteren
Diskussionsprozesses zu nutzen, sollten lieber weiter einige wenige
Leute durch die Gegend gekarrt werden, damit sie sich hin und wieder
unter Zeitdruck mal ein paar Gedanken machen sollen. Zu schweigen von
den Terminproblemen, die eine Folge der Notwendigkeit gleichzeitiger
physischer Präsenz sind. Zu schweigen davon, dass sich solches Tun
überhaupt nur eine kleine Zahl relativ privilegierter Leute leisten
kann - diejenigen nämlich vor allem, die das als Teil ihres Berufs
machen können.

Dies gipfelte dann in dem Vorgehensvorschlag, die Charta jetzt erstmal
zu Ende zu entwickeln und dann(!!) auf Gruppen der Zivilgesellschaft
zuzugehen und sie zu fragen, ob sie das so unterzeichnen würden. Da
fiel nicht nur mit endgültig die Kinnlade runter...

Ganz ehrlich: War ich bis dahin von dem Workshop insgesamt ganz
angetan - im gegebenen Rahmen halt -, hat mir dieser Schlussakkord die
Sprache verschlagen. Hatte ich bis dahin das Gefühl, dass ich noch ein
paar interessante Impulse hätte geben können, fühlte ich mich
plötzlich nur noch im falschen Film. Da reden einige über die
Informationsgesellschaft - aber leben in der Welt der Eisenbahn. Wozu
gibt es denn das Internet mit Mail und Einrichtungen wie OpenTheory
oder Wikis o.ä.? Damit Leute mit irrem finanziellem und logistischem
Aufwand durch die Republik gekarrt werden? Warum reden wir eigentlich
über Partizipationsmöglichkeiten, die das Internet bietet, wenn hier
Wände hochgezogen werden, die auch ja keiner außerhalb des
handverlesenen Kreises überwinden kann? Wie, so muss ich mich doch
fragen, kann ich eigentlich an irgendwelche AdressatInnen eine
Forderung nach Partizipation richten, wenn diese Forderung im eigenen
Laden nicht selbstverständliche, geschätzte und mit Handlung
unterfütterte Praxis ist? Das ist doch unglaublich!!

Die gutwillige Lesart dieses Vorgangs ist, dass hier einfach noch
nicht angekommen ist, was heute nicht nur möglich, sondern gerade für
die angestrebten Ziele auch sinnvoll, wenn nicht nötig ist. Immerhin
geht es hier um Zivilgesellschaft und eine breite Partizipation finde
ich da total angesagt. Wenn diese Lesart allerdings die Richtige ist,
dann frage ich mich, was Leute mit solchen Berührungsängsten gegenüber
wichtigen Elementen der Informationsgesellschaft überhaupt noch über
eben diese Informationsgesellschaft sagen können. Oder herrscht die
Angst mehr vor der Zivilgesellschaft, die eben nicht nur nach ihrer
Pfeife tanzen könnte?

Die böswillige Lesart ist, dass es der Heinrich-Böll-Stiftung darum
überhaupt nicht geht. Vielmehr geht es ihr darum, irgendwie ein Paper
abzuliefern und damit ihr eigenes Ansehen zu steigern. Und vielleicht
das von deren, die sich was drauf einbilden da drunter zu stehen.
Jedenfalls wurde von einigen aus der Redaktionsgruppe auch ziemlich
gemauert. D.h. die unheilige Koalition von Heinrich-Böll-Stiftung und
der Redaktionsgruppe hat gar kein primäres Interesse an einer
maximalen Qualität einer solchen Charta, sondern möchte sich lediglich
ein bisschen in irgendwelchem Ruhm sonnen. Diese Interpretation liegt
auch deswegen nahe, weil so Ähnliches auch gesagt wurde. Aber dann
sollte doch bitte die Rhetorik von wegen Öffnung des Prozesses,
Zivilgesellschaft etc. gelassen werden. Dann ist es ein Paper der
Heinrich-Böll-Stiftung und fertig, die das dann besser gleich im
kleinen Kreis auskungelt. Ist ja auch ok.

Nun, ich fühle mich hier ausgebeutet. Hier geht es nicht mehr um meine
Interessen und mittlerweile tut es mir Leid, dass ich da nur für die
Fahrt- / Unterkunftskosten hingefahren bin. *Mich* interessiert die
Heinrich-Böll-Stiftung nicht besonders. *Mich* interessiert der
inhaltliche Prozess, den sie - dankenswerterweise - rund um die Charta
in Gang hätte setzen können und der m.E. eine Chance für etwas
Interessantes hätte bieten könnte. Dazu ist es aber unabdingbar sich
auch ganz praktisch dem Gegenstand zu nähern, um den die Charta sich
dreht. Auch und gerade weil es hinreichend Beispiele dafür gibt, dass
das auch für die Inhalte sinnvoll ist. Auch und gerade dann, wenn es
bedeutet, sich den Herausforderungen einer neuen Epoche zu stellen.
Auch und gerade dann, wenn es bedeutet ein paar alte Zöpfe
abzuschneiden.

Ok. Gut. Es gab neben diesem Schock auch die Aussage, dass dies alles
nicht so gemeint wäre und das es ja auch alles ganz anders kommen
würde. Nach diesem Erlebnis kann ich für meinen Teil nur hoffen, dass
das *schleunigst* geschieht. Sonst kann ich die Beschäftigung der
Heinrich-Böll-Stiftung mit der Informationsgesellschaft nur noch als
Lachnummer begreifen.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



[English translation]
Thread: oxdeT06408 Message: 1/3 L0 [In index]
Message 06408 [Homepage] [Navigation]