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[ox] Macht



Hallo!

Folgenden Text fand ich ganz inspirierend im Zusammenhang mit der
Machtdiskussion. Ist von Focault, der im übrigen ziemlich viel über
das Thema nachgedacht hat, wohl ein Leben lang. Es gibt ein RTF und
ein PDF zusammen mit noch einem anderen Text unter www.sofo-ev.org.
Viel Spass.

Grüße, Benni

----------schnipp---------------------------

Wie wird Macht ausgeübt?

Für manche bedeutet die Frage nach dem Wie der Macht, sich auf die
Beschreibung ihrer Wirkungen zu beschränken, ohne diese je mit
Ursachen oder einer Natur in Verbindung zu bringen. Damit macht man
nur aus dieser Macht eine mysteriöse Substanz, die man tunlichst nicht
untersucht, weil man sich besser nicht mit ihr anlegt. In dieser
Maschinerie, der man nicht auf den Grund geht, wähnen sie ein
schicksalhaftes Walten. Aber zeigt nicht schon ihr Mißtrauen, daß sie
selbst unterstellen, daß so etwas wie die MACHT existiert - mit ihrem
Ursprung einerseits, ihrer Natur andererseits und endlich ihren
Äußerungen?

Wenn ich der Frage nach dem Wie einen gewissen vorläufigen Vorzug
zubillige, so nicht, weil ich die Frage nach dem Was und dem Warum
ausschalten will, sondern weil ich sie anders stellen will, oder
besser, weil ich erkennen will, ob es legitim ist, sich eine MACHT
vorzustellen, die ein Was, ein Warum, ein Wie in sich vereinigt.
Schroff gesagt, führt gerade der Beginn der Analyse mit dem Wie zu dem
Verdacht, daß die MACHT nicht existiert; jedenfalls führt es zu der
Frage, welche bestimmbaren Inhalte denn gemeint sein sollen, wenn man
diesen majestätischen, globalen und substantivierenden Begriff
verwendet. Dahinter stehtder Verdacht, daß man ein Ensemble sehr
komplexer Realitäten verpaßt, wenn man ewig um die Doppelfrage: Was
ist die MACHT? Woher kommt die MACHT? herumschleicht. Die kleine,
platte und empirische, gewissermaßen als Spähtrupp vorgeschickte
Frage: Wie spielt sich das ab? hat nicht die Funktion, eine
"Metaphysik" oder eine "Ontologie" der Macht einzuschmuggeln, sondern
dient dazu, eine kritische Untersuchung der Machtthematik anzugehen.

1. " Wie" nicht im Sinne von " Wie manifestiert sie sich?", sondern im
Sinne von "Wie wird sie ausgeübt?", "Was geschieht, wenn Individuen,
wie man sagt, ihre Macht über andere ausüben?".

Von dieser "Macht" gilt es zunächst jene zu unterscheiden, die man
über die Dinge ausübt und die einen instand setzt, zu verändern, zu
gebrauchen, sie zu konsumieren oder zu zerstören - eine Macht, die auf
Fertigkeiten beruht, die direkt körperlich oder über Instrumente
vermittelt sind. Bezeichnen wir das als "Fähigkeit". Die "Macht"
hingegen, die es hier zu analysieren gilt, ist dadurch gekennzeichnet,
daß sie Verhältnisse zwischen Individuen oder Gruppen ins Spiel
bringt. Denn man darf sich nicht täuschen: wenn man von der Macht der
Gesetze, der Institutionen oder der Ideologien spricht, wenn man von
Machtstrukturen oder -mechanismen spricht, dann nur soweit man
unterstellt, daß "einige" Macht über andere ausüben. Der Begriff Macht
bezeichnet Verhältnisse zwischen "Partnern" (und dabei denke ich nicht
an ein Spielsystem, sondern einfach - um es /251/zunächst ganz
allgemein zu sagen - an ein Ensemble von Handlungen, die sich
gegenseitig hervorrufen und beantworten). Sodann gilt es zu
unterscheiden zwischen Machtverhältnissen und
Kommunikationsbeziehungen, die eine Information durch eine Sprache,
ein Zeichensystem oder jedes andere symbolische Medium übermitteln.
Gewiß bedeutet Kommunizieren immer, in einer bestimmten Weise auf den
anderen oder die anderen einzuwirken. Obwohl das Herstellen und
In-Umlauf-Bringen signifikanter Elemente sehr wohl Machtwirkungen zum
Ziel oder zur Konsequenz haben kann, sind diese nicht einfach ein
Aspekt jener. Ob sie nun durch die Kommunikationssysteme gehen oder
nicht - die Machtverhältnisse haben ihre Eigenart.

Machtverhältnisse, Kommunikationsbeziehungen und sachliche Fähigkeiten
dürfen nicht miteinander verwechselt werden. Was nicht heißt, daß es
sich um drei getrennte Bereiche handelt und daß es einerseits den
Bereich der Dinge, der zielgerichteten Technik, der Arbeit und der
Transformation des Realen gäbe, andererseits den der Zeichen, der
Kommunikation, der Reziprozität und der Fabrikation des Sinns, und
schließlich den der Herrschaft, der Zwangsmittel, der Ungleichheit und
des Einwirkens von Menschen auf Menschen. Es geht um drei Typen von
Verhältnissen, die allerdings immer ineinander verschachtelt sind,
sich gegenseitig stützen und als Werkzeug benutzen. Der Einsatz von
sachlichen Fähigkeiten, und sei es in den elementarsten Formen,
impliziert Kommunikationsbeziehungen (ob es um die nötige Information
oder um Arbeitsteilung geht); auch ist er an Machtverhältnisse
gebunden (ob es sich um Pflichtarbeiten, um Gesten, die von der
Tradition oder der Lehre vorgeschrieben sind, oder um mehr oder
weniger obligatorische Zuweisungen oder Aufteilungen der Arbeit
handelt). Die Kommunikationsbeziehungen implizieren zielgerichtetes
Handeln (und wäre es nur der "korrekte" Einsatz signifikanter
Elemente), und durch die Tatsache allein, daß sie das Informationsfeld
der Partner verändern, lösen sie Machtwirkungen aus. Die
Machtverhältnisse selbst werden in sehr bedeutendem Umfang durch die
Produktion und den Austausch von Zeichen ausgeübt; sie sind auch kaum
vom zielgerichteten Handeln zu trennen, seien es nun Handlungen, die
die Ausübung dieser Macht befördern (wie die Dressurtechniken, die
Herrschaftsverfahren, die Weisen, Gehorsam zu erwirken) oder solche,
die, um zum Zuge zu kommen, auf Machtverhältnisse angewiesen sind (wie
in der Arbeitsteilung und in der Hierarchie der Aufgaben).

Gewiß ist die Koordination zwischen diesen drei Arten von
Verhältnissen weder einheitlich noch konstant. In einer bestimmten
Gesellschaft gibt es nicht einen allgemeinen Typ von Gleichgewicht
zwischen zielgerichtetem gibt es verschiedene Formen, verschiedene
Orte, verschiedene Umstände oder Gelegenheiten, wo diese
Interrelationen auf einem spezifischen Modell basieren. Es gibt aber
auch "Blöcke", in denen die Anpassung der Fähigkeiten /253/ ebenso
unterscheiden wie von den Kommunikationsbeziehungen; Machtverhältnisse
schließlich, die man in der Verschiedenheit ihrer Verknüpfung mit
diesen Fähigkeiten und Beziehungen erfassen kann.

2. Worin besteht die Eigenart der Machtverhältnisse

Machtausübung bezeichnet nicht einfach ein Verhältnis zwischen
individuellen oder kollektiven Partnern, sondern die Wirkungsweise
gewisser Handlungen, die andere verändern. Es gibt also nicht etwas
wie die Macht oder einen Stoff der Macht, der in globaler, massiver
oder diffuser, konzentrierter oder verteilter Form existierte; es gibt
Macht nur als von den "einen" auf die "anderen" ausgeübte. Macht
existiert nur in actu, auch wenn sie sich, um sich in ein zerstreutes
Möglichkeitsfeld einzuschreiben, auf permanente Strukturen stützt. Das
heißt auch, daß Macht nicht der Ordnung der Übereinkunft angehört; sie
steht nicht für den Verzicht auf eine Freiheit, eine Rechtsübertragung
oder die Delegation der Macht aller an Einzelne (obgleich die
Zustimmung eine Bedingung für die Existenz und das Fortbestehen des
Machtverhältnisses sein kann). Wohl kann das Machtverhältnis auf einer
vorangehenden oder permanenten Zustimmung beruhen; seiner eigentlichen
Natur nach aber ist es nicht Ausdruck eines Konsenses.

Soll das heißen, man müsse den eigentlichen Charakter der
Machtverhältnisse seitens der Gewalt suchen, die deren primitive Form,
deren bleibendes Geheimnis und deren letzte Zuflucht wäre, das also,
was letztenendes als ihre Wahrheit erscheint, wenn sie
gezwungenermaßen die Maske fallen läßt und ihr wahres Gesicht zeigt?
Tatsächlich ist das, was ein mittelbar auf die anderen einwirkt,
sondern eben auf deren Handeln. Handeln auf ein Handeln, auf mögliche
oder wirkliche, künftige oder gegenwärtige Handlungen. Ein
Gewaltverhältnis wirkt auf einen Körper, wirkt auf Dinge ein: es
zwingt, beugt, bricht, es zerstört: es schließt alle Möglichkeiten
aus; es bleibt ihm kein anderer Gegenpol als der der Passivität. Und
wenn es auf einen Widerstand stößt, hat es keine andere Wahl als
diesen niederzuzwingen. Ein Machtverhältnis hingegen errichtet sich
auf zwei Elementen, ohne die kein Machtverhältnis zustandekommt: so
daß der "andere" (auf den es einwirkt) a]s Subjekt des Handelns bis
zuletzt anerkannt und erhalten bleibt und sich vor dem Machtverhältnis
ein ganzes Feld von möglichen Antworten, Reaktionen, Wirkungen,
Erfindungen eröffnet.

Freilich schließt die Einrichtung von Machtverhältnissen genausowenig
den Gebrauch der Gewalt wie das Vorhandensein einer Übereinkunft aus;
keine Machtausübung kann auf das eine oder das andere, oft auch auf
beides nicht verzichten. Aber wenn sie auch deren Instrumente oder
Wirkungen sind, stellen sie nicht deren Grundlage oder Natur dar. Die
Machtausübung kann wohl soviel Akzeptanz hervorrufen wie sie will; sie
kann Leichen anhäufen und sich hinter allen erdenklichen Drohungen
verschanzen. /254/ Sie ist von sich aus weder eine Gewalt, die sich
bisweilen zu verstecken weiß, noch ein Konsens, der sich aus sich
selbst erneuert. Sie ist ein Ensemble von Handlungen in Hinsicht auf
mögliche Handlungen; sie operiert auf dem Möglichkeitsfeld, in das
sich das Verhalten der handelnden Subjekte eingeschrieben hat: sie
stachelt an, gibt ein, lenkt ab, erleichtert oder erschwert, erweitert
oder begrenzt, macht mehr oder weniger wahrscheinlich; im Grenzfall
nötigt oder verhindert sie vollständig; aber stets handelt es sich um
eine Weise des Einwirkens auf einoder mehrere handelnde Subjekte, und
dies, sofern sie handeln oder zum Handeln fähig sind. Ein Handeln auf
Handlungen.

Vielleicht eignet sich ein Begriff wie Führung gerade kraft seines
Doppelsinns gut dazu, das Spezifische an den Machtverhältnissen zu
erfassen. "Führung" ist zugleich die Tätigkeit des "Anführens" anderer
(vermöge mehr oder weniger strikter Zwangsmechanismen) und die Weise
des Sich-Verhaltens in einem mehr oder weniger offenen Feld von
Möglichkeiten. Machtausübung besteht im "Führen der Führungen" und in
der Schaffung der Wahrscheinlichkeit. Im Grunde ist Macht weniger von
der Art der Konfrontation zweier Gegner oder der Verpflichtung des
einen gegenüber dem anderen, als von der des "Gouvernement". Man muß
diesem Wort die sehr weite Bedeutung lassen, die es im 16. Jahrhundert
hatte. Es bezog sich nicht nur auf politische Strukturen und auf die
Verwaltung der Staaten, sondern bezeichnete die Weise, in der die
Führung von Individuen oder Gruppen gelenkt wurde: Regiment der
Kinder, der Seelen, der Gemeinden, der Familien, der Kranken. Es
deckte nicht bloß eingesetzte und legitime Formen der politischen oder
wirtschaftlichen Unterwerfung ab, sondern auch mehr oder weniger
bedachte und berechnete Handlungsweisen, die dazu bestimmt waren, auf
die Handlungsmöglichkeiten anderer Individuen einzuwirken. Regieren
heißt in diesem Sinne, das Feld eventuellen Handelns der anderen zu
strukturieren. Die der Macht eigene Verhältnisweise wäre somit weder
auf Seiten der Gewalt und des Kampfes, noch auf Seiten des Vertrags
und der Willensbande (die allenfalls ihre Instrumente sein können) zu
suchen, vielmehr auf Seiten dieser einzigartigen, weder kriegerischen
noch juridischen Weise des Handelns: des Gouvernement.

Wenn man Machtausübung als eine Weise der Einwirkung auf die
Handlungen anderer definiert, wenn man sie durch das "Regiment" - im
weitesten Sinn dieses Wortes - der Menschen untereinander
kennzeichnet, nimmt man ein wichtiges Element mit hinein: das der
Freiheit. Macht wird nur auf "freie Subjekte" ausgeübt und nur sofern
diese "frei" sind. Hierunter wollen wir individuelle oder kollektive
Subjekte verstehen, vor denen ein Feld von Möglichkeiten liegt, in dem
mehrere "Führungen", mehrere Reaktionen und verschiedene
Verhaltensweisen statthaben können. Dort wo die Determinierungen
gesättigt sind, existiert kein Machtverhältnis; die Sklaverei ist kein
Machtverhältnis, wenn der Mensch in Eisen gekettet ist (da handelt es
sich um ein physisches Zwangsverhältnis), sondern nur /255/ dann, wenn
er sich bewegen und im Grenzfall entweichen kann. Macht und Freiheit
stehen sich also nicht in einem Ausschließungsverhältnis gegenüber (wo
immer Macht ausgeübt wird, verschwindet die Freiheit), sondern
innerhalb eines sehr viel komplexeren Spiels: in diesem Spiel
erscheint die Freiheit sehr wohl als die Existenzbedingung von Macht
(sowohl als ihre Voraussetzung, da es der Freiheit bedarf, damit Macht
ausgeübt werden kann, wie auch als ihr ständiger Träger, denn wenn sie
sich völlig der Macht, die auf sie ausgeübt wird, entzöge, würde auch
diese verschwinden und dem schlichten und einfachen Zwang der Gewalt
weichen); aber sie erscheint auch als das, was sich nur einer Ausübung
von Macht entgegenstellen kann, die letztendlich darauf ausgeht, sie
vollkommen zu bestimmen.

Das Machtverhältnis und das Aufbegehren der Freiheit sind also nicht
zu trennen. Das zentrale Problem der Macht ist nicht das der
"freiwilligen Knechtschaft" (wie können wir wünschen, Sklaven zu
sein?); im Zentrum der Machtbeziehung stecken die Widerspenstigkeit
des Wollens und die Intransitivität der Freiheit, die diese
Machtbeziehung ständig "provozieren". Statt von einem wesentlichen
"Antagonismus" sollte man besser von einem "Agonismus" sprechen, von
einem Verhältnis, das zugleich gegenseitige Anstachelung und Kampf
ist, weniger von einer Opposition Kopf an Kopf, die sie einander
gegenüber blockiert, als von einer fortwährenden Provokation.

3. Wie ist das Machtverhältnis zu analysieren?

Man kann es - damit meine ich: es ist völlig legitim - in bestimmten
Institutionen analysieren; diese geben eine vorzügliche
Beobachtungsstätte ab, um es diversifiziert, konzentriert, geordnet
und zu höchster Wirksamkeit gesteigert zu erfassen; hier kann man --
in erster Annäherung - Form und Logik ihrer elementaren Mechanismen
hervortreten sehen. Doch die Analyse der Machtverhältnisse in
geschlossenen institutionellen Räumen wirft gewisse Probleme auf. Die
Tatsache, daß ein wichtiger Teil der Mechanismen, die von einer
Institution in Gang gesetzt werden, dazu bestimmt sind, ihre
Selbsterhaltung zu sichern, bringt das Risiko mit sich, vor allem bei
den "intrainstitutitionellen" Machtverhältnissen, hauptsächlich
reproduktive Funktionen aufzuspüren. Zweitens bringt man sich, wenn
man Machtverhältnisse von Institutionen ausgehend untersucht, in die
Gefahr, in diesen die Erklärung und den Ursprung jener suchen zu
wollen, was schließlich hieße, Macht durch Macht zu erklären. Und in
dem Maße endlich, in dem die Institutionen wesentlich durch den
Einsatz zweier Elemente agieren: durch (explizite oder
stillschweigende) Regeln und durch einen Apparat, unterläuft es einem,
einem von beiden eine übertriebene Vorrangstellung innerhalb des
Machtverhältnisses zu geben und in ihnen bloße Modulationen von Gesetz
und Zwang zu erblicken. /256/ Ich will nicht die Bedeutung von
Institutionen bei der Einrichtung von Machtverhältnissen verneinen,
wohl aber empfehlen, eher die Institutionen von den Machtverhältnissen
her zu analysieren und nicht umgekehrt; selbst wenn sie in einer
Institution Gestalt annehmen und sich herauskristallisieren, haben sie
doch ihren Haltepunkt außerhalb dieser.

Kommen wir noch einmal auf die Definition zurück, wonach Machtausübung
für die einen eine Weise ist, das Feld möglichen Handelns der anderen
zu strukturieren. Charakteristisch für ein Machtverhältnis ist
demnach, daß es eine Weise des Einwirkens auf Handlungen ist. Das
heißt, daß die Machtverhältnisse tief im gesellschaftlichen Nexus
wurzeln, und nicht über der "Gesellschaft" eine zusätzliche Struktur
bilden, von deren radikaler Austilgung man träumen könnte. In
Gesellschaft leben heißt jedenfalls so leben, daß man gegenseitig auf
sein Handeln einwirken kann. Eine Gesellschaft "ohne
Machtverhältnisse" kann nur eine Abstraktion sein. Dies macht,
nebenbei gesagt, die Analyse dessen, was sie innerhalb einer gegebenen
Gesellschaft sind, wie sie sich historisch herausgebildet haben,
dessen, was sie haltbar oder zerbrechlich macht, der Bedingungen, die
nötig sind, um die einen zu verwandeln und die andern zu beseitigen,
politisch nur um so notwendiger. Denn die Aussage, es könne
Gesellschaft nicht ohne Machtverhältnisse geben, heißt weder, daß die
jeweils gegebenen auch notwendig sind, noch daß auf alle Fälle die
MACHT im Herzen der Gesellschaft ein unvermeidliches Geschick
darstellt, sondern daß die Analyse, die Herausarbeitung, die
Infragestellung der Machtverhältnisse und des "Agonismus" zwischen
Machtverhältnissen und der Intransitivität der Freiheit eine
beständige politische Aufgabe ist, und daß gerade dies die politische
Aufgabe ist, die jeglicher gesellschaftlichen Existenz innewohnt.
Konkret erfordert die Analyse von Machtverhältnissen die Feststellung
einer Reihe von Punkten:

1. Das System der Differenzierungen, die dem Einwirken auf das Handeln
anderer zugrunde liegt: juridische oder traditionelle Unterschiede des
Status und der Vorrechte, ökonomische Unterschiede in der Aneignung
der Reichtümer und der Güter, Unterschiede in der Stellung innerhalb
des Produktionsprozesses, sprachliche oder kulturelle Unterschiede,
Unterschiede im Können und in den Kompetenzen, usw. Jegliches
Machtverhältnis bringt Differenzierungen mit sich, die zugleich seine
Bedingungen und seine Wirkungen sind.

2. Die Typen von Zielen, die von jenen verfolgt werden, die auf das
Handeln anderer einwirken: Aufrechterhaltung von Vorrechten,
Akkumulation von Profiten, Einrichtung einer statusbedingten
Autorität, Ausübung einer Funktion oder eines Fachs.

3. Die instrumentellen Modalitäten: je nachdem, ob Macht durch Drohung
mit Waffen, durch die Wirkung des Wortes, vermittels ökonomischer
Ungleichheiten, durch mehr oder minder komplexe Kontrollmechanismen,
durch Überwachungssysteme, mit oder ohne Archive, nach ausgesprochenen
/258/ oder unausgesprochenen, feststehenden oder veränderlichen
Regeln, mit oder ohne materielle Einrichtungen usw. ausgeübt wird.

4. Die Formen der Institutionalisierung: diese können traditionelle
Vorkehrungen, juridische Strukturen, Gewohnheits- oder
Modeerscheinungen mischen (wie man es an den Machtverhältnissen sieht,
die die Institution Familie durchziehen); sie können auch die Gestalt
eines in sich selbst geschlossenen Dispositivs mit seinen spezifischen
Orten, eigenen Regelungen, sorgfältig ausgebildeten hierarchischen
Strukturen, und einer relativen funktionalen Autonomie annehmen (wie
in den schulischen oder militärischen Institutionen); sie können auch
sehr komplexe, mit vielfältigen Apparaten ausgestattete Systeme
bilden, wie im Falle des Staates, dessen Funktion es ist, die
allgemeine Hülle, die Instanz umfassender Kontrolle, das Regulierungs-
und in gewissem Maß auch Verteilungsprinzip gibt, dessen Herrschaft
bis ins winzigste Element der Gesellschaft Verhältnisse in einem
gegebenen gesellschaftlichen Gebilde darzustellen.

5. Die Grade der Rationalisierung: denn der Einsatz von
Machtverhältnissen als Einwirkung auf ein Möglichkeitsfeld kann je
nach der Wirksamkeit der Instrumente und der Gewißheit der Ergebnisse
(mehr oder weniger große technologische Verfeinerungen in der
Machtausübung) oder den eventuellen Kosten (seien es ökonomische
"Kosten" der angewandten Mittel oder "Reaktionskosten", die sich aus
den auftretenden Widerständen ergeben), mehr oder weniger ausgefeilt
sein.

Machtausübung ist keine rohe Tatsache, keine institutionelle
Gegebenheit, auch nicht eine Struktur, die besteht oder zerbricht: sie
schreibt sich fort, verwandelt sich, organisiert sich, stattet sich
mit mehr oder weniger abgestimmten Prozeduren aus.

Man sieht nun, weshalb sich die Analyse von Machtverhältnissen in
einer Gesellschaft nicht auf die Untersuchung einer Reihe von
Institutionen beschränken kann, auch nicht auf die Untersuchung all
derer, die als "politische" gelten können.

Machtverhältnisse wurzeln in der Gesamtheit des gesellschaftlichen
Netzes. Das heißt jedoch nicht, daß es ein erstes und grundlegendes
MACHT-prinzip gibt, dessen Herrschaft bis ins winzigste Element der
Gesellschaft reicht, sondern daß ausgehend von dieser Möglichkeit der
Einwirkung auf das Handeln anderer, die mit jeglichem
gesellschaftliches Verhältnis einhergeht, vielfältige Formen
individueller Ungleichheit, von Zielen, gegebenen Instrumentierungen
uns und anderen gegenüber mehr oder weniger sektorieller oder
umfassender lnstitutionalisierung, mehr oder weniger durchdachter
Organisation, verschiedene Formen von Macht definieren. Die Formen und
Orte des "Gouvernement" der Menschen untereinander in einer
Gesellschaft sind vielfältig, sie überlagern sich, kreuzen sich,
beschränken und annullieren sich bisweilen, verstärken sich in anderen
Fällen. Es steht fest, daß der Staat in den gegenwärtigen
Gesellschaften nicht bloß eine der Formen und einer der Orte ist,
sondern daß in gewisser Weise alle anderen Typen von
Machtverhältnissen sich auf ihn beziehen. Aber dies rührt nicht /258/
daher, daß alles von ihm abstammt, sondern eher daher, daß sich eine
stetige Etatisierung von Machtverhältnissen ergeben hat (auch wenn sie
in den Bereichen der Pädagogik, der Justiz, der Ökonomie, der Familie
nicht dieselbe Form angenommen hat). Wenn man sich diesmal an den
engeren Sinn des Wortes "Gouvernement" hält, kann man sagen, daß die
Machtverhältnisse fortschreitend "gouvernementalisiert", das heißt in
der Form oder unter dem Schirm staatlicher Institutionen
ausgearbeitet, rationalisiert und zentralisiert worden sind.

4. Machtverhältnisse und strategische Verhältnisse.

Das Wort Strategie hat drei geläufige Bedeutungen. Zunächst wird damit
die Wahl der Mittel zur Erreichung eines Zwecks bezeichnet; es handelt
sich um die aufgewandte Rationalität zur Erreichung eines Ziels Um die
Weise zu bezeichnen, in der in einem gegebenen Spiel ein Partner
handelt, je nachdem wie er denkt, daß die anderen handeln werden und
wie er vermutet, daß die anderen denken, wie er handeln werde; also
die Weise, in der man versucht, die anderen in den Griff zu bekommen.
Schließlich um die Gesamtheit der Verfahren zu bezeichnen, die in
einer Auseinandersetzung verwandt werden, um dem Gegner seine
Kampfmittel zu entziehen und ihn zum Verzicht auf den Kampf zu
nötigen; hier handelt es sich um Mittel zur Erringung des Siegs. Diese
drei Bedeutungen verbinden sich in Situationen der Gegnerschaft -
Krieg oder Spiel -, in denen es der Zweck ist, auf einen Gegner
dergestalt einzuwirken, daß der Kampf für ihn unmöglich wird. Die
Strategie definiert sich dann durch die Wahl der "siegreichen"
Lösungen. Aber man muß berücksichtigen, daß es sich hier um eine ganz
besondere Art von Situation handelt, und daß es andere gibt, bei denen
man die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Bedeutungen des
Wortes Strategie aufrechterhalten muß.

Bezieht man sich auf die zuerst angegebene Bedeutung, kann man
"Machtstrategie" die Gesamtheit der Mittel nennen, die aufgeboten
werden, um ein Machtdispositiv funktionieren zu lassen oder
aufrechtzuerhalten. Man kann auch in dem Maße von den
Machtverhältnissen eigenen Strategien sprechen, in dem sie Weisen der
Einwirkung auf ein mögliches, eventuelles, unterstelltes Handeln
anderer darstellen. Man kann also in Begriffen der "Strategien" die
Mechanismen entschlüsseln, die in Machtverhältnissen zum Zuge kommen.
Aber der wichtigste Punkt ist selbstverständlich die Beziehung
zwischen Machtverhältnissen und Strategien der Auseinandersetzung.
Denn wenn es stimmt, daß es im Kern der Machtverhältnisse und als
deren ständige Existenzbedingung das Aufbegehren und die
widerspenstigen Freiheiten gibt, dann gibt es kein Machtverhältnis
ohne Widerstand, ohne Ausweg oder Flucht, ohne eventuelle Umkehrung.
Jegliche Machtbeziehung impliziert deshalb - zumindest virtuell - eine
Kampfstrategie, ohne daß sich deswegen beide überlagern, ihre
Spezifizität /259/ verlieren und sich letztlich verwischen. Sie bilden
füreinander eine Art ständiger Grenze, einen möglichen Umkehrpunkt.
Eine Beziehung der Gegnerschaft erreicht ihr Ende, ihren Schlußmoment
(und den Sieg eines der beiden Widersacher), wenn anstelle des Spiels
antagonistischer Reaktionen stabile Mechanismen treten, vermittels
derer der eine in ziemlich konstanter Weise und mit ausreichender
Gewißheit die Führung der anderen anführen kann; für eine Beziehung
der Gegnerschaft, sofern sie nicht Kampf bis auf den Tod ist, stellt
die Fixierung eines Machtverhältnisses einen Zielpunkt, seine
Vollendung und Aufhebung zugleich, dar. Umgekehrt stellt für ein
Machtverhältnis die Kampfstrategie auch eine Grenze dar: jene, an der
die geplante Verhaltenslenkung bei den anderen nicht mehr über die
Replik auf deren eigenes Handeln hinauszugehen vermag. Da es keine
Machtverhältnisse ohne Punkte des Aufbegehrens, die ihr per Definition
entwischen, geben kann, können jede zwecks ihrer Unterwerfung
vorgenommene Intensivierung, jede Ausweitung der Machtverhältnisse nur
an die Grenzen der Machtausübung führen; diese findet also ihr
Widerlager entweder in einem Typ von Handlung, der den andern zur
völligen Ohnmacht bringt (ein "Sieg" über den Gegner tritt anstelle
der Machtausübung), oder in einerAuflehnung der Regierten und ihrer
Verwandlung in Gegner. Letztlich träumt jede Strategie der
Auseinandersetzung davon, Machtverhältnis zu werden; und jedes
Machtverhältnis neigt dazu, sowohl wenn es seiner eigenen
Entwicklungslinie folgt, als auch wenn es auf frontale Widerstände
stößt, siegreiche Strategie zu werden.

In der Tat gibt es zwischen Machtverhältnis und Kampfstrategie eine
reziproke Verlockung, unbegrenzte Verkettung und fortwährende
Umkehrung. Jeden Augenblick kann das Machtverhältnis eine
Auseinandersetzung zwischen Widersachern werden, und an einigen
Punkten wird es das auch. Jeden Augenblick auch schaffen
Gegnerschaftsverhältnisse in einer Gesellschaft die Möglichkeit für
das Zustandekommen von Machtmechanismen. Diese Instabilität bewirkt,
daß dieselben Ereignisse und dieselben Verwandlungen sich sowohl
innerhalb einer Geschichte der Kämpfe als auch in derjenigen der
Machtverhältnisse und -dispositive entschlüsseln lassen. Daraus werden
sich weder dieselben signifikanten Elemente noch dieselben
Verknüpfungen ergeben, noch werden dieselben Typen von
Intelligibilität erscheinen, selbst wenn sie sich auf dasselbe
geschichtliche Gewebe beziehen und jede der beiden Analysen auf die
andere verweisen muß. Aber gerade die Interferenz der beiden Lesarten
wird jene grundlegenden Phänomene der "Beherrschung" hervortreten
lassen, welche die Geschichte eines großen Teils der menschlichen
Gesellschaften aufweist. Die Beherrschung ist eine umfassende
Machtstruktur, deren Verzweigungen und Konsequenzen bis in das feinste
Gestränge der Gesellschaft reichen können, aber zugleich ist sie eine
strategische Situation, die in einer historisch langewährenden
Auseinandersetzung zustandegekommen und auf Dauer gestellt worden ist.
Ein Tatbestand der Beherrschung kann sehr wohl nur die Umschrift eines
/260/ der Machtmechanismen einer Gegnerschaftsbeziehung und seiner
Konsequenzen sein (eine politische Struktur, die von einer Invasion
herrührt); ein Kampfverhältnis zwischen zwei Gegnern kann auch auf der
Entwicklung der Machtverhältnisse mit den dazugehörigen Konflikten und
Spaltungen beruhen. Was aber die Beherrschung einer Gruppe, einer
Kaste oder einer Klasse und die Widerstände oder Revolten, auf die sie
stoßt, zu einem zentralen Phänomen in der Geschichte der
Gesellschaften macht, ist, daß sie - umfassend, massiv und in
gesamtgesellschaftlichem Maßstab - das Einhaken von Machtverhältnissen
in die strategischen Beziehungen und ihren wechselseitigen Antrieb
manifestieren. (übersetzt nach dem französischen Original) /261/


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Organisation: projekt oekonux.de



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